Gabriel Kuhn, geboren 1972 in Innsbruck, ist seit Ende der 1980er Jahre in der anarchistischen Bewegung aktiv. Nach dem Abschluss eines Philosophiestudiums und langjährigen Reisen lebt er heute als Autor und Übersetzer in Stockholm, wo er unter anderem die anarchistische Buchmesse mitorganisiert. Kuhn hat mehrere Bücher zum Anarchismus veröffentlicht, darunter Publikationen wie „Neuer Anarchismus“ in den USA, Seattle und die Folgen (Hg., 2008), „Vielfalt - Bewegung - Widerstand. Texte zum Anarchismus“ (2009) und „Von Jakarta bis Johannesburg: Anarchismus weltweit“ (Hg. gemeinsam mit Sebastian Kalicha, 2010). Neben anarchistischen Archiven sucht er gerne Sportplätze und Punkkonzerte auf.
Ich unterhielt mich mit Gabriel über die historische Anarcho-Bewegung und über die schwedische Gewerkschaftsarbeit der SAC.
«Um ökonomische Projekte zu entwickeln, die den Kapitalismus wirklich ein Stück weit unterminieren, anstatt ihm nur eine weitere ausbeutbare Nische hinzuzufügen, bedarf es ordentlicher Analysen dessen, wie Kapitalismus gegenwärtig funktioniert»
Gabriel, du beschäftigst dich u.a. mit der Idee einer herrschaftsfreien Welt und wirst bei Anarchistentreffen für Vorträge eingeladen. Was war das Schlüsselerlebnis, dich für
anarchistische Ideen zu interessieren?
An ein Schlüsselerlebnis kann ich mich nicht erinnern, aber ich begann im Gymnasium, mich für den Anarchismus zu interessieren. Ich nahm den Begriff zum ersten Mal wahr, als
ihn ein sehr konservativer Lehrer gebrauchte, der so etwas sagte wie: „Eigentlich wäre ich ja Anarchist, aber die Menschen sind der Anarchie nicht fähig.“ Das weckte meine Neugierde und ich
machte mich kundig. Vor allem von zwei Aspekten fühlte ich mich unmittelbar angesprochen: dem kompromisslosen Bekenntnis zu individueller Freiheit (ich hatte große disziplinäre Probleme in der
Schule und im Allgemeinen Schwierigkeiten mit Autoritäten) und die Vorstellungen von Gesellschaften ohne Bürokratie und aufwendigen Verwaltungsapparat (ich hatte auch sehr romantische
Vorstellungen vom Leben in indigenen Gesellschaften). Ich möchte hoffen, dass mein heutiges Verständnis des Anarchismus differenzierter ist, aber das Interesse begann so.
Du bist einerseits stark in den aktivistischen Kreisen verankert, andererseits forschst du und versuchst, mit deinen Büchern Hintergrundwissen zu liefern. Welche Herausforderungen suchst
du in diesem Zusammenhang?
Die zentrale Herausforderung liegt wohl darin, die beiden Tätigkeiten in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu bringen. Die folgende Beobachtung mag langweilig sein, ist
aber trotzdem wahr: ein Aktivismus ohne theoretisches Fundament stößt schnell an seine Grenzen, und eine Theorie ohne aktivistischen Bezug hat nichts mit gesellschaftlicher Veränderung zu
tun.
Persönlich habe ich viel Spaß daran, einfach nur Bücher zu lesen und Texte zu schreiben. Aber wenn jeder Praxisbezug fehlt, wird das irgendwann ausgesprochen unbefriedigend. Ein Sich-Einbringen
in kollektive Zusammenhänge ist für gesellschaftliche Veränderung schlicht notwendig, auch wenn es manchmal anstrengend sein mag. Außerdem wird die theoretische Arbeit natürlich besser, wenn man
von praktischen Erfahrungen zehren kann. Und schließlich hat der Aktivismus auch seine coolen Stunden: eine gelungene Aktion, ein gutes Projekt oder eine spannende Veranstaltung, die man
organisiert hat, motivieren immer. Wie gesagt, es geht um die richtige Balance.
Du interessierst dich auch für die historische Anarcho-Bewegung, also auch für die anarchistische Tradition. Wie wirken sich diese Konzepte auf dein Denken und Handeln aus?
Ich fürchte, ich muss hier die gleiche Antwort geben, die dir fast alle historisch interessierten Menschen geben werden: aus der Geschichte lässt sich lernen und historische
Beispiele können inspirieren. Auch trägt es zum besseren Verständnis gegenwärtiger Probleme bei, wenn du weißt, woher sie kommen. So lässt sich der heutige Anarchismus letztlich ohne ein Wissen
um die Spaltungen in der sozialistischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts oder um das Schicksal der historischen Arbeiterbewegung nicht verstehen; genauso wenig, wie ohne Beschäftigung mit
Punk oder der Öko- und Tierrechtsbewegung. Einerseits ist es natürlich egal, wenn ein solches Verständnis fehlt, weil AnarchistInnen trotzdem großartige Sachen machen können, aber es kann auch
wichtig sein, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu betrachten. Um das etwas zu konkretisieren: Du kannst natürlich immer ein Haus besetzen und wirst dabei ganz wichtige Erfahrungen
machen. Aber wenn du die Hausbesetzung in einen weiteren politischen Kontext stellen willst, ist es wichtig, sich auch mit Fragen wie den folgenden auseinanderzusetzen: Welche Wege sind frühere
Hausbesetzungen gegangen? Was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert? Was ist an Repression zu erwarten? Wie ist mit dieser umzugehen? Was gibt es im Moment an ähnlichen Projekten? Wie kann
man sich mit diesen vernetzen? Teilt man Ziele mit bestehenden sozialen Bewegungen? Wie kann man mit diesen in Verbindung treten? Und so weiter.
Wenn man sich mit diesen Themen beschäftigt, während man das ganze Praktische erledigt – das Finden eines geeigneten Hauses, das Einziehen, das Renovieren, das Aufbauen eines Kollektivs usw. –,
dann ergeben sich daraus auch andere politische Möglichkeiten. Noch einmal, das ist kein Muss. Spannend und aufregend wird das Abenteuer sowieso. Aber es lässt sich nicht verleugnen, dass mit
einem weiteren Blickfeld auch das politische Potenzial größer wird.
«Die DIY-Kultur ist also zweifelsohne eine ideale Ausbildungsstätte für das neoliberale Prekariat.»
Selbst moderne Unternehmen erkennen, dass durch eine hierarchielose Führung insbesondere junge MitarbeiterInnen sich mit freieren, ungezwungenen Strukturen mitunter besser leiten lassen.
Es scheint fast so, als hätte die Anarcho-Bewegung Einfluss auf kapitalistische Strukturmerkmale...
Ja, das ist offensichtlich. DIY-erprobte AktivistInnen sind eine Goldgrube für kapitalistische Unternehmen: kreativ, innovativ, selbständig, erprobt in kollektivem Arbeiten und
Experten in der optimalen Verwertung limitierter Ressourcen. Und für das Sich-Aneignen all dieser Fähigkeiten muss noch nicht einmal irgendwer bezahlen. Die DIY-Kultur ist also zweifelsohne eine
ideale Ausbildungsstätte für das neoliberale Prekariat. Dementsprechend wird es schonungslos die neuen Formen der Gratisarbeit geschickt: Praktika, Jobtrainings, Berufserfahrungswochen. Nach der
kostenlosen Ausbildung kommt also gleich die kostenlose Arbeit. Gerade im Medienbereich und der Serviceindustrie gibt es Unternehmen, die fast gänzlich auf solcher Arbeit aufbauen.
All das tut natürlich der Bedeutung des DIY – und damit verbundenen anarchistischen Prinzipien wie Selbstbestimmung und Solidarität – keinen Abbruch. Es zeigt aber, wie schwierig es ist, diese
wirklich antikapitalistisch wirken zu lassen. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus ist enorm, und die größte Schwäche des Marxismus war es vielleicht, dies unterschätzt zu haben. Wobei wir
hier bei einem weiteren Beispiel für die Notwendigkeit von Theorie sind: um ökonomische Projekte zu entwickeln, die den Kapitalismus wirklich ein Stück weit unterminieren, anstatt ihm nur eine
weitere ausbeutbare Nische hinzuzufügen, bedarf es ordentlicher Analysen dessen, wie Kapitalismus gegenwärtig funktioniert.
Heute lassen sich besonders in Neuen Sozialen Bewegungen anarchistische Prinzipien und Positionen erkennen. Selbst die sogenannte „Stuttgart 21“-Initiative mit bürgerlicher Beteiligung
war eine dynamische Bewegung, hat einen gesellschaftlichen Ursprung. Ist eine soziale Protestbewegung demnach zielführend erfolgreicher, als das politische Betätigungsfeld der
Autonomen?
Ich nehme an, du meinst, dass das politische Betätigungsfeld der Autonomen zu sehr auf die eigene Subkultur ausgerichtet ist, um für breite soziale Protestbewegungen eine Rolle
zu spielen. Das kommt darauf an. In den 1980er Jahren war es ja durchaus so, dass die Autonomen eine wichtige Rolle in breiten sozialen Protestbewegungen spielten, etwa in der
Antiatomkraftbewegung, in der Ökologiebewegung oder in Kampagnen gegen den Militarismus. Warum das heute nicht mehr so ist, hat sowohl mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun als auch mit
jener der autonomen Bewegung. Dazu gäbe es viel zu sagen. Aber die Individualisierung der Lebensverhältnisse ist spürbar gewachsen und kollektive politische Handlungsmöglichkeiten sind enger
geworden. Das spürt man überall.
Dass sich anarchistische Prinzipien und Positionen, die bei den Autonomen immer populär waren, mittlerweile auch in recht moderaten sozialen Bewegungen wiederfinden, ist ein Resultat dieser
Geschichte. Hätten basisdemokratische Ansätze, die Kritik politischer Repräsentation und sogenannte „flache“ oder „horizontale“ Organisationsformen nicht Erfolge gezeigt, wären sie heute nicht so
populär. Das ist ein wichtiger Aspekt anarchistischer Geschichte: der Einfluss ihrer Ideen ist weit stärker als meist angenommen, weil ihre Ursprünge in dem Moment, in dem sie salonfähig werden,
aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwinden. Der Acht-Stunden-Arbeitstag ist heute für alle eine Selbstverständlichkeit, aber es gab eine Zeit, da traten ausschließlich AnarchistInnen für
ihn ein. Oder sieh dir ein Buch wie Jonathan Safran Foers „Tiere essen“ an(1): ein Bestseller weltweit, der inhaltlich aber über nichts hinausgeht, was du vor zwanzig Jahren
schon in jedem veganen Zine im Infoladen um die Ecke lesen konntest.
Die Spuren der anarchistischen Bewegung sind überall. Das Problem ist nur, dass sie nicht zu einer radikalen Transformation der kapitalistischen Staatsgesellschaft geführt haben. Wiederum: man
muss analysieren, warum das so ist, damit es in der Zukunft vielleicht doch noch einmal anders wird.
Empörung, Wut und ziviler Ungehorsam kennzeichnen die Protestbewegungen, an der sich auch immer mehr Bürger beteiligen, die sich von „Chaoten“ und „Gewalt“ abgrenzen. Demgegenüber
befürchten Autonome mit dem Dialog mit oder dem Einwirken der Gesellschaft oder des Staates den Verlust von eigener Identität oder das Wegbrechen von Anhängern. Isoliert sich die anarchistische
Bewegung, weil sie sich diesem Dialog verweigert?
Man muss zwischen Autonomen und AnarchistInnen differenzieren. Es gibt auch Autonome, die sich eher als libertäre MarxistInnen oder sonst was verstehen. Aber in jedem Fall ist
es so, dass es breitem gesellschaftlichen Einfluss nicht zuträglich ist, wenn man sich mehr auf die eigene moralische Reinheit konzentriert als auf soziale Veränderung. Diese Tendenz ist bei
Autonomen und AnarchistInnen sehr stark. Letztlich ist das ein Erbe christlicher Kultur: man rettet seine Seele bzw. beweist sich als guter Mensch, indem man nicht wählen geht, keine Milch trinkt
oder McDonalds links liegen lässt. Natürlich mag das alles auf einer persönlichen Ebene löblich sein, und eingebettet in kollektive Kampagnen können solche Haltungen auch politischen Einfluss
nehmen, aber genau da liegt der Punkt: um die Notwendigkeit kollektiver Organisierung kommst du nicht herum, wenn du deinen persönlichen Handlungen politisches Gewicht verleihen willst. Ansonsten
bleiben sie nur moralische Gesten von Menschen, die sich und der Welt beweisen wollen, dass sie zur ethischen Elite zählen.
Gleichzeitig gibt es aber historische Beispiele, wie Anarcho-Syndikalismus vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Organisationen hervorbringen konnte. Warum ist das heute nicht
mehr möglich?
Ich freue mich, dass du einfache Fragen stellst. Aber ich werde versuchen, wenigstens ansatzweise zu antworten:
1. Die Klassenverhältnisse haben sich geändert. In vielen Ländern, in denen der Anarchosyndikalismus historisch stark war, steigerten sich die Rechte und Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen im
Laufe des 20. Jahrhunderts enorm. Die Arbeiterklassen der Industrieländer wurden zu einem Teil global privilegierter Gesellschaften. Das trug zum Verschwinden der traditionellen Klassenkämpfe in
diesen Ländern bei, was natürlich auch einen großen Einfluss auf den Anarchosyndikalismus hatte. Insofern ist es auch keine Überraschung, dass die (bescheidene) Renaissance des Syndikalismus mit
einer Entwicklung einhergeht, in der die Privilegien der Arbeiterklassen des globalen Nordens bedroht sind. Leider kommt die stärkste Konkurrenz für linke Bewegungen von rechtsextremen.
2. Der Kapitalismus hat gelernt und absorbiert Protestbewegungen. Es ist zu einer Institutionalisierung der Arbeiterbewegung gekommen bzw. zu Sozialpartnerschaften, die darauf achten, dass die
Klassenverhältnisse immer diesseits großer Konflikte liegen. Wirtschaftliche Krisen bedrohen dieses Verhältnis jedoch immer wieder. Wir sehen das heute, wobei keineswegs klar ist, wie sich das
alles entwickeln und wer davon profitieren wird.
3. Die Visionen fehlen. Im traditionellen Anarchosyndikalismus ging es ja nie „nur“ um Arbeitsplatzkampf, sondern um den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft. Man glaubte, diese erreichen zu
können. Das glaubt heute niemand mehr, nicht einmal die Linken selbst. Diese Tatsache macht es höchst unwahrscheinlich, dass Menschen ihre relativen Privilegien aufs Spiel setzen. Wer will schon
riskieren, dass es einem noch schlechter geht? Hier muss die Linke mit neuen Visionen aufwarten. Aber das ist nicht einfach.
Die radikale Linke in Deutschland und weiten Teilen Europas scheint sich in einer Krise zu befinden. Ehemals bewährte Konzepte und Ansätze eignen sich nur noch bedingt für die politischen
Fragen unserer Zeit. Ist die radikale Linke nicht mehr handlungsfähig, weil die Konzepte so realitätsfern sind?
Ich weiß nicht, ob die Konzepte so realitätsfern sind. Ich denke, es gibt kaum Konzepte. Es ist schwierig zu sagen, was da genau passiert ist. Aber ich denke, dass sich die
Linke bis heute nicht von dem Schock erholt hat, den der Zusammenbruch der Sowjetunion für sie bedeutete. Egal ob moskautreuer Kommunist, autonomer Marxist oder Anarcho – letztlich ist davon
niemand in der Linken unberührt geblieben, und die daraus resultierende Orientierungslosigkeit hält an. Währenddessen hat der neoliberale Kapitalismus Triumphzüge gefeiert. Und wenn er
gegenwärtig herausgefordert wird, dann von reaktionären Ideologien, deren konkreten Konzepte die Wiederaufrüstung eines starken Nationalstaates oder der Aufbau eines Gottesstaates sind.
Die Linke muss sich zusammenraufen, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Entwicklung von Konzepten – und natürlich keinen realitätsfernen – gehört da dazu. Wenn das nicht passiert, wird sich
das fortsetzen, was momentan die Protestformen der Linken prägt: der Ausdruck moralischer Empörung. Man findet es fürchterlich, dass rechte Parteien in Parlamente einziehen, dass der
Alltagsrassismus in Europa nicht verschwindet, dass es einen antifeministischen Backlash gibt usw. Es ist natürlich wichtig, seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Aber wenn es dabei bleibt,
dient das – wie vorher angedeutet – wenig mehr als der Beruhigung des eigenen Gewissens. Gesellschaftliche Veränderung mag mit moralischer Empörung beginnen, kann aber nur mit der Transformation
der materiellen Lebensbedingungen durchgesetzt werden. Wenn die Linke nicht auf diese Ebene zurückfindet, dann sieht es für die Zukunft finster aus.
«Es geht meines Erachtens weniger um das Schaffen eines Interesses nach Veränderung, sondern um das Schaffen emanzipatorischer – und realistischer – Visionen,
die Menschen für den Einsatz um eine solche Veränderung motivieren können.»
Und dennoch gibt es erfolgreiche praktische Beispiele, wie anarchistische Ideen umgesetzt werden können. Insbesondere in der Umsonstökonomie finden sich viele Möglichkeiten, Aspekte aus
dem Anarcho-Syndikalismus anzuwenden. Warum kann eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht mit einer kapitalistischen Ökonomie leben?
Da ist die Antwort, denke ich einfach: Weil eine Gesellschaft ökonomischer Ungleichheit nicht demokratisch sein kann. Leute mit viel Geld haben ungleich mehr Macht als Leute
mit wenig Geld. Viel komplizierter ist das nicht.
Wie kann das Interesse an der Entwicklung von neuen Formen der politischen Gestaltung in der Gesellschaft zusätzlich erreicht werden?
Ich weiß nicht, ob dieses Interesse geschaffen werden muss. Wenn Menschen kein Interesse an einer gesellschaftlichen Veränderung haben, dann gibt es auch keinen Grund, die
Gesellschaft zu verändern. Und wenn ein paar linke Randfiguren trotzdem darauf bestehen, sind sie nur lästig. Aber: das Interesse gibt es ja. Ich denke, die meisten Menschen wünschen sich ein
besseres Leben. Es fehlt nur die Hoffnung, dass ein solches möglich ist, vor allem in einem emanzipatorischen Sinne. Deshalb setzen momentan so viele Unzufriedene auf hohle – und gefährliche –
rechte Versprechen. Es geht meines Erachtens weniger um das Schaffen eines Interesses nach Veränderung, sondern um das Schaffen emanzipatorischer – und realistischer – Visionen, die Menschen für
den Einsatz um eine solche Veränderung motivieren können.
Die mangelnde Organisationsstruktur und der lockere Zusammenhalt sind oft Gründe für eine inkonsequente Umsetzung anarchistischer Ideen. Machst du den Erfolg dieser Ideen abhängig von der
Personenzahl einer Gruppe?
Nicht unbedingt. Natürlich, gewisse Sachen lassen sich in einer kleinen Gruppe leichter aushandeln als in einer großen. Aber auch drei Leute können sich spalten, genauso wie es
auch in kleinen Gruppen informelle Machtstrukturen gibt usw. Ich denke, dass die Organisationsfrage eine große Herausforderung bleibt: wie können wir kontinuierliche und verlässliche kollektive
Arbeit sicherstellen, ohne in rigide bürokratische Modelle zu verfallen? Das ist eine wichtige Aufgabe, die für alle Kollektive, ungeachtet ihrer Größe, gilt.
Wo siehst du die Vorteile/Nachteile einer kleinen „geschlossenen“ Gruppe, politische Ideen zu entwickeln und umzusetzen?
Es lässt sich schneller und effektiver arbeiten. Es ist leichter, mit fünf Leuten einen Termin zu vereinbaren als mit fünfzig; es ist leichter, mit sieben Leuten einen Konsens
zu erzielen als mit siebzig; man lernt einander besser kennen usw. Für viele Sachen ist das sehr vorteilhaft, vor allem illegale Aktionen. Aber das Modell hat seine Grenzen. Breite soziale
Bewegungen, die notwendigerweise auch Allianzen implizieren, lassen sich so nicht aufbauen. Diese sind aber für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen notwendig. Da muss man in den sauren
Apfel beißen und Sachen machen, die mit Revolutionsromantik wenig zu tun haben, sondern eher mit trägem Vereinsleben. Aber so ist das eben.
Der Ausdruck „soziale Bewegung“ wurde synonym für die Arbeiterbewegung verwendet. Du bist selbst Mitglied in der SAC(2). Was sind die Gründe für eine erstarkte basisdemokratische
Gewerkschaftsarbeit in Schweden?
Die veränderten ökonomischen Bedingungen. Die wesentlichen Stichworte sind hier wohl Migration und Prekarisierung. Klassische Gewerkschaftsmodelle sind für viele gegenwärtige
Anstellungsverhältnisse unzureichend. Der Syndikalismus, der traditionell versucht hat, die „Unorganisierbaren zu organisieren“ – Wanderarbeiter, Teilzeitarbeiter, Hilfsarbeiter –, wird da wieder
zu einem wichtigen historischen Referenzpunkt. Das empfinden wohl auch viele in der SAC so, deshalb die Hinwendung zu den syndikalistischen Wurzeln.
Dazu kommen gewisse Wellenbewegungen, die die Dynamik einer jeden Organisation kennzeichnen: seit den 1970er Jahren hatten viele in der SAC das Gefühl, dass man sich immer mehr von den Wurzeln
der Organisation entfernte und sich zu viel um allgemeine linke Themen kümmerte, die oft keinen konkreten Bezug zu Arbeitsplatzkämpfen zu haben schienen (Ökologie, Antifa, Feminismus usw.).
Irgendwann kippt so etwas und es geht eher wieder in die andere Richtung. Zumal es heute ja im aktivistischen Milieu allgemein eine zunehmende Frustration mit kategorisch losen und temporären
Bezugsgruppen und Projekten gibt, die längerfristige Arbeit schwierig machen. Auch das hilft der SAC, die aufgrund ihrer Infrastruktur andere Möglichkeiten anbieten kann. Wenn man so will, dann
zeigt sich hier auch die positive Seite eines schwerfälligen bürokratischen Apparates.
Die politische Kursrichtung der SAC hat sich immer wieder mal zwischen linke politische Agitation und arbeitsrechtlichen Ideen verändert. Hat die SAC ihre syndikalistischen Wurzeln
verraten und aus den Augen verloren?
Von Verrat würde ich nicht sprechen. Es muss ja auch unterschiedliche Deutungen des Syndikalismus geben können. Und damit werden auch bestimmte Projekte unterschiedlich
eingeschätzt. So kannst du etwa SAC-Mitglieder treffen, die dir erklären, dass die Organisation in den 1970er Jahren „Gefangenenunterstützung“ betrieb, was zwar politisch lobenswert sei, aber
nichts mit Arbeitsplatzkampf zu tun hätte. Die nächsten erklären dir dann aber, dass es nie um „Gefangenenunterstützung“ ging, sondern darum, Gefangene als ArbeiterInnen zu organisieren, da die
meisten Gefangenen ja auch Lohnarbeit nachgingen. Da geht es also um die gleichen Aktivitäten, die einfach unterschiedlich interpretiert werden. Ähnliches lässt sich auch zu feministischen
Kampagnen und Ähnlichem sagen.
Wie dem auch sei, in der SAC gab es Anfang der 2000er Jahre eine Mehrheit, die der Meinung war, man hätte sich zu sehr von den Wurzeln der Organisation entfernt, und es wurde ein Umschwung
eingeleitet, um diesen Bezug wieder zu stärken. Und das hat Resultate gezeigt. Der Einsatz der SAC für undokumentierte migrantische Arbeitskräfte hat den allgemeinen schwedischen
Gewerkschaftsbund LO dazu gezwungen, sich in dieser Frage auch endlich zu engagieren; die Kampagne „Gerechter Weinhandel“ verbindet SAC-Angestellte bei Systembolaget, der Firma, die das
staatliche Alkoholmonopol verwaltet, mit Basisgewerkschaften in Südafrika, Chile und Argentinien, um dort die Arbeitsbedingungen in den Weingärten zu verbessern; und die SAC-Sektion der
öffentlichen Verkehrsbetriebe Stockholms kann Streiks durchführen, die zum Ausfall eines Drittels der U-Bahn- und S-Bahn-Fahrten führen. All das zeugt von einem Interventionspotential, das heute
nur wenige syndikalistische Organisationen haben.
Immer wieder wird die SAC diskreditiert und von Außen gar mit der kriminellen Tätigkeit von „Motorradgangs“ verglichen. Welche Repressionen ist SAC heute ausgesetzt?
Es kommt immer wieder zu Verfahren in Zusammenhang mit direkten Aktionen, vor allem wenn es um Blockaden geht. Diese werden vor allem im Servicebereich angewandt, meist in
Solidarität mit ausgebeuteten migrantischen Arbeitskräften. Der Zugang zu Restaurants und Cafés wird erschwert – oder verunmöglicht, das ist vor Gericht dann oft die Streitfrage – und es kommt zu
Anklagen wegen Ordnungsstörungen. Bei Protesten, die sich lange hinziehen – wie etwa gegen den Stockholmer Vergnügungstempel Berns, vor dem über ein Jahr lange jedes Wochenende Streikposten
standen –, kommt es auch gezielt zu Provokationen durch Unternehmer, die Polizei oder politische Gegner, was ebenfalls zu Handgemengen und Anzeigen führen kann. Doch auch hier hilft die starke
Infrastruktur der Organisation, die schnell Rechtshilfe und finanzielle Unterstützung aufstellen kann.
Gabriel, was sind deine nächsten Projekte und Ideen, die du anpackst und umsetzt?
An Publikationsprojekten stehen in den nächsten Monaten ein paar Übersetzungen an. Ich übersetze Texte aus der österreichischen Arbeiterbewegung ins Englische und ein Buch zur
extremen Rechten in den USA ins Deutsche.
Was Politarbeit angeht, bin ich momentan vor allem in einem alternativen Sportklub engagiert, der Teil eines Netzwerks Stockholmer Stadtteilgruppen ist, nämlich dem „Netzwerk Linie 17“, das nach
einer der U-Bahn-Linien benannt ist. Hier vereint sich alles von Antifa-Gruppen zu Leuten, die Gemeinschaftsgärten betreiben. Ich sehe ein relativ starkes Potential in Projekten, die unter dem
Schlagwort „lokale Organisierung“ laufen, was in Schweden gerade ein bisschen boomt. Hier können sich meines Erachtens radikalere AktivistInnen wirklich in breitere soziale Bewegungen einklinken,
weil die Idee der lokalen Organisierung weiten Anklang findet und das Engagement radikaler AktivistInnen positiv aufgenommen wird. Wir sprechen zwar keineswegs von revolutionären Entwicklungen,
aber zumindest von einem Milieu, in dem sich eine Politisierung andeutet, die auch zu einer grundlegenden Infragestellung des politischen und ökonomischen Systems führen kann. Das ist in Zeiten
der angesprochenen Krise der Linken schon viel wert.
Anmerkungen:
(1) Leseprobe: http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-596-51285-0.pdf
(2) Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC). Die Arbetares Centralorganisation wurde 1910 gegründet und besteht aus rund 70 Ortsgruppen und mehreren Branchenföderationen, sowie verschiedenen
Betriebsgruppen. Jede Basisgruppe ist autonom in ihren Entscheidungen: https://www.sac.se/