Das Attentat
Dauvillier & Chapron
160 Seiten, farbig; € (D) 18,90
ISBN 978-3-551-78250-2
www.carlsen.de
Zum Inhalt: Der Nahostkonflikt, gespiegelt in der Geschichte eines palästinensischen Ehepaares in Israel: Amin Jaafari, Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, ist
Chirurg an einem Krankenhaus in Tel Aviv.
Eines Tages geht eine Bombe in der Nähe des Krankenhauses hoch. Während Jaafari in der Notaufnahme die Verletzten versorgt, erfährt er, dass auch seine Frau Sihem zu den Opfern zählt. Jedoch als Attentäterin. Quälend breiten sich Fragen in ihm aus, auf die er keine Antworten mehr weiß: Wer war Sihem? War das jahrelange Eheglück eine Täuschung? Ihr gemeinsames Leben nur ein Trug? Verzweifelt begibt sich Jaafari auf die Suche, Sihems geheimes Leben zu ergründen und reist dazu nach Bethlehem und Dschenin, den Zentren des palästinensischen Widerstands.
Er will die Verantwortlichen finden, die seine Frau zu einer Selbstmordattentäterin gemacht haben und gerät dabei immer tiefer in die Spirale aus Gewalt, Hass und Terror –
seitens der Palästinenser wie der Israelis. Zwar gelingt es ihm, in die innersten Kommandokreise der Hamas vorzudringen, das Rätsel um Sihems Tat vermag er jedoch nicht zu
lösen.
Gesamteindruck: "Wie bewältigt mensch eine Katastrophe?" lautet die Kernfrage, die sich nicht nur Hauptfigur Amin Jaafari, der Comiczeichner Dauvillier, sondern auch
stellvertretend für beide die LeserInnen stellen. Loïc Dauvillier schickt uns in seiner Adaption des Romans "Die Attentäterin" von Yasmina Khadra auf eine Odyssee, eine Spurensuche nach dem
Beweggrund für ein Selbstmordattentat. Des Weiteren greift Dauvillier aber auch andere Fragen auf, die im weitesten Sinne den Nah-Ost-Konflikt thematisieren, im Einzelnen aber die Dramen
offenbaren, die sich aus religiösem Fanatismus, politische und kriegerische Handlungen, Gewalt und Gegengewalt ergeben und die Diskrepanz zwischen qualvollem Leid einerseits und Wiedererlangen
von Würde und Ehre andererseits offenbart. Dauvillier versucht Antworten zu geben und lässt die Hauptfigur jenen Weg gehen, den die Ehefrau auf sich genommen hat, lässt ihn auch körperlich
spüren, was nötig ist, um den Hass zu begreifen. Was zunächst überwiegt ist der Zorn, "der sich selbst genügt". Zorn als Rechtfertigung, aber auch als Teil der (Trauer)Phasen, die jemand
durchlebt, wer einen geliebten Menschen verliert. Verdrängen, Verleugnen der Tatsache, Zweifel/Schuldfrage, Zynismus, Selbsttaufgabe, Akzeptanz und Neuanfang. Bei der Spurensuche geht es weder
Amin Jaafari, noch Dauvillier/Yasmina Khadra darum, "Rache zu verüben", sondern darum, zu begreifen, was Menschen zu SelbstmordattentäterIn werden lässt, was sich dadurch für die Familien der
TäterInnen verändert und wie die Gesellschaft reagiert. Neben der Trauer kommt es zu gesellschaftlichen, offenen Anfeindungen, Ausgrenzungen, Diffamierungen, Stigmatisierungen und
Gewalttaten. Denn irgendjemand muss Schuld haben, irgendjemand muss die Rechnung zahlen. Ist der Zorn gewichen, folgen viele Fragen, die in vielen Schlüsselszenen beantwortet werden. Es geht um
ein lohnenswertes kämpferisches Ziel, das Vaterland und die Würde wieder zu erlangen und um die Ehre und Pflicht, dafür zu kämpfen und zu sterben. Das sind bekannte Floskeln, die in der hier
präsentierten Odyssee und Spurensuche veranschaulicht werden und den LeserInnen erklärt, was Islamisten und Fundamentalisten sind und sie antreibt. Dennoch ist es gerade der Prozess, den Jaafari
durchmacht, um an die Wahrheit(en) zu gelangen, die er nicht beeinflussen oder mitgestalten kann. Das sensible Herantasten und die schonungslos ehrliche Selbstdarstellung von Gewalt und ihre
Rechtfertigung, diese zu begreifen macht diese Graphic Novel so authentisch und wirklichkeitsnah. Es ist Krieg und "entweder du kämpfst für Ehre und Vaterland oder bleibst in deinem Viertel".
Aussagen wie diese gibt es zuhauf. Letztendlich greift Dauvillier auf, was Menschen laut denken und verknüpft diese Aussagen in extreme Situationen, in denen Jaafari/LeserIn eindringt und zu
spüren bekommt, was es bedeutet, sich freiwillig für den Tod zu entscheiden, die ihn und auch die LeserIn an den Rand der Selbstaufgabe bringt, wo alles egal ist. Und wenn dann wieder kurzzeitig
Hoffnung aufkeimt und Frieden einkehrt, ist es erneut die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die Handlungen von Aktion und Reaktion und das sinnlose Töten, die diese erstrebenswerte Ziele
zunichte machen. Und so endet die Graphic Novel wie es begonnen hat. Mit einem Attentat und der bewussten In-Kaufnahme, Menschenleben zu zerstören. Und hierfür kann es keinerlei Rechtfertigung
geben. Dauvillier versucht den Märtyrertod oder die Vergeltungsmaßnahme in den Kontext mit Selbstachtung und Demütigung zu stellen. Das führt uns auf erschreckende Art und Weise vor Augen, dass
jegliche Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz stirbt, so lange Gewalt(taten) legitimiert wird durch Hass, Zorn und Vergeltung und somit das Ziel des eigentlichen Handelns, die Versöhnung, der
dauerhafte Frieden im Nah-Ost-Konflikt unerreichbar scheint. Erschreckend aber auch, dass in dieser Graphic Novel bewusst kein Wort des Bedauerns im Umgang mit dem Tod gefällt wird, sondern
Gewalt als überzeugendes, verherrlichendes und notwendiges Mittel veranschaulicht wird, was jegliche Art und Verständnis von Trauer verbietet. Was ist ein Menschenleben wert?