„Schwule Szene bedeutet für mich in erster Linie normiertes Verhalten, Regeln von A bis Z“
Jörg ist Jahrgang 1958. Nach seiner Schulausbildung studierte er Soziologie und erreichte den Doktorgrad. Von 1985 bis 1998 arbeitete Hutter als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der, wo er
Mitinitiator des von 1995 bis 1999 bestehenden Projektes SchwulLesbische Studien Bremen war, und war danach in Hamburg als Soziologe tätig.
Jörg schrieb mehrere Bücher und verfasste zahlreiche Beiträge, Abhandlungen und Rezensionen zu verschiedenen Themen. Jörg hielt sich erst in der Gay-Szene auf, um dann aber enttäuscht
festzustellen, dass die Dogmen und das normierte Verhalten ein intolerantes Verhalten in der Szene hervorrufen.
"Wenn ich als schwuler Punk über Intoleranz in der Punk-Szene sprechen soll, dann geht das nur, wenn ich mich zuvor über die Intoleranz in der schwulen Szene auslasse. Die geht mir nämlich weit
mehr auf den Senkel und ist Grund dafür, dass ich mich lieber unter (Hetero-)punks bewege.
Schwule Szene bedeutet für mich in erster Linie normiertes Verhalten, Regeln von A bis Z: vom angemessenen Outfit und richtigen Modeklamotten über die richtige Anmache bis hin zum richtigen
Alter. Das Benimm-Gepeile beginnt, sobald ich eine Bar betrete. Jeder mustert jeden mit seinen Radarblicken, die Gespräche bleiben oberflächlich, das eigene Verhalten nicht ehrlich, sondern
künstlich. In diesen sexualisierten Räumen spüre ich nur Anspannung, da ist kein Spaß, das ist einfach nur traurig für mich. Auf der Tanzfläche geht es mehr um Selbstdarstellung, allein zuckend
im Technotakt. Als Fremder kann ich mich mehrere Stunden in einer Bar oder Disco aufhalten, ohne in Kontakt mit den anderen Anwesenden zu kommen. Die Situation ähnelt einem Rudel einsamer Wölfe
auf der Suche nach dem Glück. Selbstverständlich ist das nicht überall so. In den Cafes und Kommunikationszentren der Schwulenbewegung geht es mit Sicherheit lockerer zu. Deshalb war und bin ich
auch dort nach wie vor ehrenamtlich engagiert.“
Das gemeinschaftliche, tolerante Erlebnis findet Jörg dann in der Punk-Szene, auf Konzerten und bei „fremden“ Punks, zu denen er schnell Kontakt findet, gleichwohl sich homophobe Tendenzen und
Verhaltensweisen leider auch in dieser Szene wiederfinden.
„In der Punk-Szene habe ich hingegen einen anderen Umgang untereinander erlebt. Das Motto „No gods, no masters“ verdeutlicht wohl am besten, was hier nicht angesagt ist: spießige Normen über
Mode, Aussehen, Alter und Benehmen sowie arrogante Macker mit Szeneerfahrung, die meinen zu wissen, wie man szenegemäß zu leben hat. In der Punk-Szene komme ich in der Regel mit Fremden sofort in
Kontakt, da ein Zusammengehörigkeitsgefühl existiert. Jung oder alt spielt eine eher untergeordnete Rolle, trotz Iro und bunter Haare existiert kein Dresscode, der Leute mit anderen Haarschnitten
oder szeneuntypischen Klamotten etwa von Konzis ausschlösse. Im Vergleich zu Techno macht Pogo nur im Miteinander Spaß. Zu bolzen und zu pogen, ohne die anderen im Blick zu haben und diejenigen,
die zu Boden gehen, wieder hochzuziehen, wäre kein gemeinsamer Spaß. Pogo ist für mich im Gegensatz zu Techno ein gemeinschaftliches Erlebnis. Schließlich darf man sich auch einmal ‚daneben’
benehmen, besaufen usw. usf. Aufgrund des Zusammengehörigkeitsgefühls, das ich aus der schwulen Szene so nicht kenne, existiert in Konflikten etwa mit der Polizei oder Nazis Solidarität.
Gegenseitige Hilfe – so habe ich es jedenfalls erlebt – zählt unter Punkern eher zu einer Selbstverständlichkeit.
Nun sind PunkerInnen natürlich trotz dieser Beobachtungen nicht prinzipiell die besseren Menschen. Vorurteile und Intoleranz kennt wohl jede Minderheit, denn die Erfahrung, selber ausgegrenzt zu
werden, schafft - so meine Meinung - noch lange kein politisches Bewusstsein für die Mechanismen von Benachteiligung. Demnach sind auch manche Schwule antisemitisch oder feindlich gegenüber
Punkern bzw. Frauen eingestellt, genauso wie sich Juden oder Punker schwulenfeindlich verhalten können.
Distanz erlebe ich schließlich in Situationen, in denen ich mit einem vorwurfsvollen Unterton gefragt werde, warum ich (als Schwuler) eigentlich Punk bin. Natürlich hat das neben dem Faible für
Punk-Mucke und der Szene auch etwas mit Erotik zu tun. Das Auftreten der Typen gefällt mir, weil sie männlich wirken. Allen Klischees zum Trotz stehe ich als Schwuler nun mal auf Männer, und zwar
auf solche, die männlich aussehen und sich männlich verhalten. Dabei zählt für mich menschliche Nähe zu Männern genauso viel wie geiler mannmännlicher Sex. Deshalb genieße ich es, mit meinen
vergammelten Klamotten auf Punk-Konzis zu latschen, dort nette Typen zu erleben, mit ihnen gemeinsam zu labern, zu pogen und zu saufen, einfach zusammen Spaß zu haben."
POGEN, SAUFEN, SPASS HABEN
Du warst im schwulen Milieu engagiert, bevor du 1999 politisch für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aktiv warst. Dabei hattest du u.a. den Anspruch, als "Anwalt für Schwule aufzutreten". Konntest du
deine persönlichen Ziele in der Politik verwirklichen und hast du vielleicht auch bei Schwulen ein politisches Bewusstsein erreichen können?
Mein Engagement galt nicht nur den anderen, sondern in erster Linie mir selbst. Mir stellte sich als Jugendlicher die Frage, wie ich als Schwuler überhaupt leben kann. Denn das Vorbild der
eigenen Eltern konnte ja unter der Bedingung, schwul zu sein und das einmal für sich akzeptiert zu haben, nicht funktionieren. Gerade in den 1970er Jahren aber waren Schwule sowie Lesben und
schwul-lesbische Lebensentwürfe in der Gesellschaft nahezu unsichtbar. Was es gab, das waren Pornokinos und dunkle Kneipen mit Klingel und Einlasskontrolle an der Tür sowie öffentliche Toiletten,
die sog. Klappen, in denen man sich meist im Dunkeln begegnete. Das alles fand ich nicht nur entwürdigend für so etwas Schönes wie Zuneigung, Zärtlichkeit und Sexualität. Diese Situation ließ
zudem meine Frage nach einem möglichen Lebensentwurf unbeantwortet, ebenso die Frage nach einer Partnerschaft und wie eine Beziehung zu einem Mann überhaupt gelebt werden kann.
Was es daneben aber schon seit Beginn der 1970er Jahre gab, das waren in den Metropolen einige schwule Emanzipationsgruppen, in denen man sich nicht zum Sex, sondern zum Gespräch getroffen hat.
Als Student bin ich damals in Mannheim dann in einer solchen Gruppe gelandet, Schwule Aktion Mannheim (SCHAM) nannte die sich. Ende der 1970er Jahre begann damals der Aufbruch zu weiterführenden
Projekten. So 1978 mit dem so genannten „Tunix-Kongress“ in Westberlin. Hier traf sich seinerzeit die gesamte westdeutsche linke Bewegung. Das Riesenfest mit Musik, Kabarett und Theater war
eingebettet in einen Diskussionsprozess, der alles das zum Thema machte, was die alternativ denkenden Menschen damals in ihren Köpfen bewegten: Feminismus und Ökologie, das Schwule und das Linke,
Knastarbeit und Anti-Psychiatrie, alternative Medien und die Gründung einer linken Tageszeitung.
Tunix (Anmerkung: http://de.wikipedia.org/wiki/Tunix-Kongress) lässt
sich aus heutiger Sicht als ein Aufbruch der Alternativbewegung zur Gründung eigener Institutionen gegen das Establishment begreifen. Die Vorstellung, dass eine bessere Welt machbar sei, sollte
nun auch konkret umgesetzt werden. Mit Tunix kamen die taz, Greenpeace, die Grünen und Hunderte anderer Organisationen, die meinten, dass man die Welt auch ganz anders gestalten könnte.
Und mit Tunix kamen ein Jahr darauf die ersten CSD-Großdemonstrationen und der Homolulu Kongress (Foto oben: Homolulu, 1979) in Frankfurt/Main, quasi die schwule Entsprechung des Berliner
Alternativspektakels: nicht nur eine Riesendemo, sondern ein Experimentierfeld für schwules Leben mit eigener Tageszeitung (Homolulu), Theater, Kunst, Kultur und Musik, und vor allem Tage der
Begegnung, die „frei vom Zwang, sich gegen heterosexuelle Normen abzugrenzen“ gelebt werden sollten, wie es in dem damaligen Aufruf heißt.
Die zahlreichen Aktivitäten des Sommers 1979 markieren einen Wendepunkt innerhalb der neuen Schwulenbewegung. Wieder im Alltag angekommen, wollten viele nicht nur ein gemeinsames Projekt finden,
sondern in der Zusammenarbeit mit anderen schwulen Männern auch an den eigenen Beziehungen arbeiten. Gemeinsames Handeln in schwulen Zusammenhängen sollte nicht nur auf die Entwicklung eines
schwulen Projektes, sondern gleichsam auf die Selbstverwirklichung in neuen Lebensformen hinauslaufen. Ein wahrlich hochgestecktes Ziel.
Im März 1981 konnte dann das erste der schwulen Projekte Wirklichkeit werden. Das Berliner Kommunikations- und Beratungszentrum homosexueller Frauen und Männer bezog am 9. März eine halbe Etage
in der Hollmannstraße 19 (später Kulmer Str. 20a). Das Tagungshaus Waldschlösschen in Gleichen-Reinhausen bei Göttingen öffnete im April 1981 seine Pforten. Als drittes Projekt im Bunde folgte
dann im Dezember 1982 das Bremer „Rat und Tat Zentrum für Homosexuelle“ (http://www.ratundtat-bremen.de), an dessen Aufbau ich wesentlich beteiligt war und dessen Arbeit ich als Vorsitzender von 1983 bis 1990 entscheidend mit
geprägt habe. So haben wir beispielsweise im Sommer 1989 als erste schwule Gruppe mit einem überlebenden rosa Winkel Häftling im Bus das Konzentrationslager Auschwitz besucht und dort bei
Recherchen Fotos von ermoderten schwulen Häftlingen und andere Schriftdokumente gesichert. Beispiellos ist auch das Engagement gegen AIDS gewesen. Die Arbeit ist bis heute im Schwulenzentrum
angesiedelt, da die Schwulen in Europa nach wie vor zur Hauptbetroffenengruppe zählen.
Nun, im Rückblick betrachte ich die Schwulenbewegung aus anderer Perspektive. Aus dem Traum, sich in einem schwulen Projekt mit anderen Männern selbst zu verwirklichen, ist nicht viel geblieben.
In das heutige Rat und Tat Zentrum zieht mich nichts mehr, zu konservativ und spießig-bürgerlich sind dort die meisten seiner Besucher.
Ähnlich ist es mir mit den GRÜNEN gegangen: Im Sommer 2004 bin ich nach der HARTZ IV-Gesetzgebung unter Protest ausgetreten. In meiner Austrittsbegründung hieß es u.a.: „Das gesamte Gesetzeswerk
reduziert das Problem der Arbeitslosigkeit auf ein Vermittlungsproblem. Da nicht alle Arbeitslose zu vermitteln sein werden, wird man eine große Anzahl in prekäre, quasi unbezahlte
Beschäftigungsverhältnisse pressen oder, falls nicht gefügig, mit Geldsperren überziehen. Langzeitarbeitslose werden keine Chance mehr haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die noch
Beschäftigten können in dieser Situation leicht unter Druck gesetzt werden: Die Folge werden Gehaltsdumping und Mehrarbeit sein.“
Leider trifft diese Prognose.
Bei meinem jetzigen Arbeitgeber, einer Hamburger Bildungseinrichtung, leben wir seit 2008 mit einem Notlagentarif und 7,85%iger Gehaltskürzung. Unter den Jugendlichen, die wir betreuen und
ausbilden, steigt der Anteil der jugendlichen Obdachlosen unaufhaltsam! In einer internen Erhebung zu einem Antrag für ein Wohnprojekt haben wir im Januar 2011 über alle Beschäftigungs- und
Ausbildungsprojekte verteilt einen Anteil von 4 Prozent verdeckter bzw. offener Obdachlosigkeit unter den Jugendlichen ermittelt (insgesamt 93 von 2148 Jugendlichen).
War dein politisches Engagement auch mit deiner Erfahrung begründet, dass bei vielen Schwulen auch antisemitische/ausländerfeindliche Verhaltensweisen festzumachen sind?
Ganz gewiss. Diese Erfahrung betrifft alle Gruppen von Menschen. Alle können Opfer wie Täter sein. Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass die Lebenserfahrung, selbst zu einer Minderheit zu
gehören, noch lange kein politisches Bewusstsein dafür schafft, für die eigenen Rechte und die anderer Menschen einzutreten. Um hier konsequent auf der Seite der Entrechteten, der Verfolgten und
Unterdrückten zu stehen, muss man/frau sein/ihr eigenes Gehirn einschalten. Ohne Bildung und Nachdenken geht es nicht!
Ein Beispiel für das besonders widersprüchliche Denken und Handeln mag das der homosexuellen Nazis sein. Bedeutendstes Beispiel: Michael Kühnen etwa, der bis zu seinem Aids-Tod 1991 einer der
bekanntesten und wichtigsten Exponenten des militanten Rechtsextremismus und Sprecher der Organisationsleitung der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA)“ war. Kühnen
hat 1989 eine Schrift unter dem Namen „Homosexualität und Nationalsozialismus“ publiziert, in der er versucht, den ideologischen Graben zwischen homosexuellem Lebensstil und
nationalsozialistischer Ideologie zu überbrücken. Da scheitert dann die Realität an der Ideologie, wenn es so sein muss:
Kühnen behauptet, im Parteiprogramm der NSDAP stehe nichts von einer Pflicht zur Heterosexualität, was er gleichsam als Beleg einer Zugewandtheit zur Homosexualität umdeutet. Hitler habe sich
anfangs – so Kühnen weiter - vor den schwulen SA-Führer Ernst Röhm gestellt. Erst mit dem Röhm-Putsch 1934 begannen die Nationalsozialisten, Homosexualität zu diskriminieren, ein „Einbruch der
art- und naturfremden jüdisch-christlichen Moralauffassungen“. Der Zusammenbruch von 1945 beweise, „dass heterosexuelle Beziehungen einen Männerbund kaum innerlich festigen können“ (Kühnen,
Michael: Homosexualität und Nationalsozialismus, hg. v. Michel Caignet im Eigendruck, Paris 1986).
Doch auch heute sind rechtsextreme Gesinnungen unter homosexuellen Männern keine Seltenheit, wie viele Rechtsextreme in Gay-Newsgroups bezeugen. Ich habe mich dann daran erinnert, wie ich das
erste Mal von der Existenz einer schwulen Nazigruppe, einer Gay-Nazi-Newsgroup im Internet, erfahren habe. Es handelte sich um eine Yahoo-Newsgroup, die versucht hatte, einen Link von meinem
Gästebuch zu Ihrer Seite zu platzieren. Nach Recherchen bei Yahoo bin ich 2003 auf eine Vielzahl dieser Gruppen gestoßen. Die Gruppe „gaySSbroSS“ beispielsweise konnte mehr als 700 Mitglieder
aufweisen – ein Umfang, der mich schon erstaunt hat.
2009 habe ich bei der Vorbereitung einer Diskussionsveranstaltung erneut bei Yahoo recherchiert und bin innerhalb weniger Minuten wieder fündig geworden. Die einschlägigste Gruppe firmiert unter
dem Namen: „Gay Neo Nazi Skinheads proud88“ mit 204 Mitgliedern, „Ordnung und Tod“ mit 53 Mitgliedern und an Absurdität nicht mehr zu übertreffen: „SiegSchwul“, eine Gruppe, die seit 2003 mit
einem regenbogenfarbenen Hakenkreuz für diese „straight hater group for gays“ wirbt.
Anmerkung: Eine Doku über Homosexualität in der extremen Rechten auf youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=jgs3MCl2E4k
Warum fühlst du dich in der Punk-Szene wohler als im Schwulen-Milieu? Ist Intoleranz nicht in beiden Milieus ein Problem? Was bietet dir die eine Szene, was die andere nicht
hat?
Als junger Mann habe ich gedacht, nur in der schwulen Szene leben zu können. Das hat sich grundlegend geändert. Ein 1991 von unsrer damaligen Forschungsgruppe an der Universität Bremen
interviewte Mann beschreibt die Situation in der schwulen Subkultur für mich als nach wie vor besonders treffend und illustriert die Unattraktivität besonders anschaulich:
„Was ich nicht mag, ist dieses sich Produzieren in der Gruppe. Wer schreit jetzt am Lautesten, wer hat den lustigsten Witz, dieses Miss-Piggy-Haare-Schmeißen, dieses Benennen: Mausi und Schatzi,
Maria und Ursula und dieser ganzen Quatsch. Das ist Blödsinn, völliger Blödsinn. (…)
Die Typen stehen in den Kneipen immer gekonnt locker, also krampfhaft locker rum, will ich jetzt mal sagen. (…). Diese ganzen Radarblicke, die streifen durch den Raum wie so’n Strahl immer hin
und her die ganze Zeit. Jeder tastet den anderen ab und im Geiste sich gleichzeitig selbst. Wie wirke ich, wie komme ich an? Steht das jetzt auch richtig, sieht das nicht zu doof aus?
Du siehst die Anspannung in den Gesichtern, da ist kein Spaß. Das ist zum Heulen für mich, weil man sich da nicht mal locker lassen und mal Freizeit haben kann. Das ist halt ein Betrieb, das ist
ein Markt.“ (Universität Bremen, Schwullesbische Studien, Soziosexuelle Faktoren in der Epidemiologie von AIDS, Interview 65, 25.10.1991, Zeilen 3700 – 3737).
Ich denke, dass im Vergleich dazu die Punk-Szene kein vergleichbarer Sex-Markt darstellt. Womit ich natürlich nicht behaupte, Sex und Erotik spielen hier keine Rolle, aber eben keine dominante
und alles Handeln beherrschende Rolle. Das Miteinander ist hier – so meine Erfahrung – eher geprägt von der Solidarität untereinander. Das beginnt schon damit, dass ich in der Punk-Szene immer
Kontakt zu anderen Menschen finde und Gespräche mit anfangs ‚fremden’ Frauen und Männern führen kann. In der Schwulen-Szene habe ich nicht selten die Lokalität ohne jegliches Gespräch einsam
wieder verlassen.
Vielleicht kann die folgende Charakteristik den Unterschied markieren: Während sich Schwule aufgrund der gesellschaftlichen Definitionen vorwiegend homosexual verhalten (müssen), ist unter Punks
ein eher homosoziales Ausleben der eigenen Gefühle möglich.
Das zeigt sich beispielsweise am Pogen. Hier sind sich alle Beteiligten körperlich weit näher als in den durch Radarblicke auf Distanz gehaltenen Männern in den Schwulenkneipen. Vor allen Dingen:
Hier achten alle aufeinander, ziehen Leute nach einem Sturz von der Tanzfläche oder heben Leute beim Stagediving bzw. Crowdsurfing solidarisch über die Menge. Die Homosozialität, die sich u.a. im
Pogen unter Punks zeigt, übertrifft die unter Schwulen bei weitem. Deshalb fühle ich mich unter Punker/-innen wesentlich wohler.
Jörg, siehst du dich als schwuler Mann eigentlich mit der Meinung von Teilen der Gesellschaft konfrontiert, einer benachteiligten Gruppe anzugehören? Bist du nach deinem Ausstieg aus der
Parteiarbeit 2004 bemüht, die Situation der Schwulen oder deine individuelle Situation zu verbessern?
Es ist leider immer noch Tatsache, dass schwule Männer und lesbische Frauen rechtlich ungleich behandelt werden. Das ist für mich eine Benachteiligung. Ich bin ‚benachteiligt’, weil ich (noch)
keine Familie mit Kindern gründen kann, ich bin ‚benachteiligt’, weil ich weder in der Bundeswehr noch in der Kirche Karriere machen kann. Das alles ist mir natürlich nicht wichtig. Andere
rechtliche Ungleichbehandlungen allerdings treffen mich. Etwa die steuerliche Ungleichbehandlung, da ich die Aufwendungen für meinen Partner, den ich finanziell unterstütze, steuerlich nicht
geltend machen kann.
Heute sind neben der Teilnahme an Wahlen für mich viele Protestformen hilfreich, die Situation für Schwule und Lesben zu verbessern, etwa die Initiierung und Teilnahme von bzw. an Kampagnen bei
www.campact.de oder bei www.avaaz.org/de/. Bei letzterem handelt es sich um ein Internetportal, das 2010 gegen eine
Gesetzesvorlage, die homosexuelle Ugander mit dem Tod bedrohte, in kürzester Zeit 450.000 Unterschriften mobilisieren und mit zum Einfrieren dieser Gesetzesvorlage beitragen konnte. Die
Internet-Kampagnen stellen heute ein effektives Protestinstrument dar, das wir nicht unterschätzen sollten.
Da sich mein Aktionsradius von der Schwulenszene in die Punkszene verlagert hat, zielt die Verbesserung der Situation der Schwulen bzw. meiner eigenen Situation natürlich auf die Strukturen und
Einstellungen in der Punkszene selbst. So finde ich es zunächst selbstverständlich, dass meine Freunde und Freundinnen wissen, dass ich selber schwul bin. Spannend wird es dabei immer in den
konkreten Situationen, in denen das eigene Schwulsein eine Rolle spielt. So hat beispielsweise einer meiner Kumpel, als er bei mir einen Pennplatz erhielt, erwartet und zugleich befürchtet, von
mir in der Nacht sexuell bedrängt zu werden.
Das war einmal vor vielen, vielen Jahren so. Heute weiß jeder in der Bremer Punk-Szene, dass ich schwul bin und dass man trotzdem ganz problemlos bei mir pennen kann. Das liest sich dann bei
www.punkfoto.de so: „Ich glaub, das ist der Jörg Hutter aus Bremen. Weißte, der bei den Bremer Grünen mitgemischt hat, schwul ist und das öfter thematisiert hat und über seine HP auch Termine
veröffentlicht, die ihm bekannt sind …“ Latex.
Ich denke, dass sich nur über die eigene Sichtbarkeit die Situation der Schwulen in der Punkszene verbessern lässt. Das ist nicht nur deshalb wichtig, da dann für alle Seiten klar ist, wo sie
dran sind – ich erinnere mich gerade beim Schreiben an eine Szene im Sielwallhaus, wo aus Spaß drei Kumpel mit mir vor dem Tresen ihre Schwänze ausgepackt haben, weil sie einmal sehen wollten,
wie denn ein ‚schwuler Schwanz’ aussieht (und jetzt hätte ich fast den Faden verloren) –, sondern weil so erst jede/r andere Punkerin/Punk eine Chance erhält, ihre/seine eigenen (Vor)urteile über
schwule Männer kritisch zu hinterfragen und zu revidieren.
Das alles reicht natürlich nicht. Wünschenswert wäre etwa der Auftritt von schwul-lesbischen Bands mit schwul-lesbischer Thematik, Veranstaltungen zu schwul-lesbischen Themen etc., was viel zu
selten passiert. Grenzen für ein weitergehendes Engagement meinerseits setzen mir derzeit mein Beruf und das tägliche Pendeln von Bremen nach Hamburg und zurück.
Du hast auf deiner Homepage erwähnt, dass Punk für dich auch was mit Erotik zu tun hat. Was genau meinst du damit?
Ich werde öfters gefragt, warum ich eigentlich als schwuler Mann Punk bin. Das hat neben dem Faible für Punk-Mucke und der Szene auch etwas mit Erotik zu tun. Das Auftreten der Typen gefällt mir,
weil sie männlich wirken. Allen Klischees zum Trotz stehe ich als Schwuler nun mal auf Männer, und zwar auf solche, die männlich aussehen und sich männlich verhalten. Dabei zählt für mich
menschliche Nähe zu Männern genauso viel wie mannmännlicher Sex. Als Beleg für mein Faible mögen die auf meiner Homepage eingestellten Fotos von den Punkbands Strychnine, Restarts oder Inner
Terrestrials gelten. Ich vertrete hier einmal die These, dass sich viele Männer in der Punk-Szene durch für mich erotisch anregendes maskulines Aussehen und Verhalten auszeichnen.
Zudem hat bei mir Erotik auch etwas mit Kleidung zu tun. Männer in Schlips und Anzug rangieren auf meiner Erotikskala im starken Minusbereich. Ich mag hingegen Männer in abgewetzten Jeans und
Jacken. Kleidung hat für mich eine erotische und eine lebensstilspezifische Komponente. Ich finde sie zum einen sexuell anregend, zum anderen verrät sie etwas über die Lebenseinstellung meines
Gegenübers.
Insofern ist Punk bei mir auch mit Erotik besetzt.
Punk hat die Popkultur sexualisiert und zumindest in den Anfängen mit queerer Ästhetik "geschockt", die dann verloren ging und durch das toughe NJHC-Image abgelöst wurde. In diesem Zuge
gab es von den Bands wie AGNOSTIC FRONT, BAD BRAINS homophobe Texte und Aussagen. Ist Punk/HC in ein tradiertes Geschlechterrollen-Denken zurückgefallen, das von konservativen Werten geprägt
ist?
Die queere Ästhetik ist sicherlich u.a. von dem im April 2010 verstorbenen Manager der SEX PISTOLS Malcom McLaren mit geprägt worden, sowie von Bands wie The Vibrators, The Slits etc. Alles
Akteure der ersten Punk Generation. Parallel dazu haben Musikerinnen im Punk weibliche Klischees in der Gesellschaft aufgedeckt (The Slits, X-Ray Spex). Von wenigen Ausnahmen abgesehen bestand
jedoch bereits die zweite Generation aus reinen Männerbands. Aktive Musikerinnen finden sich hier kaum, manche Bands, wie die oben erwähnten Bad Brains waren extrem schwulenfeindlich.
Erst im Zuge der Riot Grrrl-Bewegung Anfang der 1990er-Jahre kehrten verstärkt feministische und schließlich auch queere Elemente in den Punk zurück. Hier zeigt sich, dass Schwulen- und
Frauenfeindschaft meist Hand in Hand gehen, sich wechselseitig bedingen, abschwächen oder verstärken. Heute hat sich die Punk-Szene weiter ausdifferenziert, somit kann das Zurückfallen auf ein
tradiertes Geschlechterrollen-Denken nur auf Teile der Szene zutreffen.
Ich bin überzeugt davon, dass das Zusammenstehen von feministischen und queeren Kräften Homophobie innerhalb der Punk-Szene zurückdrängen kann. Die Grrrl- und Queer-Bewegten müssen unbedingt
zusammenarbeiten!
Was meinst du sind die hauptsächlichen Gründe für Homophobie im Punk/HC?
Das ist die Kehrseite meines oben beschriebenen erotisch anregenden maskulinen Aussehens und Verhaltens. Wenn das eigene Männlichkeitsbild dabei mit einer patriarchalen, die Männlichkeit
dominierenden Rolle verknüpft wird, dann scheint eine solche Männerrolle durch den Schwulen - gerade wenn er auch noch weiblich auftritt - in Frage gestellt. Viele Männer reagieren wohl deshalb
aggressiv-ablehnend, weil sie ihre eigene Männerrolle in Frage gestellt sehen. Lesbische Frauen hingegen bedrohen das eigene Männerbild weniger. Es interessiert Männer nur selten, wenn Frauen
miteinander Sex haben.
Ich trage daher immer noch gerne das von Plastic Bomb vertriebene T-Shirt mit dem Motto „Love Hardcore – Hate Homophobia“.
Religion, traditionelle Erziehungsmethoden und ein rechtskonservatives Wertesystem im Punk/HC ist doch eigentlich das, wogegen sich Punk und besonders HC auflehnen muss, um eine
alternative Lebensform erst möglich zu machen. Siehst du eine tendenzielle Entwicklung in Richtung Wohlstandschauvinismus, eine zunehmend unkritische Haltung in Punk/HC?
Das Risiko einer Kommerzialisierung und Vereinnahmung als Modetrend ist prinzipiell immer gegeben. Es existieren jedoch auch gegenläufige Trends. Als Beispiel hierfür führe ich das Break The
Silence Festival an, das im Juli 2010 in Hämelhausen bei Eystrup, zwischen Bremen und Hannover gelegen, stattgefunden hat. Mit insgesamt 35 regionalen und internationalen Bands jeglicher Couleur
von Rock und HipHop über Punk bis zu Top Electro-Acts ist hier nicht nur versucht worden, ein musikalisch breiteres Spektrum auf die Bühnen zu bringen. Das gesamte Festival stand unter dem Motto
„Gemeinsam gegen Rassismus“. Es sollte friedlich und tolerant zusammen gefeiert werden und das war auch der Fall.
Neben den Bands traten verschiedenste Künstler auf, es gab Buchvorlesungen, ein Kinderprogramm für die kleinen Besucher und ihren Familien. Selbst Menschen mit Handicaps waren gerne gesehen.
Insgesamt war es ein Festival mit politischem Anspruch, dem die Veranstalter gerecht geworden sind.
Mein Resümee: Ich halte die Punkszene zwar nicht für absolut immun gegenüber Wohlstandschauvinismus und Kommerzialisierung, sie ist jedoch im Vergleich zu vielen anderen sozialen Bewegungen
gegenüber unkritischen Haltungen weit resistenter.
Derzeit gibt es in der Öffentlichkeit wieder viele prominente Stimmen, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung von Mann und Frau fordern und das Männliche als universal Menschliches
definieren. Schwule, Lesben, Transsexuelle etc. geraten wieder verstärkt in den Fokus von Anfeindungen, werden diskriminiert und angegriffen. Tote in Tel-Aviv, Angriffe auf Schwulen-Zentrum
Berlin, Angriffe auf offener Straße. Glaubst du, dass sich verstärkt homophobe Einstellungen in Gewalttaten manifestieren?
Ich denke, dass sich Homophobie weltweit sehr unterschiedlich auswirkt. Ich unterscheide zum einen zwischen staatlich verordneter Homosexuellenverfolgung und Angriffen, die von nichtstaatlichen
Personen verübt werden.
Bei nichtstaatlichen Repressionen gegen Lesben und Schwulen ist in der Regel von einem rechtsextremen Motivhintergrund auszugehen. Nicht jeder, der rechtsextrem denkt, ist automatisch
gewaltbereit und gewalttätig. Doch offenkundig ist, dass rechtsextrem eingestellte Personen seit Jahren für eine Vielzahl rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verantwortlich sind.
Die Dokumentation der Chronik der Gewalt – veröffentlicht auf der Webseite „MUT gegen rechte Gewalt“ der Amadeu Antonio Stiftung legt ein bedrückendes Zeugnis ab für diese menschenverachtende
Gewalt. Seit der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 bis Ende 2009 sind nach Recherchen der MUT-Redaktion und des Opferfonds CURA 149 Menschen durch die Folgen rechtsextremer Gewalt ums
Leben gekommen. Zudem bleiben viele Fälle in den offiziellen Statistiken unerwähnt (MUT-Redaktion, Chronik rechtsextremer und rassistischer Gewalt 2007 bis 2009; Quelle: http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/gewaltchronik-2007-8/).
Um die Gewaltbereitschaft vor dem Hintergrund rechtsextremer Gesinnung zu verstehen, lohnt es sich, die nationalsozialistische Ideologie des Dritten Reiches einmal genauer in den Blick zu nehmen.
Denn offenkundig sind die Feindgruppen von damals genau die gleichen von heute. Die damalige wie die heutige rechtsextreme Herrschaftsideologie war und ist geleitet von einer
gesellschaftspolitischen Utopie: Die Nationalsozialisten wie die Rechtsextremen von heute glaubten bzw. glauben, ein in sich völlig gleichförmiges Sozialgefüge schaffen zu können. Abweichungen
von dieser gesellschaftspolitischen Utopie definierten die unterschiedlichen Feindgruppen.
Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat herausgearbeitet, dass die Nähe bzw. die Ferne zum Machtzentrum der SS die Überlebenschance einer gesamten Häftlingskategorie in den Konzentrationslagern
bestimmte. Die Nähe bzw. Ferne zum Idealbild des ‚arischen’ Menschen lässt sich über zwei Achsen bestimmen: Der Abweichung hinsichtlich der Ethnie bzw. ‚Rasse’ und der Abweichung hinsichtlich
sozialer Lebensformen. Auf der ethnischen Achse läuft die zunehmende Distanz von den Nordeuropäern über die Westeuropäer zu den Südeuropäern, dann zu den Slawen, danach zu den Sinti und Roma und
zuletzt zu den Juden.
Auf der sozialstrukturellen Achse läuft die zunehmende Distanz von den Kriminellen über die Linken, den religiös Abweichenden (Zeugen Jehovas), den Asozialen (u.a. Lesben, Wohnungslose, Bettler),
den „Behinderten“ bis zu den homosexuellen Männern am Ende der Skala. Die größte Ferne zum nationalsozialistischen Machtzentrum wurde den Juden auf der ethnischen Achse und den homosexuellen
Männern auf der sozialstrukturellen Achse attestiert (Wolfgang Sofzky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager", Frankfurt/M. 1997).
Die heutige Gewaltbereitschaft der Rechtsextremen leitet sich aus dem oben skizzierten ideologischen Gedankengebäude der Nationalsozialisten ab. Die Nazis von heute stellen die gleiche
Feindgruppenhierarchie her. Je weiter sich ein Mensch im ethnischen Sinne oder aufgrund seiner Lebensweise von dem rechtsextremen Idealbild entfernt, desto eher gilt er als ‚lebensunwert’. Neben
Juden, Migranten und dunkelheutigen Deutschen sind nach diesem Denkschema Linke, Punks, Obdachlose sowie die Schwulen und Lesben Zielscheibe rechtsextremer Gewalt. Ihr Tod wird nicht nur
billigend in Kauf genommen, er ist das erklärte Ziel der meisten Angreifer/innen.
(Ein Abriss zum Thema „Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit: http://www.kulturring.org/forschung/rosa-winkel/geschichte_.htm)
Die staatlich verordnete Homosexuellenverfolgung wirkt ebenso verheerend, wie die bekannt gewordenen Hinrichtungen aus dem Iran bezeugen. Auffällig hierbei ist der starke Zusammenhang zwischen
staatlicher Homosexuellenfeindschaft und staatlicher Frauenunterdrückung. Beides lässt sich erneut weltweit und historisch als konstant beurteilen. Die Verfolgung der Frauen und Schwulen trägt
daher auch im Iran alle Züge eines religiös geprägten Faschismus, da die dortige Ideologie geprägt ist von der gesellschaftspolitischen Utopie einer gleichförmigen religiös geprägten
Gesellschaft.
Aufgrund dieser Tatsachen bitte an dieser Stelle um die Unterstützung der iranischen Schwulen- und Lesbenorganisation, die dringend Spenden oder Unterschriften braucht, um für verfolgte schwule
und lesbische Flüchtlinge einen von der UNCHR garantierten Flüchtlingsstatus zu erwirken (http://www.irqr.net/).
Spenden oder Unterschriften können direkt bestimmten Personen zugute kommen.
Homophobe Gewalt wird oft nicht als politisch motiviert ausgelegt und geahndet. Dabei ist es doch der Hauptgrund, dass der Angriff darauf schließen lässt, dass er sich gegen eine Person
aufgrund der sexuellen Orientierung richtet. Sollte die Polizei besser geschult werden?
Das gleiche trifft auch für Gewalt gegen Punks zu. Beispielsweise bei dem Überfall auf einen 19jährigen Punk auf dem Vorplatz der Stadthalle in Berga. Am 9. Februar 2008 wird dieser aufgrund
seiner Punk-Frisur und seines Äußeren deutlich als nicht-rechter Jugendlicher erkennbar von einer Gruppe Rechtsextremisten angegriffen. Die Gruppe umringt das Opfer und beleidigt ihn u.a. als
„Zecke“. Laut Augenzeugen erhält er mindestens einen massiven Schlag auf den Kopf, durch den er zu Boden stürzt. Als Zeugen eingreifen und Rettungskräfte alarmieren, verlassen die Nazis den
Vorplatz der Stadthalle. Die Rettungskräfte fliegen das Opfer mit einem Rettungshubschrauber in eine Klinik, da es eine lebensgefährliche Hirnblutung erlitten hat. Der Punk liegt mehrere Wochen
im Koma und wird ein halbes Jahr in Reha-Kliniken behandelt. Er hat bleibende körperliche Schäden davon getragen und seine Lehrstelle verloren, da er aufgrund der körperlichen Einschränkungen
seinen Ausbildungsberuf nicht mehr ausüben kann.
Die Strafverfolgungsbehörden verschwiegen der Öffentlichkeit zunächst, dass es sich bei dem Angriff auf den Punk um eine rechtsextrem motivierte Gewalttat handelt. Die Staatsanwaltschaft zeigt
ein knappes Jahr lang kein Interesse an der Strafverfolgung der namentlich bekannten mutmaßlichen Täter. Erst als das Fernsehmagazin Kontraste Anfang 2009 für einen Bericht über den Fall
recherchiert, ändern die Strafverfolgungsbehörden ihr Vorgehen. Sie erheben Anklage wegen schwerer Körperverletzung gegen den inzwischen 19jährigen Oliver L. und gleichaltrigen Marius M. Eine
Zeugin im Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Angreifer erhält Todesdrohungen. Die Polizei hatte der Zeugin vor ihrer Aussage Anonymität zugesichert, diese Zusicherung aber nicht eingehalten
(MUT gegen rechte Gewalt, Mit massivem Schlag beinahe getötet, 25.07.2009; http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/punk-beinahe-erschlagen-prozess-in-gera/).
Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung hat für Verbrechen, die allein aufgrund der Tatsache verübt werden, dass die Opfer anders sind, den Namen „Hate Crimes“ kreiert, deutsch „Hassverbrechen“
(Gregory M. Herek und Kevin T. Berill, Hate Crimes – Confronting Violence against Lesbians and Gay Man, Sage Publications, London/New Delhi 1992).
Menschen werden bedroht, verletzt und umgebracht, weil sie anders sind – hinsichtlich ihrer Ethnie und/oder hinsichtlich ihrer Lebensweise. Dieses Motiv kommt wahrlich einem niedrigen Beweggrund
gleich. Insofern ist man als schwuler Punk gleich doppelt betroffen und gefährdet.
Aus alledem folgt, dass es bei den deutschen Strafverfolgungsbehörden (Polizei und Justiz) ein großes Defizit beim Erkennen und Verfolgen rechtsextrem begründeter Hassverbrechen gibt. Bessere
Schulungen und eine bessere Ausbildung wären unabdingbar.
Angriffe werden aber auch nicht oft angezeigt, aus Angst vor einer Bagatellisierung und dem schlechten Image der Polizei unter Homosexuellen. Rätst du grundsätzlich zu einer
Anzeige?
Ich rate Schwulen wie Punks grundsätzlich dazu, Anzeigen nur über einen Anwalt bzw. eine Anwältin zu erstatten. Gerade weil davon auszugehen ist, dass es bei der Polizei an der nötigen
Sensibilität mangelt, die Schwere rechter Gewalttaten zu erkennen, sollte man sich als Opfer nicht einer weiteren eventuell entwürdigen Behandlung bei der Anzeigenerstattung unterziehen. Es
existiert eine Vielzahl von engagierten Anwälten, die dies für ein geringes Honorar übernehmen.
Im Übrigen zählt auch hier: Niemals sollte jemand ein solches Verbrechen alleine verarbeiten. Es ist immer wichtig, Freunde mit einzubeziehen, institutionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen sowie
Öffentlichkeit herzustellen, auf welchen Wegen auch immer. Denn nichts scheuen Rechte sowie die Polizei mehr, als eine schlechte Presse über ihr (unterlassenes) Handeln.
In der Punk- sowie in der Schwulenszene wären hierzu noch die nötigen Strukturen für ein effizientes Hilfesystem aufzubauen (ärztliche Hilfe, Rechtshilfe, psychologische Hilfe,
Öffentlichkeitsarbeit, Spenden für Anwalts- und Gerichtskosten etc.).
Ganze 42 Gewaltdelikte sollen von 2001 bis 2008 aus homophoben Motiven verübt worden sein – bundesweit! Diese Zahl gab die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen an.
Ist das für dich ein bewusst verzerrtes Abbild der Situation im Land? Mangelt es im offiziellen Umgang mit homophober Gewalt an kritischen Hinterfragungen?
Es mangelt generell an einem verantwortlichen offiziellen Umgang mit Hassverbrechen, egal, gegen wen sie sich gerade gerichtet haben mögen. Es ist meiner Meinung nach nicht akzeptabel, wenn
Strafverfolgungsbehörden die rechtsextremen Motive der Täter/-innen ausblenden und meinen, ‚nur’ wegen schwerer Körperverletzung oder Totschlag anklagen zu können. Denn wenn die Vernichtung des
vermeintlich ‚unwerten Lebens’ das Ziel rechtsextremer Überfälle ist, dann sind die Taten als Mord bzw. Mordversuch zu werten. Das trifft auf Schwule wie Punks genauso zu wie auf Juden oder
dunkelhäutige Migranten.
Schleppende und mangelhafte Strafverfolgung werten die extremen Rechten hingegen als Freibrief für weitere Gewalt. Der Appell an die Zivilcourage der Bürger/-innen, bei rechtsextremer Gewalt
nicht wegzusehen, muss ungehört verhallen, solange Polizei und Justiz nicht konsequent durchgreifen. Wenn wir daher als Schwule wie als Punks nicht nur als schutzlose Opfer gelten wollen, müssen
wir – und da gehe ich ganz bewusst auf Distanz zu vielen Linken - Öffentlichkeit herstellen und die staatlichen Behörden über diesen Hebel zwingen, gegen Rechtsextreme vorzugehen. Alle Formen der
Selbstjustiz können nicht gelingen: wegen des ungleichen Kräfteverhältnisses gegenüber der Polizei, aber auch wegen der dann fehlenden Solidarisierung der Bevölkerung.
„Als Schwuler musst du immer 150 Prozent geben, um Anerkennung zu finden“. Geht dir das genauso?
Das geht wahrscheinlich vielen so, die einer Minderheit angehören und denken, dieses ‚Manko’ durch Mehrleistung ausgleichen zu müssen. Ich habe mit meinen jetzt 52 Jahren die Erfahrung gemacht,
dass dieser Aspekt in den auf Leistung bedachten Arbeitsverhältnissen sowie in den auf Vertrauen aufbauenden Freundschaften keine Rolle spielt. Vielleicht ist dieses Kriterium ja ein geeigneter
Test, sich von denjenigen Arbeitgebern und Freunden zu trennen, die das von einem tatsächlich verlangen.
Christival 2008 in Bremen. Du hast dich mit dem Motto Religion ist heilbar gegen die christlich-missionarischen Botschaften stark gemacht. Wie konkret hast du das Festival stören können
und hast du dich an das geforderte "Ins-Gespräch-Kommen" des Organisators beteiligt?
Ich selber habe mich nur an der Protestkundgebung am Domshof beteiligen können, mein Partner hat u.a. am Kiss-In in der Gemeinde St. Martini teilgenommen und durch diese Aktion die Messe
gesprengt. Beim Anblick von küssenden und liebkosenden Menschen brach in der Kirche Tumult aus, der Christival-Pastor Ulrich Parzany ist aus dem Gotteshaus geflüchtet. Gleichwohl hat die
Gemeinde die Polizei gerufen, die mehrere Teilnehmer/-innen am Markt dann verhaftet hat. Die juristische Auseinandersetzung zu diesem Vorfall ist fast drei Jahre später noch immer nicht
abgeschlossen.
Ich habe nichts gegen das Bedürfnis von Menschen, ihre Religion zu leben. Das Vorhaben der Christival-Organisatoren zielte jedoch in eine ganz andere Richtung.
Die Veranstalter haben mit Bühnen und Musik die gesamte Bremer Innenstadt in Beschlag genommen, um ihre religiöse Botschaft an die Passanten zu bringen, etwa durch gezieltes Ansprechen der
Bevölkerung im Supermarkt oder auf der Straße. Ihren missionarischen Eifer haben sie zudem mit die menschliche Würde verletzender Moral versetzt (Ausgrenzende Einstellungen zur Homosexualität und
Abtreibung).
Eine solche Haltung ist in jeder Hinsicht anmaßend und respektlos gegenüber anders denkenden und anders lebenden Menschen. Dass sie Protest hervorruft, ist sehr verständlich und nur zu begrüßen.
Dass die Christival-Organisatoren diesen Protest durch polizeiliche Gewalt unterdrücken ließen, zeugt davon, dass sie den kritischen Dialog meiden, weil sie andere Meinung und andere Lebensstile
nicht ertragen können.
Ähnlich ist es übrigens ein Jahr später beim Evangelischen Kirchtag gewesen. Im Prinzip haben alle Religionen etwas gemeinsam. Sie können unterschiedliche Lebensweisen und Lebenseinstellungen
nicht ertragen, weil gesellschaftliche Vielfalt den eigenen Glauben immer wieder in Frage stellt und brüchig erscheinen lässt. Und weil gesellschaftliche Vielfalt die eigenen Machtambitionen
durchkreuzt! Ich kann nur die Lektüre von Karl-Heinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums empfehlen (http://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalgeschichte_des_Christentums). Deschner zeigt
äußerst detailreich auf, dass es sich bei den christlichen Kirchen um das größte Verbrechersyndikat aller Zeiten handelt, deren Weg zur staatlichen Macht und an der staatlichen Macht mit Blut nur
so besudelt ist.
Können präventive Arbeiten an Schulen Vorurteile gegen Schwule abbauen? Welche Maßnahmen müssen sonst noch initiiert und gelebt werden?
Schulen sind nun einmal der Ort, an dem alle Kinder nicht nur Wissen vermittelt bekommen, sondern zu selbständigen, frei denkenden Menschen erzogen werden sollten. Das macht sich nicht nur am
Thema Sexualität fest, sondern an vielen anderen gesellschaftlichen Themen, etwa Fragen nach der Gestaltung des eigenen Lebens, Fragen zu den eigenen beruflichen Zukunftsvisionen etc. Die
entscheidende Grundhaltung bei allen diesen Themen ist: Wird in Kategorien von normgerechten und dem gegenüberstehend sozial abweichenden Lebensstilen gedacht oder verdienen alle Lebensentwürfe
in ihrer ganzen Vielfalt die gleiche Achtung und Anerkennung. Auch beim Thema Schule zeigt sich, dass hier noch viel zu tun bleibt: bei der Ausbildung der Lehrer/innen, bei der Umgestaltung des
gesamten Schulsystems hin zu „Schulen für alle“ (Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in der Schule antun, München 2010, S. 342), bei den schulischen Curricula sowie bei der späteren
Fortbildung des Lehrpersonals.
Meine Zukunftsvision sieht so aus: Es spielt keine Rolle, ob jemand schwul, lesbisch oder straight ist. Genauso wenig interessiert es, ob sich jemand als Hardcore Punk, Gothic, Hip Hoper,
Metaller oder etwas anderes versteht. Egal ist auch, ob sich eine junge Frau zur Industriemechanikerin oder Mechatronikerin ausbildet. Alle Lebensentwürfe und Lebensstile verdienen den gleichen
Respekt, wenn sie die Freiheit der anderen Menschen achten und keinem Menschen das eigene Modell vom Glücklichsein aufzwingen.
Ein gutes Schlusswort, Jörg. Auf seiner Homepage gibt es weitere Infos und Hintergrundinformationen:
http://www.joerg-hutter.de/