Noch ein Versuch. Noch ein Versuch, seine kraftlosen Beine zum schwer tragbaren Sein in Bewegung zu bringen, einen Fuß vor
den anderen zu stellen, sich in einer unsichtbaren schmerzenden Hülle, qualvoll und dennoch empfindungslos gegenüber einem Weiterleben, zur Therapeutin zu schleppen, die wie Sternenhaufen
explodierenden suizidalen Impulsketten im inneren Gepäck noch atmend schlagen zu wollen.
„Ach, und Sie rufen aus der Spielothek zuhause an und ihre Frau reicht ihnen dann auch noch das gemeinsame Sparschwein und zwei alkoholfreie Bier aus der Tür? Das ist pervers!“
„Nichts hilft mehr, es ist egal an welchem Ort ich mich bewege, ob in der Klinik, zuhause oder sonstwo, die innere Empfindungsgreul ist unerträglich.
Ich habe keine Kraft mehr und mir ist, als wenn sich ein psychischer Tod einstellt. Ob ich mich hinlege oder auch nicht, ob ich schreibe oder gar nichts tue, es stellt sich einfach nicht ab, ob
ich rausgehe oder wieder nach Hause komme, dort ist es dann auch unerträglich in meinen inneren Empfindungen, das halte ich nicht aus, ich habe keine Kraft mehr und…“
„Und dann gehen Sie spielen, wenn sie es nicht aushalten mit sich, dann gehen Sie spielen!“, unterbrach die Therapeutin entrüstet den in sich zusammengesackten Mann.
„Nein. Das war doch bloß jetzt mal und hilft doch auch nicht mehr. Ich war doch ein ganzes Jahr nicht spielen, habe doch Tag und Nacht mit aller Kraft versucht, die grausamen Zustände zu ertragen
und auszuhalten, oftmals in der Klinik und auch zuhause ganz allein, mit der Frau, hab doch so vieles versucht und gekämpft, und wenn meine Operationsnaht abgeheilt ist, dann werde ich die
Elektrokampfbehandlung…“
„Eine Elektrokrampftherapie wird bei Ihnen nichts bringen.“
Dem Mann verschlug es die Sprache und sein Zusammengesacktsein fiel in ein Zusammenfallen.
„Sie suchen Erlösung. Die gibt es aber nicht.“
Das war pervers! Nicht, dass seine Frau ihm vor ein paar Tagen in seiner Greul und seinem kraftlosen Zustand das Sparschwein rausgereicht hatte, sondern dass die Therapeutin ihm die letzte
Hoffnung zerschlug, seine einzige, die ihn in letzter Kraft aushaltend durch die Tage trug.
Er konnte nichts mehr sagen.
Hatte sie in der Woche zuvor nicht selber noch gesagt, „…da hat Ihnen der Anästhesist aber Mut gemacht“, als er ihr erzählte, dass der Narkosearzt ihm sagte, dass eine Elektrokrampfbehandlung
sehr vielen Menschen schon geholfen hat, er in Schweden dabei war und Depressiven die Narkose zur Elektrokrampfbehandlung gesetzt hatte, gesehen hatte, wie es Patienten nachher ging.
Als die Therapeutin die Tränen des Mannes ablaufen sah, hörte er sie wieder: „Sie sind sehr traurig, hab ich recht?“
„Traurig sein ist nicht so schlimm“, fand der Mann seine Stimme wieder.
„Doch, so doll traurig zu sein, ist schon schlimm“, hörte er sie, doch er antwortete mit letzter Kraft ganz ruhig: „Traurig sein ist nicht schlimm. Schlimm sind die grausamen Empfindungsstörungen
in einem drin, die Qualen, die man in sich zu empfinden hat.“
Als der Mann irgendwann mühsam aus dem Stuhl hoch kam und ihre Hand zum Abschied sah, fragte er doch noch: „Warum sagen Sie, dass eine Elektrokrampfbehandlung bei mir nichts bringt?“
„Das habe ich nie gesagt, das haben Sie missverstanden!“, gab sie ihm empört zur Antwort.
„Doch, genau das haben Sie vorhin zu mir gesagt.“
„Das habe ich so nicht gesagt!“
„Doch, vorhin, als ich nur noch lange schweigen konnte, vorhin, gerade eben.“
„Nie habe ich das so gesagt! Da haben Sie mich missverstanden!“
„Warum sagen alle, dass ich alles missverstehe, Sie haben das vorhin genau so zu mir gesagt. Das weiß ich doch noch.“
„Das kann ich gar nicht gesagt haben. Das kann ich gar nicht sagen. Es mag ja sein, dass das bei ein paar Leuten hilft. Alles Gute, auf Wiedersehn.“
Eiskalter Oktobernieselregen vor der Tür. Der Mann würgte. Warum hatte sie ihn vorhin gefragt: „…und wenn es Ihnen irgendwann besser gehen sollte, was machen Sie dann?“ Und als er in seiner
schweren Depression keine sofortige Antwort parat hatte, hatte sie gleich selbst die Antwort gegeben: „…nichts machen Sie dann. Nichts. Sie werden gar nichts machen. Machen zuhause alles so
weiter wie zuvor!“ Und er hatte sich erstmal nichts vorstellen können, hatte nur weinerlich gestammelt: „Mich entfernen irgendwie, mich auch mal von zuhause, von der Frau lösen, rausgehen
vielleicht, aber wohin denn in dieser Stadt…“. Er konnte einfach nichts sehen unter den ihn zuschweißenden Schlagummantelungen der Depression.
Im nasskalten Wind durcheisten ihn die Sätze der Therapeutin auf seine ängstlichen Fragen vor drei Wochen: „…und wenn es mir nach einer nächsten Behandlung, auch nach dem Krampfen, nicht besser
geht…“, hörte ihr energisches: „Stopp! Immer eins nach dem anderen. Erst lassen Sie sich ihren Bauch operieren, und dann kommt der nächste Schritt!“ Und warum wollte sie jetzt von ihm wissen, was
er tun oder verändern würde, wenn es ihm besser ginge? Hatte sie nicht selbst gesagt, ein Schritt nach dem andern? Ahnte sie nicht einmal, dass ein Depressiver sich nichts mehr vorstellen konnte?
Und warum hatte sie ihm die Hoffnung auf eine Linderung durch eine Elektrokrampftherapie zerschlagen? Warum sagte sie immer, sie bekäme keine Luft mehr? Weil der Depressionsdruck des Mannes im
Raume stand und sie erreichte? Warum hatte sie ein paar Wochen früher noch zu ihm gesagt: „Den Bauch operieren, nur damit Sie sich krampfen lassen können, das ist pervers!“ Warum war bei ihr
immer alles pervers? Warum bewertete sie immer gleich alles? Ihm fiel ein, was sie noch alles in seinen Zustandsschilderungen und Beziehungsalltagsabläufen als pervers empfunden hatte, obwohl der
Mann nichts schlimmes, nur normalste Alltagsdinge aus seiner Lebenswelt erzählt hatte. Der Mann stand in seiner inneren Greul und seiner Verwirrtheit starr im eiskalten Regen. Er wusste nicht
wohin, wusste auch nicht mehr, wo er sein Auto abgestellt hatte und auch nicht wo und wie er sein Auto jemals wiederfinden können sollte…
Am nächsten Tag versuchte der Mann erneut seine kraftlosen Beine, sich ihn im Unerträglichsein tragend fortbewegen zu lassen. Irgendwie, bloß irgendwie noch Vorwärtskommen, und er schaffte es auf
den Stuhl vorm Wartezimmer des Psychiaters.
Die Tür des Sprechzimmers ging auf, der Arzt trat raus: „Einen Moment noch. Ich hole nur ihre Akte.“
Und dann hatte der Arzt seine Akte unter dem Arm und sagte: „Kommen Sie rein, Herr Sorgenich.“
Der Mann schleppte sich von einem Stuhl auf den nächsten.
„Und, was gibt’s neues?“
„Meine Therapeutin sagt, Elektrokrampftherapie bringt bei mir nichts, dabei weiß sie doch, wie es mir geht, warum unterstützt sie mich nicht, zerschlägt mir meine letzte Hoffnung?“
„Herr Sorgenich, vergessen Sie das, es gibt Leute, die können ihre spontane Einstellung zu gewissen Dingen einfach nicht unterdrücken. Bei ihnen ist als letzte Option die Elektrokrampfbehandlung
angesagt. Der Plan steht, das ist mit dem Klinikchef schon abgesprochen. Zu meinen, alle psychischen Zustände und Nöte wären mit psychotherapeutischen Maßnahmen zu behandeln oder gar abzustellen
ist ein riesiger Irrtum, ist völliger Quatsch!“
„Aber sie weiß doch, wie es mir geht, ich schlepp mich doch immer mit letzter Kraft zu ihr hin, warum nimmt sie mir die letzte Hoffnung, ich bin doch in meinen entrückten und
Durcheinanderzuständen, in meiner Verfassung gar nicht mehr therapiefähig, warum nimmt sie mir die letzte Hoffnung auf etwas Erleichterung?“
„Hilft denn überhaupt nichts Kompensatorisches mehr? Ihre Therapeutin hat mir ja von Ihren Spielrückfällen berichtet. Und haben Sie viel verjuckt, ich meine, wenn Sie sich vorstellen, mal einen
schönen langen und ausgiebigen Spaziergang zu machen?“
„Siebenhundert“, sagte der Mann.
„Oh, Ah!“, hörte er den Arzt, als wenn ihm etwas weh tun würde.
„Ich hab mir ja auch schon mal an einem Morgen, gleich nach dem fürchterlichen und qualvollen Erwachen, vorgestellt, gleich morgens um sechs oder sieben loszulaufen, den ganzen Tag zu laufen, bis
meine Frau von der Arbeit kommt, hab’s auch mal versucht, geht nicht, und ich kann auch nicht den ganzen Tag vor den inneren Zuständen weglaufen, jeder Mensch möchte sich ja auch mal ausruhen, so
wie sie vielleicht nach der Arbeit, einfach mal zur Ruhe kommen, aber das geht einfach nicht mehr und die Störungen, die stellen sich auch beim Gehen nicht ab, ich kann ja auch kaum noch gehen,
die stellen sich einfach nicht ab, beim Einkaufen gehe ich unter, einfach überall, schaffe es immer noch gerade so, nicht zu schreien oder zusammenzusacken, und die Therapeutin fragt, was würde
dann passieren, und ich sage ihr, dann kommt die Polizei und der Notarzt, wenn ich in der Öffentlichkeit so auffällig und störend werde, und dann?, fragt sie mich, dann komm ich auf die
geschlossene in der Psychiatrie, und dann?, fragt sie weiter, und ich antworte ihr, dann werde ich handlungsunfähig gemacht, jedenfalls augenscheinlich für andere rein äußerlich, aber in mir
läuft der fieberhafte unerträgliche Zustand weiter, das kenne ich von Medikamenten, man kann sich nicht mehr rühren und in einem selbst ist die Hölle los, so wie jetzt, bloß dass man nicht mehr
aufspringen kann, nicht jammern und nicht schreien, die Zustände stellen sich einfach nicht ab, nicht mal beim Spielen wie früher zeitweise, obwohl das natürlich auch immer eine zusätzliche
Marter war, dieses spielen, aber da gab es in der Marter manchmal noch Hoffnungsschimmer und Impulse, aber jetzt spüre ich die grauenvollen Zustände und Auflösungsflutungen, diese
Depersonalisierungsgreul pausenlos, und ich würde mich so gerne mal hinlegen, geht aber auch nicht…“
„Es gibt Leute, die springen schon nach der ersten Sitzung einer Elektrokrampfbehandlung wieder quicklebendig durchs Leben, andere brauchen zwei oder drei Sitzungen.“
„Ich würde auch noch viel mehr nehmen, wenn ich schon nach einer ein wenig, nur ein bisschen Erleichterung spüren würde.“
„Sehen Sie, und deshalb machen wir das. Das wird bei Ihnen ganz viel bringen.“
„Und der Narkosearzt hat gesagt, dass manche Menschen danach auch wieder ihre Medikamente besser vertragen.“
„Na, sehen Sie… und wollen Sie zu der Therapeutin wieder hingehen?“, hörte der Mann den Arzt, und er antwortete: „Wenn es mir nach dem Krampfen irgendwann wirklich besser geht, brauche ich gar
keine Therapie mehr.“
„Na, das sehe ich aber anders, Ihnen hilft doch eine Therapie“, hörte verwundert der Mann.
Der Mann musste was essen. Irgendwie. Aus Vernunftsgründen. Und er investierte einen Euro auf dem Parkplatz vor der Mensa, schleppte sich durch den Regen die paar Meter in den Dönerimbiß.
Niemand beachtete ihn.
Der Mann kämpfte und schaffte es ein: „Hallo“ aus sich hervorzubringen.
„Hallo“, hörte er zweimal. Einmal weiblich und einmal irgendwie männlich.
„Einen Dönerteller bitte. Aber das Fleisch muss richtig heiß sein.“
„Ja“, sagte die irgendwie männlich klingende Stimme. Der Mann blickte auf und sah einen kleinen, zart wirkenden jungen Mann, sah aber kein glimmendes Feuer hinter dem Fleischspieß.
„Aber das Fleisch muss richtig heiß sein.“
„Fleisch ist immer richtig heiß.“
„Aber da ist doch gar kein Feuer hinterm Fleisch.“
„Da brennt alles“, sagte der ausländische junge Mann.
„Aber das Fleisch muss wirklich heiß sein.“
„Ja, kaltes Fleisch kann man nicht essen. Kaltes Fleisch, Döner schmeckt nicht.“
„Ja, schön heiß, kaltes Dönerfleisch ist scheiße“, sagte der Mann.
Der Mann setzte sich und wartete.
„Dankeschön“, entkam es ihm überrascht, als er den Teller nach kurzer Zeit vor sich sah.
Als er dann die ersten Fleischfetzen auf seine Gabel gespießt hatte und einen ersten Mund voll nahm, spürte und schmeckte er das kalte Fleisch.
„Das ist kalt, das Fleisch!“, rief er, so gut er noch in letzter Kraft rufen konnte in Richtung Tresen, sah auf und sah niemanden. Doch dann kam der junge Mann, und der Mann nahm einen Streifen
Fleisch vom Teller reichte ihn ihm: „Da, kannst selber schmecken, eiskalt.“
Und der Mann nahm den Streifen, riss ihn durch, schmiss ein Ende zurück auf den Teller des Mannes und steckte sich das andere Ende in den Mund, kaute und sagte: „Das wird immer gleich kalt. Das
ist so bei Dönerfleisch. Nach fünf Minuten ist das kalt.“
„Aber ich sitze doch noch gar keine fünf Minuten.“
„Reden sie nett zu mir! Reden sie nett zu mir, dann bin ich auch nett zu Ihnen!“, rief der Dönerverkäufer.
„Ja.“, sackte der Mann in sich zusammen und sagte leise: „Das ist aber ärgerlich.“
„Ja, das ist ärgerlich. Aber reden Sie nett zu mir, dann rede ich auch nett zu Ihnen!“
„Ja“, sagte der Mann.
„Ich mach ihnen das nochmal heiß. Aber Dönerfleisch ist nach fünf Minuten kalt.“
Der Mann hatte in Hamburg und in Berlin gelebt, nicht ein einziges Mal in diesen beiden Städten einen Dönerteller mit kaltem Fleisch erhalten. Hier in dieser Stadt immer, jedesmal.
„Dankeschön. Das ist nett“, sagte der Mann als sein Teller zurückgekommen vor ihm stand.
„Teller ist heiß“, hörte er noch.
Und als er die ersten aufgespießten Stückchen in den Mund schob waren sie kalt, doch es stimmte, der Tellerrand war tatsächlich heiß.
Der Mann schleppte sich zehn Meter rechts und dann links vor dem Dönerimbiß entlang, rauchte, schleppte sich in grausamer innerer Empfindung zum Auto, spürte unerträgliche Auflösungs- und
Angsflutungen durch seinen Organismus jagen, wollte schreien, doch er hatte Angst vor Polizei und Notarzt, glaubte noch ein klein bisschen an Erlösung nach einer Elektrokrampftherapie und spürte
durch alle Greul hindurch, dass, wenn die Elektrokrampfbehandlung ihm etwas Erleichterung verschaffen würde, sie ihn ja sogar wieder quicklebendig machen könnte, er dennoch nie wieder einen
Versuch starten würde, einen Dönerimbiß in dieser Stadt aufzusuchen. Aber vielleicht würde er dann doch noch einmal in seinem Leben nach Hamburg oder Berlin kommen.
© J. Landt