In Niedersachsen leben ungefähr 100.000 Flüchtlinge.
Geflohen vor Gewalt und Verfolgung, treffen sie hier auf eine Politik, die Flüchtlinge nicht willkommen heißt: Sie dürfen sich ihren Wohnsitz nicht aussuchen, leben oft in Lagern und unterliegen
einem weitgehenden Arbeitsverbot. Den Landkreis dürfen sie nicht ohne Genehmigung verlassen. Trotz schwerwiegender Fluchtgründe wird ihnen der Flüchtlingsstatus oftmals verweigert. Ein
erwachsener Flüchtling erhält im Monat 354 Euro. Fast überall in Niedersachsen bekommt er diese Summe in bar ausgezahlt – nur in den Landkreisen Celle, Vechta und Harburg wird nach Angaben des
Niedersächsischen Flüchtlingsrates an der Politik des ehemaligen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) festgehalten. Die sieht vor, dass die Kommunen Leistungen für Asylbewerber
überwiegend in Wertgutscheinen erbringen. Gegen diese Ausgrenzungspolitik stellt sich der Flüchtlingsrat Niedersachsen, der Mitglied von PRO ASYL ist und eng mit Flüchtlingsräten aus anderen
Bundesländern zusammen arbeitet.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen wurde 1984 gegründet und ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Er koordiniert ein unabhängiges Netzwerk von rund 500 Flüchtlingsinitiativen, Kirchengemeinden,
Gewerkschaften und Einzelpersonen, die sich für die Interessen von Flüchtlingen in Niedersachsen einsetzen, gewährleistet eine Beratung für Flüchtlinge sowie für andere Migrant_innen in
Notsituationen und organisiert über die Geschäftsstelle eine Reihe von Projekten, bietet u.a. eine fachliche Beratung, Rechtshilfe in Einzelfällen, führt flüchtlingspolitische Fachtagungen durch
und publiziert die Zeitschrift „Flüchtlingsrat“.
Wir unterhielten uns mit Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrates Niedersachsen.
Im Januar stellten 771 Menschen in Niedersachsen einen Erstantrag auf Asyl. Damit habe sich die Zahl im Vergleich zum Dezember mit 333 mehr als verdoppelt. Im Januar 2012 hatten 404
Menschen einen Antrag gestellt. Können Flüchtlinge und Asylsuchende in dieser Größenordnung vom Flüchtlingsrat ausreichend betreut werden?
Kai Weber: Wir bemühen uns, gemeinsam mit den Beratungsstellen der Verbände, freien Vereinen und Flüchtlingsinitiativen alle in Niedersachsen Schutz suchende Flüchtlinge mit
Grundinformationen zu versorgen. Das betrifft natürlich das Asylverfahren selbst, aber auch die Lebensbedingungen und Rechtsansprüche für Flüchtlinge während und nach Abschluss ihres
Asylverfahrens.
Wie sieht der klassische Gang der Dinge für einen Flüchtling in Niedersachsen aus?
Kai Weber: Zunächst muss ein Flüchtling eine sog. „Erstaufnahmeeinrichtung“ aufsuchen, um dort persönlich den Asylantrag zu stellen. Es gibt zwanzig solcher Lager im Bundesgebiet. Im
Rahmen eines computergestützten Verteilungssystems („Easy“) wird zunächst einmal festgestellt, welches der Aufnahmeeinrichtungen für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. Es kann also
passieren, dass ein Flüchtling in Braunschweig einen Asylantrag stellt und dann nach Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen geschickt wird. Ist die Zuständigkeit geregelt, erfolgt in der
Erstaufnahme eine gesundheitliche Untersuchung, darüber hinaus werden die persönlichen Daten aufgenommen und in einem zentralen Computer gespeichert. Außerdem müssen alle Asylsuchenden die älter
als 14 Jahre sind, ihre Fingerabdrücke abgeben und werden fotografiert (ED-Behandlung). Über den Fingerabdruckvergleich finden die Behörden heraus, ob jemand bereits zu einem früheren Zeitpunkt
einen Asylantrag in Deutschland oder einem anderen EU-Staat gestellt oder sich in einem anderen europäischen Land aufgehalten hat. Schließlich erfolgt beim sog. „Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF)“ die Anhörung zum Reiseweg sowie die eigentliche Anhörung zu den Asylgründen.
Nach spätestens drei Monaten ist gesetzlich eine sogenannte Verteilung der Flüchtlinge auf Wohnunterkünfte in den Kommunen vorgesehen. Auch jetzt dürfen sich Flüchtlinge ihren Wohnort also nicht
frei wählen, er wird ihnen zugewiesen. Das Asylverfahrensgesetz sieht vor, dass die Unterbringung in sogenannte Gemeinschaftsunterkünften erfolgen soll. In der Praxis ist die Form der
Anschlussunterbringung sehr unterschiedlich: in Berlin werden Flüchtlinge regelmäßig in Wohnungen untergebracht, in Bayern in Lagern.
Den Bescheid des Bundesamts auf ihren Asylantrag erhalten die Flüchtlinge in der Regel erst, wenn sie auf die Kommunen verteilt wurden. Bis zu einem Drittel aller Flüchtlinge erhält den Bescheid,
dass in Deutschland gar kein Asylverfahren durchgeführt wird, weil ein anderes europäisches Land gemäß der sog. „Dublin II – Verordnung“(1)für die Prüfung zuständig sein soll.
Diese Flüchtlinge sind dann akut von einer Abschiebung in das für die Asylprüfung zuständige Land bedroht. Rund 20-25 % werden als Flüchtlinge anerkannt, etwa 5 % erhalten keinen
Flüchtlingsstatus, aber sogenannten „subsidiären Schutz“(2), weil ihnen im Herkunftsland eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Rund 50 % aller Asylanträge werden
abgelehnt, weil angeblich keine hinreichenden Schutzgründe bestehen. Dagegen können die Betroffenen klagen, und das tun sie in der Regel auch.
Sind die Unterbringungskapazitäten ausgeschöpft? Welche Schwierigkeiten gibt es in der Unterbringung und sind die Städte und Kommunen auf die steigenden
Unterbringungsbeschaffungen vorbereitet?
Kai Weber: Es gibt in Deutschland kein Unterbringungsproblem. Die Zahl der Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland fliehen, ist klein im Vergleich zu der Zahl der sonstigen
Migrant_innen, aber auch gemessen an den Flüchtlingszahlen vergangener Jahre. Flüchtlinge machen nicht einmal 10 % aller Zuwander_innen in Deutschland aus. Es ist der bürokratische Prozess der
Aufnahmeprozedur, der in den Erstaufnahmeeinrichtungen zeitweise Engpässe entstehen lässt. Ließe man Flüchtlinge dort wohnen, wo sie Freunde oder Verwandte in Deutschland haben, würde sich die
Unterbringungsfrage in einer Vielzahl von Fällen gar nicht stellen. Ohne die Konzentration von Flüchtlingen in Sammellagern würde man die Aufnahme von Flüchtlingen im öffentlichen Drama
vermutlich gar nicht zur Kenntnis nehmen.
„Kriege und Bürgerkriege sind in der REGEL kein Grund, um Asyl oder einen anderen Flüchtlingsschutz in Deutschland zu erhalten.“
Nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel(3)hat Niedersachsen bei den Erst-Antragsteller_innen eine Aufnahmeverpflichtung von rund 9,3 Prozent. Wieviel Prozent von den
Antragsteller_innen scheitern bereits mit ihrem Erstantrag und welche Gründe sind das?
Kai Weber: Rund 50 % aller Flüchtlinge, deren Asylantrag überhaupt inhaltlich geprüft und nicht unter Hinweis auf die Zuständigkeit eines anderen europäischen Staates für
unzulässig erklärt wird, wird in der ersten Instanz abgelehnt. In der Praxis wird vielen Flüchtlingen, die sich persönlich verfolgt fühlen und schweren Bedrohungen und Gewalterfahrungen
ausgesetzt waren, eine Anerkennung als Flüchtling dennoch verweigert:
Nur wenn eine Verfolgung aufgrund der persönlichen Merkmale erfolgt, die in der Flüchtlingsdefinition genannt sind, kann eine Anerkennung erfolgen. Zielgerichtet ist eine politische Verfolgung,
wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt wird. Häufig werden Flüchtlinge
abgelehnt, weil nach Auffassung des Bundesamtes eine Verfolgung zwar stattfand, aber nicht “zielgerichtet” war.
Zwischen den Gründen, auf die sich ein Asylsuchender beruft, und der Flucht muss ein innerer Zusammenhang bestehen: Drohende oder erlittene Verfolgung muss die Flucht ausgelöst haben. Ist
zwischen der Verfolgung und der Flucht zu viel Zeit vergangen, wird die Verfolgung nicht mehr als Begründung für die Flucht akzeptiert. Auch wird nicht jede frühere Verfolgung als Asylgrund
anerkannt: Wenn jemand zum Beispiel wegen eines unberechtigten Vorwurfs eine Gefängnisstrafe abgesessen hat, jetzt aber entlassen ist, wird unter Umständen argumentiert, dass die Verfolgung ja
vorbei sei und eine erneute Verfolgung nicht akut drohe.
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist, ob die Verfolgung oder Bedrohung schwerwiegend genug ist. Vorladungen, Verhöre, mehrtägige Inhaftierungen und Schläge gelten oft als nicht gravierend genug
und damit nicht als „asylrelevant“.
Eine Flüchtlingsanerkennung kommt nur dann in Frage, wenn es auch in keinem anderen Teil des Herkunftslandes Schutz vor Verfolgung gibt. Besteht in einem anderen Landesteil keine
Verfolgungsgefahr, so nennt man dies „inländische Fluchtalternative“. Dies führt dazu, dass ein Asylantrag abgelehnt wird.
Bis 2005 war eine Verfolgung nur dann relevant, wenn sie vom Staat mit seinen Institutionen und Kräften (Polizei, Justiz, Militär) ausging. Inzwischen kann auch die Verfolgung durch andere (zum
Beispiel militante Gruppen) als Verfolgung gelten, wenn die Herrscher keinen Schutz davor bieten oder zu einem Schutz nicht bereit sind (so genannte nichtstaatliche Verfolgung). In der Praxis
wird aber oft angenommen, dass der Staat (oder Staatsteilherrscher) prinzipiell schutzwillig und schutzfähig sind, so dass eine Anerkennung trotz Bedrohung doch nicht erfolgt. Oder es wird
behauptet, die Verfolgungssituation bestehe nicht überall im Lande und sei zu vermeiden, wenn man seinen Wohnsitz in einer anderen Region des Landes nähme. Das gilt insbesondere für Länder, in
denen internationale Organisationen die Staatskontrolle haben.
Eine Verfolgung muss konkret, nachvollziehbar und wahrscheinlich sein. Oft wird Flüchtlingen, denen noch nichts passiert ist, die aber große Angst vor einer Verfolgung haben, vorgehalten, sie
seien (noch) nicht wirklich bedroht gewesen oder hätten den Schutz der Behörden ihres Staates in Anspruch nehmen können. Dies wird oft Flüchtlingen entgegengehalten, die sich auf eine Verfolgung
durch Dritte – z.B. eine andere ethnische Gruppe oder eine Mafiaorganisation – berufen. Aber auch Flüchtlinge, die eine drohende Verfolgung durch staatliche Kräfte geltend machen, müssen unter
Umständen mit einer Ablehnung rechnen: Der Asylantrag wird dann zum Beispiel mit der Begründung abgelehnt, dass die Regierung sich um die Einhaltung der Menschenrechte bemühe und dazu
grundsätzlich auch in der Lage sei.
Kriege und Bürgerkriege sind in der REGEL kein Grund, um Asyl oder einen anderen Flüchtlingsschutz in Deutschland zu erhalten. Im Gesetz steht, dass ein Asylantrag abgelehnt wird, wenn jemand nur
deshalb Asyl beantragt hat, um einer kriegerischen Auseinandersetzung zu entgehen. Eine Chance auf Anerkennung besteht nur, wenn über die allgemeine Gefahr für das Leben in einem Krieg hinaus
eine konkrete persönliche Verfolgung oder Gefährdung belegt werden kann.
Nach dem Gesetz kann auch eine Verfolgung aufgrund des Geschlechts zu einer Anerkennung als Flüchtling führen. Die allgemeine Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen im Herkunftsland reicht
jedoch oft nicht aus, um Asyl zu erhalten. Den betroffenen Flüchtlingen wird z.B. in einigen Entscheidungen zugemutet, die untergeordnete Stellung der Frau im Rechtssystem des Herkunftslandes
hinzunehmen und sich den Kleidervorschriften oder sonstigen Normen der Gesellschaft zu unterwerfen.
Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlitten haben oder befürchten müssen, können als Flüchtlinge anerkannt werden. Das gilt zum Beispiel für drohende Genitalverstümmelung (Beschneidung). Es
kommt jedoch auch vor, dass entsprechende Asylanträge mit der Begründung abgelehnt werden, dass nicht jede Frau im Herkunftsland davon betroffen sei und es Möglichkeiten gäbe, sich dieser Gefahr
zu entziehen.
Die Verfolgung homosexuellen Männern oder Frauen kann einen Asylgrund darstellen. Allein die Diskriminierung oder gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität reicht aber nicht aus. Die
Verweigerung von Asyl kann zum Beispiel damit begründet werden, dass die sexuelle Orientierung im Herkunftsland keine Verfolgung nach sich zöge, solange die Öffentlichkeit davon nichts mitbekäme.
Welche Möglichkeiten ergeben sich für diese Klientel, eine erfolgreiche Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen?
Kai Weber: Zunächst einmal besteht die Möglichkeit einer Klage gegen die ablehnende Entscheidung vor dem Verwaltungsgericht, gegebenfalls. können auch weitere Rechtsmittel
genutzt werden (Berufung, Revision, Verfassungsbeschwerde). Darüber hinaus sind andere Gründe vorstellbar, warum eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, etwa wegen einer schweren Krankheit,
wegen Heirat mit einem/r Deutschen, wegen Vaterschaft/Mutterschaft für ein deutsches Kind, wegen Pflegebedürftigkeit naher, in Deutschland lebender Angehöriger etc.
Es besteht auch die Möglichkeit, über einen sogenannten Härtefallantrag eine Art Gnadengesuch einzureichen. Schließlich bestehen – eng begrenzte – gesetzliche Möglichkeiten für ein Bleiberecht –
etwa wegen bestehender Erwerbstätigkeit im erlernten Beruf nach Absolvierung einer qualifizierten Ausbildung, wegen langjährigen Aufenthalts bei „positiver Integrationsprognose“ für Jugendliche
zwischen 15 und 20 Jahren etc. Hochumstritten ist die sogenannte „Ermessensaufenthaltserlaubnis“ wegen Unzumutbarkeit einer Rückkehr und faktischer Verwurzelung in deutsche Lebensverhältnisse.
Grundsätzlich gibt es mehrere Arten von (humanitären) Duldungen. Unter bestimmten Bedingungen wird sie auf dem Ermessenswege erteilt. Welche sind das?
Kai Weber: Mit der Reform des Aufenthaltsrechts(4) sollte 2005 die Duldung ja weitgehend abgeschafft werden: Statt sog. „Kettenduldungen“, d.h. wiederkehrend
verlängerten Bescheinigungen über einen nicht rechtmäßigen, aber faktisch nicht beendeten Aufenthalt, sollte es Aufenthaltserlaubnisse geben. Insofern ist die Tatsache, dass wir nach wie vor fast
90.000 Flüchtlinge mit einer Duldung in Deutschland haben, ein Ärgernis. Es ist beispielsweise nicht einsehbar, warum abgelehnte Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Afghanistan, die seit Jahren
nicht aus Deutschland abgeschoben werden, keine Aufenthaltserlaubnis erhalten.
Im Gesetz ist festgehalten, dass ein Aufenthalt nur geduldet werden darf, wenn keine faktischen oder rechtlichen Hindernisse vorliegen. Die frühere Landesregierung unter Uwe Schünemann als
Innenminister hat den Ausländerbehörden unter Bezugnahme auf diese Rechtslage jegliches Ermessen bestritten und sie aufgefordert, Abschiebungen grundsätzlich immer zu vollziehen, wenn keine
faktischen Hindernisse (wie z.B. fehlende Flugverbindungen) vorlagen, oder wenn ein Gericht eine Abschiebung im Einzelfall untersagt hatte. Dagegen haben liberalere Innenbehörden angeordnet, dass
immer auch zu prüfen sei, ob eine Abschiebung in Einzelfall auch zumutbar sei. Wir setzen darauf, dass ein solches subjektives Ermessen den Ausländerbehörden nun auch in Niedersachsen eingeräumt
wird.
„Es ist beispielsweise nicht einsehbar, warum abgelehnte Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Afghanistan, die seit Jahren nicht aus Deutschland abgeschoben werden, keine Aufenthaltserlaubnis erhalten“.
Arbeiten Mitarbeiter_innen des Flüchtlingsrates eng mit den Asylsuchenden an den Standorten Bramsche-Hesepe, Braunschweig und Friedland zusammen, gibt es Mitarbeiter_innen vor Ort und wie
entstehen die ersten Kontakte?
Kai Weber: Es gibt Kontakte sowohl zu den Beratungsstellen und Initiativen an den Standorten der genannten Lager also auch zu Landesbediensteten und Mitarbeiter_innen des BAMF
(Anmerkung der Red.: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Über diese erhalten wir dann Informationen und Akten der betroffenen Flüchtlinge. Natürlich wahren wir strikte Vertraulichkeit und
verstehen uns nicht als Mittler, sondern als Interessensvertretung. Aber das schließt eine sachliche Zusammenarbeit nicht aus. In vielen Fällen ist es sinnvoller, Sachverhalte über die
Fachaufsicht der beteiligten Behörden prüfen zu lassen, also eine mediale Inszenierung vorzunehmen. Der Einzelfall zählt.
Unter welch schlechten Bedingungen müssen Asylsuchende/Flüchtlinge generell leben?
Kai Weber: Flüchtlinge dürfen ihren Wohnort nicht frei wählen und unterliegen empfindlichen Beschränkungen ihrer Freizügigkeit (sogenannte Residenzpflicht). Das Gesetz sieht für
Asylsuchende sogenannte Gemeinschaftsunterkünfte als Regelunterbringung vor. Sie dürfen im ersten Jahr des Verfahrens nicht arbeiten und unterliegen als Asylsuchende unbefristet, als Geduldete
für weitere drei Jahre einer sogenannter „Vorrangprüfung“ bei der Arbeitssuche, d.h. sie dürfen eine Stelle nur antreten, wenn sich für diese keine deutschen oder gleichgestellten
Arbeitssuchenden finden lassen. Über das sogenannte „Asylbewerberleistungsgesetz“ wurde 20 Jahre lang eine Art „Menschenwürde zweiter Klasse“ mit Leistungen in Höhe von rund 40 % unterhalb des
Hartz IV – Satzes festgeschrieben, bis es schließlich im Juli 2012 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Noch immer ermöglicht das Gesetz aber Kürzungen im Einzelfall
sowie die Gewährung von Leistungen in Form von diskriminierenden Sachleistungen oder Gutscheinen. Von Sprachkursen oder sonstigen Partizipations- und Qualifikationsangeboten sind Flüchtlinge
während des Asylverfahrens und als Geduldete weitgehend ausgeschlossen.
Die Lagerunterbringung ist ein wesentlicher Baustein der Repression gegen Flüchtlinge. Muss ein primäres Ziel des Flüchtlingsrates nicht auch sein, diese Lager
abzuschaffen?
Kai Weber: Ohne Zweifel. Wir sollten aber die Ebenen nicht durcheinander bringen. Es gibt einen gewissen Sinn, zur Gewährleistung eines geordneten Asylverfahrens eine sogenannte
Erstaufnahme an Orten zu organisieren, wo eine Registrierung erfolgen und auch die Anhörung stattfinden kann. Dieses Verfahren sollte allerdings nach drei bis spätestens sechs Wochen
abgeschlossen sein. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, Flüchtlingen, die in Deutschland Schutz suchen und hier niemanden kennen, vorübergehend in Häusern aufzunehmen, wo eine gewisse Beratung
und Orientierung gewährleistet ist.
Natürlich kann es auch aufgrund plötzlicher Fluchtbewegungen temporär notwendig sein, Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen, weil sich so schnell keine Wohnungen auftreiben
lassen. Was wir bekämpfen ist das Programm der Ausgrenzung von Flüchtlingen in Lagern, deren Funktion darin besteht, Flüchtlinge abzuschrecken und ihnen zu signalisieren, dass sie hier
unerwünscht sind. Positiv ausgedrückt: Wir erwarten, dass die jeweiligen Landesregierungen und v.a. auch die Kommunen die Aufnahme von Flüchtlingen als Daueraufgabe betrachten und Flüchtlinge
dabei unterstützen, hier anzukommen und sich zu orientieren. Flüchtlinge können in der Regel gut damit leben, wenn sie in Kommunen zunächst übergangsweise und befristet auf – sagen wir – bis zu
sechs Monaten auch in gemeinschaftlichen Unterkünften aufgenommen werden, dort Beratung und Unterstützung erhalten und das Recht haben, sich eine eigene Wohnung selbst zu suchen. Umgekehrt kann
es unerträglich für einen Flüchtling sein, auf irgendeinem Dorf ohne Verkehrsanbindung in einer eigenen Wohnung isoliert zu leben. Entscheidend ist die Perspektive auf Partizipation und
Selbstbestimmung. In Niedersachsen leben rund 85 % aller Flüchtlinge in Wohnungen, darunter finden sich durchaus auch Löcher, die jeder Beschreibung spotten.
„Was wir bekämpfen ist das Programm der Ausgrenzung von Flüchtlingen in Lagern, deren Funktion darin besteht, Flüchtlinge abzuschrecken und ihnen zu signalisieren, dass sie hier unerwünscht sind“.
Ein weiterer Baustein der Repression ist die Residenzpflicht, die du eben schon angesprochen hast. Welche Barrieren und Hürden gilt es für Asylsuchende/Flüchtlinge zu überwinden und
welche konkreten Hilfen bietet der Flüchtlingsrat an um diese zu verbessern?
Kai Weber: Flüchtlinge dürfen während des Asylverfahrens oder als Geduldete das jeweilige Bundesland nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen. Diese Reglementierung wird von
Flüchtlingen zu Recht als diskriminierend kritisiert. Der Flüchtlingsrat bietet Flüchtlingen Rechtshilfe bei Klagen gegen Verurteilungen ebenso wie individuelle Hilfen bei der Durchsetzung von
Ausnahmeregelungen.
Eine Änderung der bestehenden Praxis muss durch Änderung der Rechtslage auf Bundesebene erfolgen. Was auf Landesebene an Möglichkeiten zur Liberalisierung möglich ist, haben wir weitgehend
durchgesetzt. Natürlich unterstützt der Flüchtlingsrat die Forderung nach einer Abschaffung der Residenzpflicht. Viel weniger im Fokus, aber nicht weniger wichtig ist jedoch auch die politische
Kritik an Wohnsitzauflagen, die den Flüchtlingen in der Regel vorschreiben, in welcher Ortschaft er/sie wohnen müssen.
Gibt es Beispiele wie Behörden bestehende Gesetze willkürlich zum Nachteil Betroffener anwenden?
Kai Weber: Es gibt immer wieder Beispiele für behördliche Schikanen auf allen Ebenen, in Form von fragwürdigen Meldeauflagen, wiederholter Kriminalisierung, vorenthaltenen
Leistungen, Arbeitsverboten, verweigerten Aufenthaltstiteln etc.
Gibt es Fälle, in denen Betroffene, die sich gegen Repressionen wehren, hart sanktioniert wurden?
Kai Weber: Auch das, natürlich.
Initiativen wie „No Lager“(5) organisieren mit Asylbewerber_innen Aktionen, die gegen ihre Unterbringung in Lager protestieren. Welche Unterbringungsmöglichkeiten strebt der Flüchtingsrat
an?
Kai Weber: Wir wollen, dass Flüchtlinge frühzeitig ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Dazu gehört auch die eigenständige Suche nach einer Wohnung, darüber hinaus die
Teilnahmemöglichkeit an Sprachkursen, Anpassungsqualifizierungen etc., Ausbildung und Arbeit, alltägliche Nachbarschaft. Die hierfür erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen haben wir nicht.
Aber schon jetzt können gutwillige Kommunen Konzepte für eine Unterbringung von Flüchtlingen entwickeln, die diese Elemente mitdenken.
Der ehemalige Innenminister Uwe Schünemann hat als Hardliner eine besonders harten Kurs gegen Asylsuchende gefahren. Kein Pardon, vor allem wenn es um Asylbewerber_innen oder
Flüchtlinge geht. Er hat Familien getrennt und Kindern ihre Mutter genommen und abgeschoben. Erst auf starken politischen Druck hin konnte beispielsweise Gazale Salame(6) aus der Türkei wieder
nach Niedersachsen zu ihren Familienangehörigen zurückkehren. Welche Maßnahmen hat der Flüchtlingsrat in welchem Zeitraum ergreifen müssen, um die Familienzusammenführung zum Erfolg zu
führen?
Kai Weber: Unzählige Prozesse, unzählige Demonstrationen, Lobbybriefe, Mailings und Kampagnen, viele Gespräche auf allen Ebenen, Spendenakquise, Besuche in der Türkei,
Pressearbeit…
Welche Gesetze zum Nachteil Asylsuchender hat Schünemann während seiner Amtszeit eingefordert und durchgesetzt?
Kai Weber: Er hat v.a. immer wieder dafür gesorgt, dass Bleiberechtsregelungen nicht oder verspätet / verwässert beschlossen wurden. Sein wiederkehrendes Credo lautete: „Keine
Einwanderung in die Sozialsysteme“. Übersetzt in die Praxis hieß das: Keine Humanität für alte, kranke, weniger leistungsfähige Flüchtlinge. Soweit junge, dynamische und leistungsfähige
Flüchtlinge betroffen waren, hat er sich durchaus für liberale aufenthaltsrechtliche Lösungen eingesetzt, etwa im Kontext der Bleiberechtsregelung für Jugendliche.
Welche persönlichen Erfahrungen hast du mit Uwe Schünemann machen dürfen…welcher Grundtyp war er und hat er sich in jedem Dialog mit euch unbeweglich gezeigt?
Kai Weber: Schünemann ist kein Rassist. In seiner Amtszeit als Innenminister kalkulierte er den Mehrwert einer Anwerbung und Beschäftigung von Migrant_innen kühl im
Hinblick auf ihren Nutzen für den „Standort Deutschland“. Im Bereich der sogenannten „Integrationspolitik“ hat er vieles bewegt. Mit individuellen Fällen und menschlichen Regungen konnte man ihm
aber nicht kommen, da war er eiskalt. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit hatte er sich auf die Fahnen geschrieben, den Vollzug von Abschiebungen zu erleichtern. Fachaufsichtliche Interventionen
des Flüchtlingsrats beim Innenministerium führten in der Regel zum Gegenteil, nämlich einer demonstrativen öffentlichen Erklärung zur Unterstützung der abschiebenden Ausländerbehörde. Die
Aufrüstung der Polizei war ihm eine Herzensangelegenheit. In seinem ganzen Wesen verströmte er die Aura eines Hundertscharführers vor dem nächsten Polizeieinsatz.
Boris Pistorius ist Niedersachsens neuer Minister für Inneres. Er will Humanität in der Flüchtlingspolitik. Habt ihr bereits mit ihm sprechen können? Ist er Hardliner oder
Bürgerrechtler? Was verspricht er im Hinblick auf den Zustand Asylsuchender zu verbessern? Welche Erwartungen habt ihr an ihn?
Kai Weber: Wir hatten ein Gespräch mit ihm und sind überzeugt, dass er es ehrlich meint mit einem Wechsel in der Flüchtlingspolitik. Die Art, wie er nach erfolgter Abschiebung
einer Familie aus dem Wendland öffentlich Kritik an diesen Abläufen – auch am eigenen Haus – übte und versprach, die Familie wieder zurückzuholen, war bemerkenswert. Insofern bin ich sicher, dass
wir zukünftig einen anderen Stil erleben werden.
Wir erwarten konkret von ihm, dass er den Ausländerbehörden weit reichende Befugnisse gibt, Aufenthaltserlaubnisse im Ermessenswege zu erteilen (Grundlage hierfür ist die Rechtsprechung des EGMR
zu Art. 8 EMRK), die Härtefallkommission zu einer Kommission macht, die diesen Namen auch verdient, dafür sorgt, dass Abschiebungen möglichst vermieden und Termine gegebenenfalls vorher
angekündigt werden, die Gutscheinpraxis beendet, die Erstaufnahmeunterbringung zeitlich eng begrenzt, Altfälle löst und auseinander gerissene Familien zurückholt, die Gutscheinpraxis beendet
usw., kurz das umsetzt, was auf Landesebene möglich ist. Wir erwarten nicht, dass er Asyl erteilt oder die Residenzpflicht abschafft – dafür hat er keine Kompetenzen. Er wird auch nicht jede
Abschiebung stoppen können, wenn und solange die bundesgesetzlichen Rahmenbedingungen ein rigoroses Vorgehen vorschreiben.
Humanität soll in die Flüchtlingspolitik einziehen. Was könnte Pistorius damit meinen? Abschiebung nicht mehr in den frühen Morgenstunden?
Kai Weber: Gemeint ist damit, dass er die gesetzlich bestehenden Spielräume für einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen nutzt und sich auf Bundesebene für bessere Gesetze
einsetzt.
Wie kann sich das öffentliche Bild von „Asyltourismus“ verändern? Welche Maßnahmen wären sinnvoll und welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden?
Kai Weber: Der Begriff hat vielleicht Ende letzten Jahres – im Kontext der Debatte um die Aufnahme von Roma-Flüchtlingen aus Serbien – kurzzeitig die Diskussion bestimmt. Ich
würde diesen begriff nicht verwenden und stattdessen die Lebensbedingungen thematisieren, unter denen die Menschen leben, die auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben hierher fliehen. Sie
sprechen für sich(7).
Kontakt/Infos: http://www.nds-fluerat.org
Anmerkungen:
(1) Die Dublin II-Verordnung regelt die Zuständigkeit des jeweiligen EU-Mitgliedstaates hinsichtlich von Asylverfahren. Diese Verordnung wurde am 18. Februar 2003 beschlossen und kommt seit dem
1. September 2003 in allen EU-Staaten und in den zwei Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island sowie seit 2008 in der Schweiz zur praktischen Anwendung.
http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Asyl_in_Europa/Dublin_II-Verordnung.pdf
(29 http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Subsidiaer/subsidiaer-node.html
(3) Aufnahmequoten der Bundesländer legen fest, welchen Anteil der Asylbewerber jedes Bundesland aufnehmen muss und werden nach dem sogenannten “Königsteiner Schlüssel” festgesetzt. Er wird für
jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder berechnet.
(4) Das Zuwanderungsgesetz. Der Beitrag skizziert die zentralen Bestimmungen: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56351/zuwanderungsgesetz-2005?p=all
(5) http://www.nolager.de/
(6) Hintergrund: http://www.nds-fluerat.org/infomaterial/gazale-salame/
(7) http://www.nds-fluerat.org/projekte/roma-projekt/situation-der-roma-in-serbien