Interview mit Tina Olteanu über unkonventionelle Partizipationsformen und
Polit-Graffiti als Protest
Politische Stencil-Graffiti sind als Medium gegenöffentlicher Kommunikation
gekennzeichnet und liefern Hinweise auf konkrete Strukturen, Interessen und Einstellungen.
Generell wäre zu klären, welche öffentliche Wirkung politische Motive überhaupt erzielen. Grundsätzlich erscheint es lohnenswert, die Bereiche Street-Art und Graffiti systematisch und
wissenschaftlich zu erforschen. Dorothée de Nève und Tina Olteanu haben das getan und 2012 ein Buch herausgegeben(1). In diesem werden „Politische
Partizipation jenseits der Konventionen“ theoretisch erörtert und empirisch untersucht. Die Analysen nehmen eine typologische Einordnung dieser unkonventionellen Partizipationsformen vor und
untersuchen ihre Funktionen sowie Inklusionspotenziale in politischen Prozessen der Demokratie. Diskutiert werden außerdem die Interdependenz zwischen verschiedenen politischen und sozialen
Partizipationsformen sowie die Kooptierung und Kommerzialisierung von Partizipationsinstrumenten.
Wir haben uns mit Tina unterhalten und wollten von ihr auch wissen, ob Graffiti Schmiererei oder politische Partizipation ist?
Tina, deine Forschungsschwerpunkte sind u.a. auch Aspekte (politischer) Partizipation. Warum ist politisches Engagement denn noch immer eine Frage des Geschlechts?
Tina: Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil politische Partizipationsformen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und die Frage Geschlecht je nach
Konstellation relevant wird oder auch nicht. Wenn wir uns DAS klassische Partizipationsinstrument in der klassischen repräsentativen Demokratie wie etwa Deutschland anschauen, können wir zuerst
einmal feststellen, dass es keinen relevanten Unterschied in der Wahlteilnahme von Frauen und Männern gibt. So lag die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen 2013 bei den Frauen bei 72,1
Prozent und bei den Männern bei 72,7 Prozent(2). Allerdings, und das scheint das zentrale Problem zu sein, sind Frauen seltener Parteimitglieder und in den Institutionen der
repräsentativen Demokratie wie etwa Parlamenten und Regierungen unterrepräsentiert. Die Frage nach dem warum kann man nun zum einen strukturell beantworten und die immer noch existierenden
Zugangsbarrieren bzw. Karrierehindernissen für Frauen anführen. Man kann und sollte aber auch unbedingt, wie es jenseits des Mainstream der Forschung gemacht wird, das männlich geprägte
Verständnis von politischer Partizipation auf den Prüfstand stellen, das etwa eine klare Trennung von Privat und Öffentlich, Politisch und Sozial vorsieht und damit determiniert wird, was
überhaupt als relevante Form von politischer Partizipation wahrgenommen wird. Aus einer machtpolitischen Perspektive sind Parlamente und Regierungen auch in der Postdemokratie relevant, aus einer
gesellschaftspolitischen Perspektive sollten wir die Diskussion aber breiter führen. Politische Partizipation ist aus dieser Perspektive wichtig, weil sie nicht nur zur Selektion von politischen
Entscheidungsträgern oder zur Kontrolle eben dieser dient, sondern weil BürgerInnen ihren Willen zur Gestaltung der Gesellschaft hier zum Ausdruck bringen.
Das Geschlecht ist ein im Zusammenhang mit politischer Partizipation in der Forschung häufig genannter soziodemographischer Faktor. In Studien wurde gezeigt, dass es zwischen Frauen und
Männern Unterschiede im politischen Interesse und Engagement gibt. Welche Möglichkeiten bieten neue Partizipationsformen, diese Unterschiede auszugleichen?
Tina: Diese Frage vertieft die oben kurz angesprochene Hierarchisierung und Wertung von Partizipationsformen in der Forschung und Öffentlichkeit. Politisches
Interesse, verkürzt argumentiert, beispielsweise wird damit gleichgesetzt, ob man Debatten im Parlament verfolgt oder den Innenpolitik Teil der Zeitung liest. Der Elternverein in der Schule, die
Amnesty Gruppe, das Erstellen eines Graffiti oder der Lesenachmittag im Altenheim kommt gegebenfalls nicht vor, da sie eher als sozial oder Hobby gewertet werden. Wenn wir aber nochmals über die
Potenziale dieser neuen Partizipationsformen nachdenken, dann besteht eben die Hoffnung darin, dass wir möglichst viele Partizipationsformen als gesellschaftlich relevant und im Kern politisch
reflektieren und aufwerten. Allerdings sind diese neuen Partizipationsformen auch kein Allheilmittel. Bestimmte soziale und sozioökonomische Exklusionsmechanismen sind ja weiterhin existent. Habe
ich Zeit und Ressourcen zur Partizipation? Bin ich als AsylbewerberIn, AusländerIn, AlleinerziehendeR in der Lage zu partizipieren? Diese Fragen stellen sich bei jeder Partizipationsform. Der
Unterschied, den wir aus der Forschungsperspektive heute formulieren ist, dass politisches Engagement spontan, niederschwellig, flexibel und auch kurzfristig ist. Wir engagieren uns zu einem
spezifischen Thema in unterschiedlichen Organisationen, den Organisationen selbst fühlen wir uns nicht verpflichtet. Lebenslange Bindungen an Parteien sind daher nicht mehr wirklich zeitgemäß.
Eine These ist daher, dass vor allem junge Leute wieder verstärkt partizipieren. Andere sagen hingegen, dass diejenigen, die vorher bereits partizipiert haben, nun die neuen Formen der
Partizipation ebenso überproportional nutzen. Demnach würden die soziodemographischen Unterschiede eventuell sogar vertieft.
Wie definierst du politische Partizipation?
Tina: Ich habe mit meiner Kollegin Dorothée de Nève eine breite Definition von politischer Partizipation entwickelt, in der es um Handlungen und
Verhaltensweisen von BürgerInnen, Gruppen und/oder Institutionen geht, mit denen diese gesellschaftspolitische Prozesse anregen, initiieren, gestalten und/oder beeinflussen bzw. über bereits
bestehende Strukturen und Entscheidungen reflektieren.
Hast du denn Ergebnisse vorliegen, ob und wie sich Menschen unterschiedlichen Alters, Bildung und Geschlechts politisch engagieren?
Tina: Die Studien, die es zu diesem Thema in der Regel gibt, gehen von einem sehr eingeschränkten Partizipationsbegriff aus, der mehr oder minder Ende der
1970er Jahre von Barnes/Kaase entwickelt wurde und nun in den Studien abgefragt wird. Konventionelle Partizipation umfasst demnach alles, was sich direkt an die politischen Institutionen und
Akteure wendet: Wahlteilnahme, Kontaktaufnahme mit Abgeordneten etc. Unkonventionelle Partizipation hingegen, wird dort verstanden als Teilnahme an Demonstrationen, Unterzeichnung von Petitionen,
Streikteilnahme etc. Dazu haben wir eine Fülle von statistischem Material, das uns zeigt, wer wie partizipiert oder auch nicht. Generell sind es Männer mit einer höheren Bildung und Einkommen,
die partizipieren. Die Frage ist eher, wie zeitgemäß diese Kategorien noch sind. Neue Partizipationsformen kommen nicht vor oder es gibt wiederum Studien, die sich nur mit bestimmten Formen des
Web 2.0 beschäftigen.
Stencil-Graffiti sind eine Strategie gegenöffentlicher Kommunikation.
Warum und für wen ist es wichtig, politische Partizipationsmuster aufzudecken?
Tina: Aus einer politisch-praktischen Perspektive haben Parteien beispielsweise daran ein Interesse, um den Mitgliederschwund, den sie erleiden, wieder wett zu
machen, in dem sie SympathisantInnen für bestimmte Ereignisse mobilisieren: Für immer professioneller agierende nichtstaatliche Organisationen mag die Motivation ähnlich gelagert sein. Etwas
überspitzt formuliert mag es darum gehen, wen man wie zum Mitmachen mobilisieren kann und dies funktioniert öffentlich, medial sehr häufig über die Masse an Teilnehmenden.
Für mich als Forscherin ist das Interesse eher darin, Demokratie als einen partizipativen Prozess der Gesellschaftsentwicklung zu begreifen und die BürgerInnen in den Fokus des Prozesses zu
rücken. Wahlen sind dann zwar wichtig, aber nur eine Partizipationsform unter vielen, in der BürgerInnen um die Gestaltung der Gesellschaften ringen. Das ist jetzt erst einmal sehr normativ.
Siehst du eine Diskrepanz zwischen einer Spaß- und Protestgesellschaft oder ist eine Trennung zwischen dem politischen Gehalt einer bestimmten Aktivität und ihrem Spaßfaktor
schwierig?
Tina: Naja, der implizite Vorwurf ist wohl hier, dass die Aktionsform vom politischen Inhalt ablenkt und Spaß das eigentliche Motiv sei. Es gibt sicherlich die
Gefahr, dass der Gehalt des Anliegens unter der Präsentations- und Vermittlungsform leidet. Leider werden viele Aktionsformen, welche diese „Spaß- und Protestgesellschaft“ hervorgebracht hat,
kommerzialisiert und sinnentleert. Man kann dies als Indiz für die Wirkungsmächtigkeit von diesen neuen Präsentationsformen sehen. Die Schlussfolgerung kann und sollte jedoch nicht sein, dass das
Politische immer ernst sein muss und Protest bestenfalls gewaltsam. Es ist eine Herausforderung, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Botschaft und Darstellungsform zu finden, allerdings kann
auch nicht ignoriert werden, dass die Art der Vermittlung immer wichtiger geworden ist.
Welchen Einfluss haben die sogenannten neuen Medien auf politische Entscheidungsprozesse?
Tina: Mein Eindruck ist, dass wir den Einfluss der neuen Medien auf politische Entscheidungsprozesse gerne überbewerten. Sicherlich haben die neuen Medien in
den Protestbewegungen des arabischen Frühlings etwa bestimmte Organisations- und Kommunikationsvorteile gebracht. Vor allem wurde das Ausland durch diese Kanäle von den Ereignissen in Kenntnis
gesetzt und durch die Bilder- und Videoflut auch emotionaler angesprochen, als es Dreizeiler in Zeitungen erreicht. In unseren konsolidierten Demokratien haben wir eher häufiger das Problem, dass
wir in Pseudo-Partizipations- und Konsultationsprozesse eingebunden werden. Wir werden eingeladen und aufgefordert, online unsere Meinung kundtun, abzustimmen und Kritik zu äußern. Alles wird mit
einem geringeren Verwaltungsaufwand und geringeren Hürden für uns selbst organisiert. Ob es dann tatsächlich relevant für den Entscheidungsprozess ist, wage ich zu bezweifeln. Da müssen häufig
auch andere Momente dazu kommen, wie eine öffentliche oder auch mediale Empörung, die sich eventuell schneller über die neuen Medien perpetuiert, aber letztendlich von DEM Medium Fernsehen
aufgenommen werden muss. Ich denke, dass neue Medien in erster Linie ein neues Instrument sind, hoffentlich niederschwelliger und inklusiver als andere zuvor. Das bleibt abzuwarten. Sie sind
jedoch keine Lösung für das Dilemma von Partizipationsansprüchen und Partizipationspotenzialen.
Welche Qualität und welchen Stellenwert könnte diese Form der Partizipation einnehmen?
Tina: Zum Teil habe ich das bereits beantwortet. Wenn wir an so etwas wie Occupy denken, dann waren die neuen Medien wie gesagt, zentral für Organisation,
globale und lokale Vernetzung sowie Solidarität. Dennoch den Ort der Partizipation, das Treffen von realen Menschen an realen Orten scheint immer noch unumgänglich.
Damit sich BürgerInnen in politische Entscheidungsprozesse einbringen, ja, sogar mitgestalten können, ist die Suche nach neuen Formen der Partizipation auch ein Thema für die Politische
Bildung. Warum ist es wichtig, konventionelle und unkonventionelle Partizipation theoretisch zu trennen?
Tina: Ich denke, diese Trennung macht einen wichtigen Unterschied deutlich und deswegen ist sie momentan zumindest noch relevant. Das politische System
fokussiert und reagiert auf konventionelle Partizipationsformen: Wir, als BürgerInnen, sollen wählen und uns gegebenfalls bei unserem Abgeordneten beschweren. Inzwischen sind auch Streiks und
Demonstrationen anerkannte Partizipationsformen, auf die die Politik reagiert und die sie als relevant wahrnimmt. Hier wird immer wieder nachjustiert. Ich möchte nur mehr direktdemokratische
Abstimmungen (auch in den Parteien) und den Bürgerhaushalt nennen. Das Unkonventionelle verdeutlicht hingegen, dass BürgerInnen einen weit größeren und vielschichtigeren Gestaltungsanspruch
formulieren, als die Politik es vorsieht.
Inwiefern sind individuelle Aktivitäten nicht weniger kollektiv als gemeinsame Versuche, auf das politische Geschehen Einfluss zu nehmen?
Tina: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen individuellen oder kollektiven Partizipationsformen – ob man als EinzelkämpferIn aktiv ist oder im Kollektiv ist
erst einmal weniger bedeutsam. Klar, wenn es um die Wirkungsmächtigkeit geht, mag es je nach Partizipationsform entscheidender sein, ein sichtbares Kollektiv hinter sich zu haben.
Das kollektive Handeln innerhalb einer Protestform (Stuttgart 21, Blockupy) hat einen größeren Anreiz und eine Wirkung in der Gesellschaft als Einzelaktionen wie z. B das Überkleben eines
Naziaufklebers. Steigert sich der Wert-Nutzen-Faktor also mit der Anzahl der Personen, die sich am Protest beteiligen?
Tina: Ich habe eigentlich ein Problem damit, die Wertigkeit einzelner Partizipationsformen gegeneinander abzuwägen und die Effizienzfrage zu stellen. Nach
dieser Logik sind dann Wahlen wieder die einzig relevante Partizipationsform, da eben in Deutschland 70 Prozent der Wahlberechtigten hingegen und daraus die Regierung gebildet wird. Das kann man
nicht so schnell toppen. Der Mobilisierungsgrad derjenigen, die sich gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg ausgesprochen haben, war auch recht beeindruckend. Ihre Ziele finde ich aber recht
wenig kompatibel mit einer pluralistischen, demokratischen Ordnung. Worauf ich also hinaus will, ist was wir als Nutzen für die Gesellschaft versehen. Jede überklebte Nazischweinerei ist damit
sehr wichtig für eine Gesellschaft, um zu zeigen, dass so etwas keinen Platz in der Gesellschaft hat. Eine Demonstration gegen den Bildungsplan hat auch einen Nutzen für die Gesellschaft. Sie
zeigt uns, dass Dialog, Abbau von diffusen Ängsten und Vorurteilen gegenüber sexueller Minderheiten unbedingt stattfinden muss. Sie zeigen Defizite, auf die wir als Gesellschaft reagieren
müssen.
Demgegenüber ist ein an der Wand gesprühtes politisches Graffiti für alle sichtbar und kann im Sinne des Betrachters wahrgenommen werden und Anreize bieten. Wie groß kann denn hier der
Einfluss zur Eliminierung eines Übels sein?
Tina: Tja, das schließt an meine obigen Ausführungen an. Wie groß der Einfluss ist, können wir leider nicht messen. Dennoch, es kann Menschen auf etwas
hinweisen und zum Nachdenken anregen.
Können Stencil-Graffiti – gerade im Hinblick auf politische Inhalte – als Kommunikationsstrategie der Mikro-Ebene von Gegenöffentlichkeit zugeordnet werden?
Tina: Ja, für viele AktvistInnen scheint dies eine zentrale Motivation zu sein. Dies geht aus Interviews mit SprayerInnen hervor, die sich als politisch
verstehen. Hierbei ist aber der Begriff des Politischen ebenso breit gewählt. Es kann eine Gegenöffentlichkeit sein, weil marginalisierte Themen aufgegriffen werden oder aber auch zur
kommerzialisierten Kunstwelt.
Als Instrument der Propaganda haben Graffiti eine lange Tradition. Vermutest du, dass unautorisierte politische Botschaften im öffentlichen Raum von Personen und Gruppen produziert
werden, die im politischen System nicht etabliert sind und die nicht über die Mittel zur massenmedialen Kommunikation verfügen?
Tina: Ja, das ist eine Vermutung, bzw. eine Ausrichtung. Es geht aber nicht nur darum, dass die Ressourcen für die massenmediale Kommunikation fehlen. Der Ort
des Graffiti – im öffentlichen Raum – ist bereits eine Botschaft ist. Der öffentliche Raum soll häufig auch als Kommunikations- und Diskussionsraum (zurück-)erobert werden.
Kreative und unkonventionelle Protest- und Partizipationsformen haben in den letzten Jahren zugenommen. Siehst du diese Aktionsformen auch in einem Zusammenhang mit einer generellen
Ablehnung der bestehenden Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung?
Tina: Das ist eine schwierige Frage. In Bezug auf Graffiti kann man schon feststellen, dass sich eine kritische Haltung zur Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung sehr häufig manifestiert. Und natürlich Occupy Wall Street hat das nochmals sehr klar verdeutlicht. Bei anderen Formen sehe ich das weniger. Vielmehr wird deutlich, dass die
konventionellen Partizipationsformen eventuell in eine Krise geraten sind, aber nicht, weil die BürgerInnen politisch desinteressiert, faul oder zu konsumorientiert sind. BürgerInnen wollen
partizipieren, aber zu ihren eigenen Bedingungen.
Anmerkungen:
(1) Ca. 250 Seiten. Kart. Ca. 28,00 € (D), 28,80 € (A) ISBN 978-3-8474-0042-4
(2) Der Bundeswahlleiter (2014) Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013. Heft 4 Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen. Wiesbaden. S.
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