Die frühen 80er-Jahre waren eine wilde, aber auch ungeheuer produktive Zeit in subversive Kunst und Musik. MalerInnen und MusikerInnen verweigerten sich dem konventionellen Kunstmarkt, provozierten mit Bildern, die von Kritikern als Schmiererei abgetan wurden und mit Musik, die von manchem schlichtweg als Lärm bezeichnet wurde. Hochburgen der Verschmelzung von Musik, Film, Kunst und Performance waren Düsseldorf, Hamburg und Berlin.
1981 fand im Berliner Tempodrom mit „Geniale Dilletanten“ (ein absichtlich falsch geschriebener Titel) eine Konzert statt. Es wurde zum Synonym einer kurzen Epoche des künstlerischen Aufbruchs. Das Festival war Namensgeber des von Wolfgang Müller herausgegebenen Bandes im Merve Verlag.
Die Übernahme des Schreibfehlers in den Buchtitel ist, so Wolfgang Müller, ein Beleg, dass ein „genialer Dilletant“ im Unterschied zum „Profi“ zu seinen „Fehlern“ nicht nur stehe,
sondern sie als tatsächliche existierende Realität akzeptiert und sie ganz bewusst in sein Werk einbezieht.
Die „Einstürzenden Neubauten“ erforschten mit einem aus Schrott und Alltagsgegenständen zusammengestellten Instrumentarium die Grenzen zwischen Musik und Lärm. „Die Tödliche Doris"
experimentierte mit verschiedenen künstlerischen Formen wie Musik, Film, Fotografie, Objektkunst und Malerei. Das Duo „Deutsch Amerikanische Freundschaft (D.A.F.)“ kombinierte provokative Texte
mit harten Schlagzeug-Beats, gepaart mit Synthesizer-Effekten und einer Bühnenshow zwischen Ekstase und Krawall. „Der Plan“ trat mit surrealen Kostümen und ironisch-sarkastischen Texten hervor.
„Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.)“ wurde von Redaktionsmitgliedern des Underground-Magazins „Mode & Verzweiflung“ gegründet und interessierte sich vor allem für kulturelle Brüche. Die
Musik von „Palais Schaumburg" gewann ihren besonderen Charakter durch die Kombination von Synthesizern, Sample-Geräten mit Trompete und skurril-atonal vorgetragenem Gesang. Trotz erschwerter
Umstände engagierten sich Ost-Berliner Künstler und Musiker im avantgardistischen Band-Projekt „Ornament und Verbrechen", das durch Jazz, Industrial und elektronische Musik beeinflusst war.
Vor allem im Umfeld von Kunsthochschulen erblühte eine Avantgarde, die sich durch künstlerische Vehemenz, genre-übergreifendes Experimentieren und den Wunsch nach Selbstorganisation auszeichnete.
Damit einher ging die Gründung zahlreicher Musikbands, Plattenlabels, Magazine, Galerien und Clubs.
Im Gespräch mit Wolfgang Müller
Die Ausstellung „Geniale Dilletanten“ wurde vom Goethe-Institut konzipiert und präsentiert im Rahmen einer weltweiten Wanderausstellung die Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland.
Warum die immer wiederkehrende Rückbesinnung auf diese Zeit? Warum erscheint sie heute als so epochal?
Wolfgang Müller: Im Rückblick sieht alles immer wieder ganz anders aus. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wurden zahlreiche kleine Labels, Verlage,
Zeitschriften, Parteien und, völlig utopisch damals, sogar eine Tageszeitung gegründet. Ausgehend von Joseph Beuys Slogan „Jeder ist ein Künstler“, ertönten aus subkulturellen Räumen die Rufe
scheinbar größenwahnsinniger Dilettanten: „Jeder ist ein Musiker, ein Punkmusiker“, „Jeder ist ein Politiker, „Jeder ist ein Verleger“ und so weiter. Aus heutiger Perspektive wirken die damalige
Offenheit, der kreative Boom faszinierend – vielleicht deshalb, weil inzwischen die kreative Selbstausbeutung an ihre Stelle getreten ist und im gleichen Moment der Kapitalismus die Utopie für
abgeschafft erklärt hat. Alle Ziele der individuellen Selbstverwirklichung seien schließlich erreicht worden, so heißt es.
Was ist geschehen?
Vielleicht könnte man das am Beispiel der Tageszeitungsgründung zeigen. Die 1978 gegründete taz ist heute die kleinste Boulevardzeitung Deutschland und BILD die größte. Dabei
hat BILD viele originelle Anregungen der taz übernommen, wie spezielle Tagesausgaben, die nur von Künstlern illustriert werden oder eine Ausgabe, die auf Arabisch erscheint. Die jeweiligen
Alleinstellungsmerkmale beider Medien sind fast restlos verschwunden. Auch inhaltlich. Zwar wird das eine Medium eher als rechts und das andere eher als links verortet, aber auch diese Einteilung
funktioniert im Einzelnen nicht mehr so eindeutig wie in den 1980ern. In der Entwicklung der Grünen wird das sehr deutlich. Die Grünen engagierten irgendwann ihren Pressesprecher direkt aus der
BILD-Zeitung, einen BILD-Redakteur. Als die grüne Abgeordnete Renate Künast im Parlament 2006 dann laut rief: „Merkel Murks!“ – da klang das in meinen Ohren bereits wie eine BILD-Schlagzeile.
Populäre taz-Redakteure wie Denis Yücel und andere wanderten direkt in den Springer-Verlag. Die alte Feindschaft wirkt konstruiert, seitdem die Axel-Springer-Straße mit dem Springerhaus direkt
auf die Rudi-Dutschke-Straße mit dem taz-Haus trifft. Meine Vision aus dem Science-Fiction KOSMAS(1), dass auch die BILD-Zeitung irgendwann eine Sonderbeilage zum CSD „So fröhlich feiern die Gays“ herausbringen würde, trat 2015 ein. Dagegen fallen
von Funktionären der Schwulenpolitik, die zugleich Redakteure in der taz sind, rechtspopulistische und rassistische Äußerungen, die beispielsweise Judith Butler 2010 zur Absage des vom CSD ihr
zugedachten „Zivil-Courage-Preises“ veranlassten.(2) Um es mit Ernst Jandl zu sagen: „Lechts und rinks kann man nicht velwechsern – werch ein Illtum!“
Der absichtlich falsch geschriebene Titel der Ausstellung bezieht sich auf das „Festival der Genialen Dilletanten“, das im September 1981 im Berliner Tempodrom stattfand. Welche
Erinnerungen hast du an dieses Festival?
Nur sehr verschwommene. Da ich selbst auf der Bühne stand, war ich zu nervös, um meine Eindrücke festhalten zu können. Als ich später eine die Videoaufzeichnung ansah, da
konnte ich dem späteren Wirt der Punkkneipe Risiko, Alex Kögler bei seinem Debüt auf der Bühne zuschauen. Er sang zum ersten Mal. Nein, Gesang war das eher nicht. Er schrie und brüllte aus
Leibeskräften und – zusammen mit den suggestiven gleichmäßigen Rhythmen der Band klang das überraschend schön.
Was war ein prägendes Erlebnis?
Vorne, am Bühnenrand stand ein Punk und warf gezielt Bierdosen auf mich und meine Geige. Ein paar Tage darauf, sprach mich dieser Punk im Risiko an. Nun vertraute mir stolz an,
er habe kürzlich den Sänger der Tödlichen Doris beim Festival der Genialen Dilletanten derart massiv mit halbgefüllten Bierdosen bombardiert, dass der auf seiner Geige nicht mehr weiterspielen
konnte. Daran konnte ich mich erinnern, mein Geigensteg zerbrach aufgrund dieser Attacken. Da ich jedoch beim Tempodrom-Auftritt das Gesicht vollständig bunt bemalt hatte und außerdem auf dem
Kopf Federschmuck trug, wusste der Dosenwerfer nicht, dass ich dieser Sänger war, den er da attackiert hatte. Der Punk hieß Matthias Roeingh und seine Band nannte sich
„Deutsch-Polnische-Aggression“. Ich offenbarte mich und nachdem er sich von der ersten Überraschung erholt hatte, bot ich ihm einen bezahlten Liveauftritt als Stellvertreter meiner Person bei der
Tödlichen Doris an. Neun Jahre später nannte er sich um in Dr. Motte und aus seiner Band Deutsch-Polnische Aggression entwickelte sich die Loveparade. So erfuhr ich, wie aus Aggression Liebe
wird.
Wolfgang, du hast nach dem Festival ein Merve-Bändchen gleichen Titels veröffentlicht. Was hast du mit dem Titel assoziiert, bzw. wie analysierst du den Begriff des
Dilletanten?
Jeder Mensch ist zunächst ein totaler Dilettant. Ein Baby ist weder in der Lage sich differenziert zu artikulieren, noch aufrecht zu gehen. Es macht sich in die Windeln und
schreit herum. Erwachsen geworden, tritt dann oft eine gewisse Professionalisierung, Koordinierung und Kontrolle ein. Damit diese Entwicklung nicht zur Erstarrung, Versteinerung oder Verstopfung
führt, sind Fehler, Missgriffe, also die Rückbesinnung auf das unerschöpfliche Potential des eigenen und fremden Laientums wichtig. So können sich Wege jenseits der Alternativlosigkeit bilden,
von denen die Vertreter der Macht in Politik, Kunst oder Wirtschaft unentwegt reden, um ihre Positionen absolut zu setzen und möglichst langfristig abzusichern. (Pause) Apropos Baby. Den Song
„Baby“ von Valeska Gert, den sie bereits in den 1920er entwickelte, den damals leider niemand publizieren wollte und dessen erste Möglichkeit zur Tonaufnahme 1962 auf Vinyl vom
Produktionsleiter der Deutschen Grammophon verhindert wurde, diesen Song konnte ich 2010, also zweiunddreißig Jahre später veröffentlichen. Der Song „Baby“ besteht nur aus Kinderlallen, Kichern,
Weinen, Lachen und endet mit einem Bäuerchen am Schluss. Frühe Vocal-Art, noch vor Yoko Ono. Valeska Gert ist der Berliner Prä-Punk, sie ist genial-dilettantisch.(3)
Welchen radikalen Gestus hatte die 80er Jahre Subkultur in Berlin inne?
Als radikal würde ich die nicht unbedingt bezeichnen. Wer in der BRD lebte und nicht den üblichen Weg gehen wollte, der dort für junge Männer vorgezeichnet war, flüchtete
rechtzeitig, also vor der Volljährigkeit nach Westberlin und war so dem Zugriff der Bundeswehr entzogen. Damals herrschte noch Wehrpflicht. Eine Verweigerung war umständlich und beschwerlich. Aus
der gewonnen Zeit konnten dann allerlei interessante Ideen entstehen. Das gleiche galt für junge Mädchen, die keine Lust hatten auf die sogenannte familiäre Normalität, in der sie eine bestimmte
Rolle spielen sollten. Übrigens ist immer noch kaum bekannt, dass die ersten Westberliner Punkläden von Frauen gegründet wurden. Das Shizzo von Anne Willke, das
Loft von Monika Döring, das Eisengrau von Bettina Köster und Gudrun Gut. Das Risiko wurde von Stefanie
Mahlknecht und Monika Geiser gegründet.
Wird das in den aktuellen Verfilmungen deutlich, die die Subkultur der 80er Jahre aufgreifen?
Nur selten, manchmal sogar im Gegenteil. Wer Oskar Röhlers grässlichen Film „Tod den Hippies, es lebe der Punk“ anschaut, würde denken, im Risiko habe sich eine reine
Herrenwelt getroffen aus dilettierenden Musikern, Existenzialisten, Verlierern oder Klischee-Schwulen, die Nazis sind und zugleich auf SM stehen. Für die Frauen bleiben nur die Rolle der bösen
kommunistischen Über-Mutti oder des sexy Mäuschens.
Warum war gerade Berlin Anfang der 80er Jahre so etwas wie ein Abenteuerspielplatz der Künste?
Die Lebenshaltungskosten waren sehr gering. Wenn man eine Wohnung bekam, was allerdings ziemlich schwierig war, dann konnte es eine ohne Bad, Kohleheizung und mit Außentoilette
sein. Aber, wie erwähnt, sie war sehr billig. Der internationale Kunstmarkt nahm die Stadt absolut nicht ernst. Für die war Westberlin ein muffiger alter Kleiderschrank, so drückte das mal der
Künstler Günter Brus aus, der Wiener Aktionist, der in den 70er Jahren mit einigen anderen wie dem Oswald Wiener vor juristischen Verfolgungen aus Österreich nach Westberlin
floh. Das heißt, die Kontrolle und Beeinflussung durch den Kunstmarkt war nicht so wirksam.
Gibt es deiner Meinung nach heute noch interessante musikalische Projekte, die Subversion und Radikalität kreativ ausgestalten?
Mit Sicherheit. Es ist Unsinn, wenn Künstler, die sich in den 1980er Jahren den Ruf erwarben, irgendwie subversiv oder unangepasst zu sein, heute behaupten, Subversion sei
nicht mehr möglich. Das ist eher ein Zeichen, dass sie inzwischen alt geworden sind und erstarrt. Natürlich gibt und gab es zu jeder Zeit interessante radikale künstlerische, musikalische,
soziale und politische Projekte. Vielleicht manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger. Das hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise ökonomischen. Die Subversion entfaltet sich eh zunächst
immer unsichtbar oder unbemerkt vom Mainstream. Allerdings tut sich eine Gesellschaft, die felsenfest davon überzeugt ist, sie würde alles bemerken, hätte alle Utopien bereits verwirklicht, also,
die fest davon überzeugt ist, es gäbe längst gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle, Humanität und individuelle Selbstverwirklichung seien realisiert, besonders schwer zu glauben, dass sie
irgendetwas übersähe. Aber genau in diesem Blindfleck, in diesem Rest tummelt sich das, was interessant ist oder zukünftig werden wird. In unserem derzeitigen neo-individualliberalen Umfeld ist
selbst Kritik schwer anzubringen, wird schnell als kleinliche Mäkelei oder persönlicher Neid abgetan.(4)
Wo gab es die Schnittstelle zwischen Punk und Kunst?
Es gab zahlreiche Schnittstellen. Es ist sicher kein Zufall, dass das Cover des Sex Pistols Albums „Never Mind the Bollocks“ einer grellen DADA-Collage der
1920er Jahre ähnelt. Die Schrift setzt sich zusammen aus ausgeschnittenen Buchstaben unterschiedlicher Größen und Stile: Es ist die Botschaft eines unbekannten Erpressers. So wie ein Erpresser
seine Forderungen in ausgeschnittene Wörter übersetzt, um so anonym zu bleiben und so Ermittlern nicht seine persönliche Handschrift zu hinterlassen, keinen Hinweis auf seine Identität. Das
Groteske dabei ist: Dieser sogenannte Erpresserbriefstil, seine Anonymität ist ein Stil, ist wiedererkennbar. Jeder assoziiert damit „Punk“ – der Nichtstil, die Nichtidentifizierbarkeit
einer persönlichen Handschrift, das erzeugt also in diesem Fall Stil.
Viele, die später eher als Musiker bekannt wurden, haben zunächst Kunst studiert. Gudrun Gut, Mark Ernestus oder auch ich. Viele Punks der 80er hatten Berufe wie Automechaniker, Verkäufer,
Schaufenstergestalter, manche wurden später Übersetzer oder Konzertveranstalter. Es ist heute viel leichter, Punk-Fanzines, Kleidung und Tonträger ins Museum zu bringen, weil sie ziemlich schnell
als Bestandteil von „Punk“ und der 1980er identifiziert werden. Versucht man das mit der Ästhetik der linksalternativen Szene und ihrer Kunst, ist das viel schwieriger. Die Ästhetik des Bioladens
von heute, der Grünen und ihrer Kultur hat Versöhnung gesucht mit dem Mainstream, ist Teil davon und seiner oft spießig-moralinsauren Ästhetik. Als ich kürzlich ein paar gruselige Sätze des
grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer zum Thema Flüchtlinge las(5), musste ich an Fidus und dessen künstlerische
Entwicklung denken, hoffentlich endet das nicht so. Von der Lebensreformbewegung, Theosophie, Jugendstil, freier Sexualität, FKK hin zum NSDAP-Mitglied 1932. Nach 1945 malte er Stalin – da lag
sein Haus in Woltersdorf in der DDR. Er hatte das Glück, dass Hitler seine Bilder scheußlich fand.(6)
DIE TÖDLICHE DORIS war ein Gegenmodell zur „offiziellen“ Kultur. Was waren hierbei die subversiven Merkmale?
Unsere Absicht war, gleich nachdem wir festgestellt hatten, hier sei so etwas wie Identität entstanden, diese Festigkeit wieder zu dekonstruieren. Genauer: die Strukturen
dieses Festigungsprozesses immer wieder zu analysieren. Dabei nach Möglichkeit nichts zu wiederholen, schon gar nicht das, was besonders gut ankommt und gefällt – oder auch besonders missfällt.
Das war gar nicht mal so leicht. Ziemlich anstrengend, da sich vielleicht jeder Körper nach Festigkeit sehnt. Bands bilden ihre Identität gewöhnlich durch ständige Wiederholung. Sie wiederholen
ihre Musik, ihr Image, ihre Gesten, ihr Programm. So bildet sich ein „Stil“. Genau das wollten wir vermeiden.
Wir bemerkten es an den Einstürzenden Neubauten, mit denen wir uns Anfang der 1980er Jahre am engsten verbunden fühlten: Die Band bestand aus Männern und setzte ein wiedererkennbares
Instrumentarium aus Metall, Schrott und Beton ein. Rasend schnell entstand ein festes Bild, Identität und Image – das auch von außen gebildet wurde. Blixa Bargeld sang von Chaos, Zerfall und der
kollektiven Apokalypse – und dabei entstand genau das Gegenteil: er konstruierte. Diese Konstruktion wirkte wie die Rekonstruktion der Idee einer romantischen Utopie.
Mein Interesse lag damals verstärkt in Realität und Realismus. Vielleicht weil ich Westberlin als so unrealistisch, so traumhaft, grotesk und unwirklich wahrnahm. Im prognostizierten
Weltuntergangsjahr 1984 drehten Nikolaus Utermöhlen und ich einen S-8-Film, der aus den abgefilmten aktuellen Tapetenmustern des Jahres 1984 bestand. (7)
Oder wir vertonten die sieben tödlichen Haushaltsunfälle. Die Wahrscheinlichkeit bei einer Haushaltsreinigung zu sterben, also ganz individuell einen banalen tödlichen Unfall zu erleiden, schien
realistisch zu sein. Dazu wurde auf unserem ersten Tonträger der „neutrale“ Sprachklang des Nachrichtensprechers eingesetzt – die offizielle Nachrichtenkultur wird durch solch eine
Hyperaffirmation irritiert und vibriert. Dieses Stück „7 tödliche Unfälle im Haushalt“, eines unser ersten und bekanntesten, wurde damals nur ein einziges Mal im öffentlich-rechtlichen Radio
gespielt und zwar von SFB-Moderator Wolfgang Hagen. Ich erinnere mich, dass er zu mir sagte, er könne solch ein Stück wegen des brutalen Textes ausschließlich in der Zeit der
Internationalen Funkausstellung spielen – nur da herrsche Chaos und da hörten die Verantwortlichen nicht so genau hin.
Es war eine Zeit der radikalen Herausforderungen und kompromisslosen Selbstversuche. Das Kunstprojekt DIE TÖDLICHE DORIS endete mit der öffentlichen Umwandlung in Wein in einer Flasche.
Welche Symbolkraft steckte dahinter?
Der Gedanke, in welches Lebensmittel sich eine Band namens Die Tödliche Doris 1987 verwandeln oder besser auflösen könne. Bei Weinen gibt es immerhin ein paar mit krassen Namen
wie „Krövers Nacktarsch“ oder „Liebfrauenmilch“, also das könnte funktionieren, dachte ich. Das Kunstwerk löst sich in den Körpern der Menschen auf, fließt dorthin zurück, von wo es ursprünglich
kam und von wo es geformt wurde.
Ist Kunst also immer auch vergänglich und ein zeitliches Phänomen?
Nicht nur die Kunst, alles andere auch.
Wo bleibt dann die Dialektik von Ewigkeit versus Vergänglichkeit, Dauer versus Wechsel, Serialität versus absoluter Originalität? Anders gefragt. Hast du ernüchternd feststellen müssen,
dass sich die Kunst demokratisiert?
Diese Dialektik existiert eh nur als Idee. In der Praxis gibt es weder die absolute Originalität, noch gibt es nur Kopien. Letzteres hat Warhol mit seinen Siebdrucken gezeigt,
die bewusst voller sogenannter Fehler sind, so zeigen sie Ähnlichkeit und Differenz gleichzeitig. Sie sind immer Kopie und Original zugleich. Zum Thema Ewigkeit und Vergänglichkeit hat Timm
Ulrichs mal einen schöne Grabsteininschrift entworfen: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Und zum Thema „Dauer versus Wechsel“ fällt mir die 7inch Vinyl „Fragil – stabil“ ein, die ich
2014 mit meinem Bruder Max gemacht habe.(9) Dort singe ich: „Fragil, fragil, fragil, die Welt ist fragil. Wie-Wie-wie-wie-der-der-ho-lung macht sie stabil.“
Und er spielt die passenden Sounds dazu ein. An die Demokratisierung der Kunst glaube ich nicht, eher an die Gleichheit der Menschen.
Wie hat sich dein Umgang mit Kunst verändert?
Vielleicht ähnlich, wie die Kunst und die Auseinandersetzung damit mich verändert hat.
Die anfangs erwähnte Ausstellung zeigt vor allem eines: wenn Kunst die optimale Gestaltung des Zeitgeistes ist, dann ist alles möglich. Was hast du in diesem Zusammenhang mit DIE TÖDLICHE
DORIS erreicht?
Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich anderen, sozusagen als Teil des Gesamtkonzeptes.
http://www.wolfgangmuellerrr.de