«Geschlecht ist eine Praxis, keine Eigenschaft»
Prof. Dr. Melanie Groß ist seit September 2008 Professorin für „Erziehung und Bildung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit“ und seit Juli 2010 Beauftragte für Hochschuldidaktik an der FH Kiel.
Melanie hat in verschiedenen wissenschaftlichen Arbeitsgruppen mitgewirkt, u.a. als Mitarbeiterin zum Projekt „Critical Research on Men“, „Arbeit-Gender-Technik“, hat das Mädchen-Internetcafé im
Mädchentreff Bielefeld aufgebaut und geleitet, den Verein „zur Förderung und Weiterentwicklung feministischer MädchenArbeit und reflektierender JungenArbeit, MAJA e.V.“ mitbegründet.
Melanie hat zudem auf mehreren Forschungsfeldern Fallstudien betrieben, die sich explizit auf Inszenierung von Geschlecht beziehen. Aktuell analysiert sie in einem Projekt die „Performativität
von Geschlechtsinszenierungen“, das auf der Basis von jugendkulturellen Selbstdarstellungen in materialen Objekten aus dem Bereich des Punk/Hardcore die performative Inszenierung von
Geschlechtsidentität durch Praktiken der Bricolage(1) untersucht. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf der Frage, wie die in Jugendkulturen verhandelte Geschlechtsidentität
mit weiteren Differenzkategorien (Herkunft, Körper, Nationalität, Klasse etc.) verbunden ist.
Mit der als Fallstudie angelegten Teilstudie wird an die vorliegenden Arbeiten aus dem Bereich queer-feministischer Jugendkulturen angeschlossen und der Blick auf Techniken der Bricolage im
Punk/Hardcore gerichtet. Anhand von Flyern und Fanzines sowie ergänzenden Interviews wird rekonstruiert, ob und wie intersektionale Wechselwirkungen zwischen Identitätskategorien, sozialen
Strukturen und symbolischen Diskursen in der untersuchten Jugendkultur verhandelt werden und materialisiert sind. Die Studie geht dabei davon aus, dass Jugendkulturen explizite Orte für das
Überschreiten von Geschlechtergrenzen sind. Es wird untersucht, inwiefern dieses Überschreiten auch dazu einlädt, Geschlechtlichkeit als zweigeschlechtliche, heterosexuelle Norm infrage zu
stellen und darüber hinaus mit weiteren Differenzkategorien zu konfrontieren. Mit der Studie werden diese Strategien rekonstruiert, womit zum einen die Vielfalt der Bedeutungen der Kategorie
Geschlecht aufgezeigt werden kann, die aktuell in der Jugendkultur des Punk/Hardcore diskursiv von Bedeutung sind. Zum anderen wird die Vielfalt der Inszenierungsweisen insgesamt sichtbar
gemacht.
Des Weiteren hat Melanie verschiedene Artikel verfasst, die sich allgemein mit Geschlecht auseinandersetzen. Mit Christiane Wehr hat sie z.B. die intersektionale Wechselwirkungen von
Geschlecht, race, Klasse und Körper im Punk/Hardcore untersucht(2)und im letzten Jahr drei gesellschaftstheoretische Perspektiven herausgearbeitet, die im gesellschaftlichen
Kontext aus soziologischer und philosophischer Sicht eine Normalität hervorbringt, die Begehrensformen jenseits der Heterosexualität abwertet, leugnet und tabuisiert(3).
Darüberhinaus hat sie zu gendertrouble und queer einen Artikel geschrieben(4), in dem sie politische Strategien vorstellt, die mit dem Begriff queer verbunden sind und im selben
aufzeigt, dass queer-feministische Gruppen mehrere Macht- und Herrschaftsformen angreifen. Melanie schlussfolgert, dass „Queer ein Projekt(ist), das nicht abschließt und immer wieder dazu
aufruft, Naturalisierungen, Normalisierungen und Ungleichheiten - auch selbst erzeugte - aufzudecken und anzugreifen“(s. 46 ebd).
«Wenn Jugendarbeit als ein Ort theoretisiert und konzipiert wird, der Jugendlichen die Entfaltung ihrer Persönlichkeit
ermöglichen soll und an dem sie gleichzeitig dabei unterstützt werden, sich zu gemeinschaftsfähigen Personen zu entwickeln, die gesellschaftliche Normen kritisch hinterfragen, dann liegt es für
mich auf der Hand, sich auch mit Geschlechter- und Sexualitätsnormen in der Jugendarbeit auseinander zu setzen.»
Melanie, warum ist es dir wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Differenzen innerhalb der Geschlechterkategorien zu lenken?
Mir ist das wichtig, weil die Fokussierung auf die Differenzen innerhalb einer Geschlechtskategorie zeigen, wie absurd die Kategorisierung letztlich ist. Aus der
Sozialisationsforschung wissen wir bereits seit den 1980er Jahren, dass die sogenannte Binnendifferenz – also die Differenz innerhalb der Gruppe der Mädchen oder der Gruppe der Jungen – größer
ist, als die Differenz zwischen den Geschlechtern. Wenn ich diese Erkenntnis ernst nehme, dann muss ich mich fragen, ob die Einteilung der Menschen in zwei verschiedene und der Ideologie nach
grundlegend verschiedene und der Norm nach heterosexuell aufeinander bezogenen Geschlechter überhaupt Sinn macht.
Warum ist Dekonstruktion - und damit die Infragestellung von Geschlechterkonstruktionen – eine wichtige Voraussetzung und gleichzeitig Ziel für dein feministisches Denken und
Handeln?
Unter Dekonstruktion verstehe ich ein Verfahren in zwei Schritten: Erstens geht es zunächst um die kritische Prüfung einer Denkweise, die binär strukturiert ist. Als binär
strukturiert gelten zum Beispiel Begriffspaare wie Natur – Kultur oder Frau – Mann, die idR hierarchisch organisiert sind. Es sind Begriffspaare, die nicht nur beschreibenden Charakter haben,
sondern immer auch normativ, also regulierend und disziplinierend wirken. Hier setzt der zweite Schritt an: die Verschiebung der Binarität, die Vervielfältigung und damit letztlich die Zerstörung
der binären Grundstruktur. Das bedeutet, dass das Aufzeigen differenter Weiblichkeiten und differenter Männlichkeiten deutlich machen kann, dass die Binarität grundsätzlich eine soziale
Konstruktion ist, die weniger mit 'natürlicher Biologie' zu tun hat, als wir bisweilen annehmen. Eine solche dekonstruktive Vorgehensweise birgt mehrere Chancen für die Erweiterung von
Handlungsspielräumen: Ein wichtiger Punkt dabei ist beispielsweise die Auseinandersetzung mit Geschlechtspositionen, die außerhalb der Binarität und damit jenseits der Norm liegen. Trans*personen
beispielsweise machen uns seit langem darauf aufmerksam, dass die soziale Konstruktion der Binarität Mann – Frau nicht nur ideologisch, regulierend und einengend ist, sondern dass sie auch
Existenzweisen, die dieser Logik nicht folgen und folgen wollen, an den Ort des Abnormen verweist, ausgrenzt und sogar als krank stigmatisiert. Dekonstruktion ist also für mich zunächst einmal
ein Verfahren, um die Normativität der Kategorie Geschlecht aufzudecken und damit angreifbar zu machen. Die Vervielfältigung ist damit Voraussetzung und zugleich das emanzipatorische Ziel des
Verfahrens.
Durch Dekonstruktion werden Differenzen innerhalb der Geschlechterkategorien in den Blick genommen. Was heißt das Ernstnehmen dieser Differenzen politisch?
In seiner radikalen Form stellt Dekonstruktion feministische Aktivitäten in der politischen Praxis vor einige Probleme, da das Subjekt des Feminismus eine fragiler werdende
Größe darstellt. Es ist nicht mehr so einfach – falls es das jemals war – im Namen 'der Frauen' Politik zu machen. Die radikale Vervielfältigung kann bedeuten, dass es politisch keine gemeinsame
Position geben kann. Wenn politische Gruppen es schaffen, sich gemeinsam gegen die Gewaltförmigkeit der normativen Zweigeschlechtlichkeit zu wenden, können sie das m.E. aber auch ohne sich dabei
auf eine konstruierte Gruppe wie 'die Frauen' zu beziehen. Jetzt wird es möglich die Grundstruktur anzugreifen, die die Hierarchie und Ausgrenzung erst ermöglicht. Das eröffnet Bündnisse aus ganz
verschiedenen Positionierungen heraus. Für mich ist das der gemeinsame Nenner, den Feminist_innen, Queers, Trans*, Perverse und andere Andere finden können – ohne dabei ihre je eigenen Kämpfe aus
dem Blick verlieren oder gar aufgeben zu müssen.
Da es laut Judith Butler keinen Raum außerhalb des herrschenden Diskurssystems gibt, jede Subjekt- und Identitätsbildung den Regeln desselben folgen muss, ist jede Handlungs“fähigkeit“
auf dasselbe beschränkt. Bedeutet das das Ende jeder Handlungsfreiheit und damit jeder das (Diskurs-) system überwindenden Praxis?
Diese Frage wird in der theoretischen Auseinandersetzung seit den 1990er Jahren kontrovers diskutiert. Butler selbst geht ja davon aus, dass Handlungsfähigkeit zwar deutlich
eingeschränkt, aber nicht unmöglich ist. Sie argumentiert damit, dass Menschen die ihnen zugedachte Norm quasi immer auch ein wenig unterlaufen, weil sie nie die Norm erfüllen können, diese also
letztlich so stereotyp ist, dass sie geradezu verfehlt werden muss. Die Handlungsfähigkeit schreibt sie insbesondere denen zu, die an die Grenzen des Normalen verwiesen wurden.
Butler bezieht sich in diesem Punkt auch auf die Arbeiten von Michel Foucault, der ebenfalls eine skeptische Position einnimmt in der Frage, ob der Diskurs, der uns normiert, reguliert und
hervorbringt, jemals verlassen werden kann.
Ich verstehe diese theoretische Skepsis als radikale Kritik an die Umsetzung der Ideen der Aufklärung wie Freiheit und Gleichheit, die wie die Geschichte gezeigt hat, nie wirklich „Freiheit für
alle“ oder „Gleichheit für alle“ gemeint hat. Trotz dieser Ideen waren und sind Rassismus, Homosexualitätsfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit etc. möglich. Diese Skepsis warnt uns davor,
allzuschnell zu sicher zu sein, dass wir auf der richtigen Seite stehen, auf der Seite, von der aus wir „das Ganze“ erfassen und „Wahrheit“ finden könnten. Es bedeutet m.E. aber nicht, dass nicht
doch eine Praxis dazu führen kann einen mächtigen Diskurs anzugreifen und zu Fall zu bringen. Es heißt lediglich, dass wir nicht sagen können, ob das, was danach kommt, dann so etwas wie Freiheit
sein wird. Theoretisch gesehen ist diese Freiheit nicht zu erreichen, da es eben nur wieder eine neue Form der Regulierung sein wird, die nicht notwendigerweise 'freier' sein muss.
Welche Chancen oder Widersprüche siehst du in dekonstruktivistischen Theorien?
Die Chancen liegen meines Erachten auf der Hand: Mehr Spielräume für Identitäten, die nicht der herrschenden Norm entsprechen. Ich sehe weniger Widersprüche als Grenzen: Mit
Dekonstruktion stoße ich auf der politischen Bühne der Gleichstellungspolitik an Grenzen. Ist es beispielsweise sinnvoll eine Frau auf eine Professur zu berufen, die weiß und antifeministisch
ist, statt den nicht-weißen Mann oder den queeren Feministen? Aus gleichstellungspolitischer Sicht wäre der Fall klar – ich müsste als Gleichstellungsbeauftrage die Einstellung der Frau fordern –
wohl wissend, dass sie sobald sie die Stelle hat auch meine Existenzgrundlage als Gleichstellungsbeauftragte infragestellen wird. Aus dekonstruktiver Perspektive würde ich einen der beiden
anderen Kandidaten favorisieren und damit letztlich aber dazu beitragen, dass Frauen an den Hochschulen in der Minderheit bleiben. Meines Erachtens kann das langfristig nur heißen, dass wir eine
intersektionale Antidiskriminierungsarbeit brauchen – also eine Perspektive, die mehrere Diskriminierungskategorien gleichzeitig und in ihren Wechselwirkungen in den Blick nimmt.
Mit welchen theoretischen und praktischen Konzepten kann die Auflösung eindeutiger Geschlechterkategorien erreicht werden?
In der Theorie denke ist, dass poststrukturalistische Ansätze wie sie mit Butler, Foucault und Derrida verbunden sind hier die weitreichendsten Konzepte vorlegen. Aber auch
ethnomethdologische Perspektiven, die zeigen, dass Geschlecht eine Praxis und keine Eigenschaft ist, sind hier geeignet, um die soziale Konstruiertheit nachzuvollziehen und als 'gemacht' und
damit potentiell auch veränderbar zu entlarven. In der Praxis ist jegliches Handeln, das jenseits der Norm liegt, das die Norm überspitzt und damit lächerlich macht, das die Norm skandalisiert
und als disziplinierend und gewaltförmig offenlegt, geeignet. In der politischen Praxis wird genau das an vielen Orten – nicht zuletzt in Musikkulturen – seit vielen Jahren gemacht.
Grenzüberschreitungen werden auf Bühnen in Szene gesetzt, in Fanzines thematisiert und inszeniert in Songtexten artikuliert. All diese Praxen haben bereits dazu beigetragen, dass enge
Geschlechtergrenzen erweitert wurden und dass – zumindest in bestimmten Milieus – mehr Entfaltungsmöglichkeiten entstanden sind.
Welche Voraussetzung muss für die Vereinbarkeit von dekonstruktivistischen Denkweisen und gleichstellungspolitischen Aufgaben gegeben sein?
Das ist in letzter Konsequenz denke ich gar nicht so einfach, diese beiden Ansätze miteinander zu vereinbaren. Dennoch ist eine gute Gleichstellungspolitik auch mit
dekonstruktiven Ideen durchaus bündnisfähig. Es kommt eben immer darauf an, welche Ebenen in den Blick genommen werden. So nehmen auch Gleichstellungsbeauftragte Aufklärung und
Grenzverschiebungen für ein Leben jenseits der Norm in den Blick. Im Kern werden sie aber immer Politik für 'die Frauen' machen – das hat auch gute Gründe, denn nach wie vor haben wir ja auf
struktureller Ebene ein enormes Ungleichgewicht zwischen denen, die als Frauen und denen, die als Männer bezeichnet werden. Die Fragen, die hier eine Rolle spielen sind dann aber mehr folgende:
Entgeltdiskriminierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauen in Führungspositionen, sexualisierte Gewalt und Belästigung. Gleichwohl muss Gleichstellungspolitik sich aber auch die Frage
gefallen lassen, für welche Frauen sie eigentlich genau handelt – wenn hiervon lediglich die privilegierten Frauen profitieren und WoC, Queers/Lesben, Arbeiterinnen, behinderte Frauen
ausgeblendet werden, dann bleibt es eine Politik, die Ausgrenzung billigend in Kauf nimmt.
Ich gehe davon aus, dass wir es mit verschiedenen gleichzeitig wirkenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu tun haben, die bisweilen auch paradoxe Effekte haben und ebenso paradoxe politische
Widerstandsformen notwendig machen. Es wird schwer alle durch eine einzige Strategie bekämpfen zu wollen. Insofern vergleiche ich das gerne mit einem Blick durch ein Prisma: Wir bekommen immer
nur einen Teilausschnitt in den Blick und können dann auch nur in diesem Teilausschnitt agieren. Dennoch ist es wichtig, die Phänomene, die dann jeweils am Rand der Perspektive liegen, wahr- und
ernstzunehmen und nicht in der eigenen Logik verhaftet zu bleiben.
Patriarchale Strukturen lassen sich in unterschiedlichen Bereichen aufzeigen: in der Familie, in der Berufswelt, angefangen bei geringen Frauenanteilen, besonders in den höheren
Statusgruppen, über frauendiskriminierende Vorgehensweisen bei Stellenbesetzungen, sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Geht es dir in deinen Arbeiten primär darum, die geschlechtshierarchischen
und gesellschaftlichen Machtstrukturen zu kritisieren, sichtbar zu machen, einen Diskurs anzuregen oder auch um praktische Handlungskonzepte?
Im Grunde geht es mir immer um beides: Analyse und Handlungskonzepte gehören für mich politisch zusammen. Allerdings ist es nicht immer leicht von der Analyse auch zu einem
tragfähigen Handlungskonzept zu kommen – so bleibt das Denken dann zirkulär, denn in der Handlung wird meist die Notwendigkeit einer weiteren Analyse deutlich. Insofern bleibt beides stets
begrenzt, bruchstückhaft und unvollständig – dennoch sind es notwendige Schritte, um überhaupt weiter denken und handeln zu können.
Ein Leitziel von dir lautet, die Jugendarbeit zu verqueeren? Was bedeutet das und wie möchtest du dieses erreichen?
Für mich ist das eine dringend notwendige Erweiterung des emanzipatorischen Selbstverständnisses von Jugendarbeit. Wenn Jugendarbeit als ein Ort theoretisiert und konzipiert
wird, der Jugendlichen die Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglichen soll und an dem sie gleichzeitig dabei unterstützt werden, sich zu gemeinschaftsfähigen Personen zu entwickeln, die
gesellschaftliche Normen kritisch hinterfragen, dann liegt es für mich auf der Hand, sich auch mit Geschlechter- und Sexualitätsnormen in der Jugendarbeit auseinander zu setzen. Dies würde ihnen
ermöglichen, sich mit sich selbst und der eigenen Geschlechterrolle oder Sexualität auseinander zu setzen und/oder sich mit den eigenen Vorurteilen zu beschäftigen, die andere in der Entfaltung
ihrer Persönlichkeit behindern. Derzeit bin ich mit Vorträgen und Weiterbildungen von Fachkräften der Jugendarbeit beschäftigt und behandele das Thema an der Hochschule im Kontext des
Studiengangs für Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen. Denn nicht zuletzt müssen auch die Fachkräfte ihre Haltung und womöglich homosexualitätsfeindliche Tendenzen bei sich selbst überprüfen
und eigene pädagogische Praxen hinterfragen. Ich versuche das immer damit deutlich zu machen, dass mensch nie davon ausgehen sollte, dass alle Menschen im Raum heterosexuell oder der Norm
entsprechend entweder männlich oder weiblich sind – damit könnten schon Brücken für die Jugendlichen gebaut werden, die Angst vor sozialer Ächtung haben, wenn Andere erfahren, dass ihr Begehren
nicht dem der Mehrheit entspricht. Wie notwendig diese Erweiterung für die Jugendarbeit ist, wird alleine schon deutlich, wenn wir uns die erhöhten Suizidraten unter homosexuellen Jugendlichen
ansehen und realisieren, dass es für viele dieser Jugendliche keinen Ort gibt, an dem sie sich so entfalten können, wie sie es möchten. Ganz grundsätzlich muss Jugendarbeit allen Jugendlichen
einen diskriminierungsfreien Raum zu Verfügung stellen – das bezieht selbstverständlich auch andere Themen mit ein.
Welchen Stellenwert haben deiner Meinung nach queer-feministische Proteste innerhalb sozialer Bewegungen?
Queer-feministische Widerstandsformen sind aus linken und links-autonomen Protestkulturen nicht wegzudenken. Sie sind ein fester Bestandteil dieses politischen Spektrums und
haben weitreichende Spuren hinterlassen. Gleichwohl sind solche Bewegungen nie frei von Sexismen und Heterosexismen, was bisweilen auch zu einer frustrierenden Situation für die
queer-feministisch politisch aktiven Personen führen kann. Auch innerhalb von sozialen Bewegungen dominieren bestimmte Formen hegemonialer Männlichkeiten, was sich in Redeverhalten und
informellen oder formellen Hierarchien widerspiegelt. Auch wenn sie dem Anspruch nach sexismusfreie Bewegungen sein wollen, werden immer wieder Fälle sexualisierter Übergriffe und auch
Vergewaltigungen öffentlich. Auch ist eine soziale Bewegung nicht per se offen gegenüber Homo- und Bisexualität oder Trans*. Insofern richten sich politische Aktionen von queer-feministischen
Gruppen auch sehr häufig nicht nur an die Mehrheitsgesellschaft, sondern an die eigene Szene und Politstruktur.
Die AfD, fundamentalistische Abtreibungsgegnerinnen („Märsche für das Leben“) und konservative AutorInnen verfolgen einen Anti-Feminismus (Birgit Kelle: „Gender-Gaga“; Akif Pirnicci: „Die
Verschwulung Deutschlands“). Europaweit wachsen homophobe Netzwerke und Bündnisse und Männerrechtsbewegungen. Der Hass auf feministische Positionen– oft verwoben mit Homo- und Transphobie sowie
(antimuslimischem) Rassismus – wird offensiver und ist stärker als zuvor organisiert. Wie schätzt du diese Entwicklungen ein? Welche Strategien stehen an, um dem organisierten Hass etwas
entgegenzusetzen?
Da braut sich etwas zusammen – das scheint inzwischen offensichtlich zu sein. Wir erleben heute einen Antifeminismus, der sehr stark verwoben mit rechen Argumentationen und
Bewegungen ist, es aber zugleich schafft, bis in die Feuilletons überregionaler Zeitungen vorzudringen. Hier gibt es einen beunruhigenden Schulterschluss zwischen Personen der gebildeten
gehobenen Mittelschicht mit abenteuerlich absurden bisweilen verschwörungstheoretisch argumentierenden rechts-konservativen und klerikalen Positionen. Die sogenannten 'Besorgten Eltern' sind
dafür ein sehr anschauliches Beispiel. Mich beunruhigt daran, wie schnell hier dann auch große Gruppen mobilisiert werden können, die bereit sind, sich diesen Positionen anzuschließen, ohne sich
mit den Argumenten wirklich beschäftigt zu haben. Die „Besorgten Eltern“ beispielsweise führen allen Ernstes Interviews mit „Expertinnen“, die behaupten, dass nicht wirklich Nazis, sondern
Schwule den zweiten Weltkrieg angezettelt haben und schon seit damals „unsere Kinder“ über die Sexualpädagogik durch den Staat ferngesteuert würden. Sie verweisen auf Personen, die in ihren
„Erziehungsratgebern“ zu „Züchtigung“ der Kinder aufrufen, weil diese geradezu danach verlangten und ihnen nur so die „Sünde“ ausgetrieben werden könne. Das alles ist nicht nur unglaublicher
Unsinn, sondern auch gefährlich für die betroffenen Kinder und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. Und trotzdem gehen die Medien und sogar Politik diesen Bewegungen auf den Leim
und fragen sich plötzlich, ob emanzipatorische Sexualpädagogik nicht lieber doch verboten werden müsste – könnte ja ein Kind plötzlich auf die Idee kommen, dass die heteronormative
Geschlechterordnung vielleicht doch nicht so cool für alle ist.
Meine Strategie dagegen ist bislang nur die Aufklärung und die öffentliche Kritik an derlei Positionen. Wichtig wäre es meines Erachtens, wenn nach wie vor laut und unmissverständlich immer
wieder darauf hinweisen wird, dass diese Entwicklungen menschenfeindlich und rechts sind, denn das leugnen ja stets diejenigen, die ihnen anhängen und verfolgen damit eine Vernebelungstaktik, der
leider allzuviele Menschen auf den Leim gehen. Insgesamt müssen wir uns fragen, ob die Kämpfe wieder härter werden, wenn die ökonomischen Verhältnisse in Europa weiter schlechter werden. Es
scheint einen starken Zusammenhang zu geben zwischen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Angst vor sozialem Abstieg – mit beidem haben wir es derzeit zu tun.
Anmerkungen:
(1) Bricolage bezeichnet in der Jugendkultur die Technik, Gegenstände in einen neuen Kontext zu stellen, der nicht den ursprünglichen Normativen entspricht – Kleidung, Symbole und Embleme
künstlich zusammenzustellen. Dabei kann deren ursprüngliche Bedeutung verändert oder sogar aufgehoben werden.
(2) Wehr, Christiane/Groß, Melanie (2015): Intersektionale Wechselwirkungen von Geschlecht, race, Klasse und Körper im Punk/Hardcore – Das Beispiel Ox #29-Cover. In: Sülzle, Almut (Hg): Fanzines:
Zugänge, Herausforderungen & Perspektiven der Analyse. Exemplarische Analysen zu Ox #29. JuBri-Working-Paper #1; Juni 2015.
(3) http://gerne-anders.de/media/Jugendarbeit-verqueeren-%C3%9Cber-Notwendigkeiten-und-Chancen-einer-heteronormativit%C3%A4tskritischen-Jugendarbeit.pdf
(4) In: Bois, Marcel; Hüttner, Bernd (Hg): Beiträge zur Geschichte einer pluralen Linken. Theorien und Bewegungen nach 1968, Heft 2: 48-51: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/rls-papers_Beitraege-zur-Geschichte2.pdf