Julia, du bist Autorin, Regisseurin, Kamerafrau und Cutterin. Deine Filme setzen sich mit sexueller Identität und alternativen Lebensweisen auseinander, sind künstlerisch dem
Undergroundfilm und inhaltlich kontroversen und queeren Thematiken verbunden, die im filmischen Mainstream keinen Platz finden.
Warum orientierst du dich an den Nischen des filmischen Erzählens?
Weil ich selbst eine Nische bin! Oder dort zuhause. Ich bin ein Mensch, der sich wirklich in keiner gängigen Schublade und gesellschaftlichem Klischee sowie in den von den
Massenmedien angebotenen (Gender-) Rollenbildern auf Dauer zu Hause fühlt. Und das drücke ich in meinen Filmen aus. Und zwar nicht von einer verkopften pädagogischen Position aus - NICHT im Sinne
von „Hey I got a message“, sondern weil es mein innerstes Bedürfnis ist, sozusagen Spuren von Andersartigkeit zu hinterlassen. Zudem reizt mich die Ästhetik von Subkultur und
Androgynität.
Ich habe Film als Kunstform bei einer radikalen Avantgarde Künstlerin und Feministin namens Birgit Hein studiert. Das hat diesen meinen Ansatz natürlich zusätzlich getriggert und ich konnte mich
dort gut austoben.
Meinen Ansatz habe ich in meinen späteren Langfilmen weiterentwickelt.
«Mich interessiert es Grenzen zu überschreiten und in Frage zu stellen.»
Deine bisherigen Kurz- und Spielfilme erinnern an Performance-Kunstfilme im Arthouse-Stil, die Dokus sind größtenteils in der Subkultur verortet. Was findest du an den progressiven
subkulturellen Szenen reizvoll?
Subkultur ist für mich die Keimzelle von Kreativität und individiduellem Ausdruck, weil Selbstausdruck dort spontan und losgelöst von kommerzieller Vermarktbarkeit
stattfindet.
Das kann man ja gerade in einer Stadt wie Berlin immer wieder beobachten.
Ich fühle mich in der Subkultur seit meiner Pubertät zuhause, ich liebe das rauhe, unfertige, improvisierte und provokante daran. Diese „Fuck you! Wir machen unser eigenes Ding!“ - Attitüde. Auch
wenn sich Szenen als unpolitisch begreifen, liegt darin für mich eine Form von Anarchie. Der Realität zu entfliehen, ein Paralleluniversum zu gründen, das war schon immer die Funktion von
Subkultur. Und die Subkultur hatte ja gerade in Zeiten vor dem Internet noch viel mehr die Natur einer Art geheimen Gesellschaft, wie eine Parallelwelt, zu der man die Eingänge, den Code oder
Menschen kennen musste, um überhaupt Zutritt zu finden.
Darauf spiele ich übrigens auch in der Geschichte meines neuesten sich derzeit im Schnitt befindlichen Spielfilm DARK CIRCUS an.
In den 1980ern waren die Filme, die mich geprägt haben, z.B. das Cinema of Transgression des New Yorker Punk / Kunst Kollektivs, „Die grausame Frau“ von Monika Treut, „Last of England“ von Derek
Jarman und „Dandy“ von Peter Sempel auch von Performance-Kunst geprägt, oder die Auftritte der Einstürzenden Neubauten – auch sie benutzten den Körper als Experimentierfeld.
Performance fand ich schon immer spannend, denn über deinen eigenen Körper kannst du ja wirklich selbst bestimmen. Aber wenn du daran sichtbar die Grenzen austestest, empfinden die Zusehenden das
provokant und es geht ihnen nahe, obwohl es dein Körper ist.
Während ich Film studierte, war an unserer Filmhochschule auch die Performance-Künstlerin Marina Abramovich tätig und die stattfindenden Aktionen - manchmal am Rande des Wahnsinns - ein großer
Einfluss.
Julia, woher stammt dein Interesse fürs Filmen? Gab es hierfür ein spezielles Erlebnis?
Ich finde schon, dass Film das interessanteste visuelle Medium mit der größten Magie ist, weil es am stärksten dazu in der Lage ist den Rezipienten emotional mitzunehmen, und
es die Ebenen Bild, Sprache und Musik miteinander verbindet. Da mir Musik auch immer sehr wichtig war, war es für mich die perfekte Kombination.
Es gibt kein einzelnes Erlebnis, es waren einfach Filme jenseits des Mainstreams und natürlich eher Low Budget produzierte Underground-Filme, die mich inspiriert haben, mir selbst zunächst mal
eine Super-8-Kamera zu kaufen und mit meinen Freunden zu drehen: am meisten das Cinema of Transgression aus New York um Lydia Lunch, Nick Zedd und Richard Kern.
«Chaos und Struktur in Kombination ist eigentlich genau das, was es braucht, um mit anderen Menschen die unglaublichsten Dinge und interessante Projekte auf
die Beine zu stellen.»
In einem Interview(1) hast du gesagt, du
seist von der Punkbewegung infiziert und von der DIY-Ethik inspiriert. Hast du diese Erkenntnisse erst während der Arbeit und Recherche zu NOISE&RESISTANCE gewonnen?
Nein, mein Interesse an Punk stammt aus den 80er Jahren und ich konnte den Film auch nur drehen, weil
ich selbst Teil dieser Szene bin und weiß, wie sie funktioniert. Andere Leute bekommen dort auch keine Drehgenehmigung und auch für uns war es nicht immer einfach.
Aber das ist ja das gute daran – es bleibt etwas Besonderes.
In dieser Doku über die europäische, politische Punk-, HC-, HausbesetzerInnen und Wagenplatzszene haben du und Francesca Araiza den politischen Widerstand und den Ausdruck eines
Lebensgefühls eingefangen. Was hat dich während des Drehs und des Eintauchens in die „Underground-Szene“ besonders beeindruckt?
Für mich waren die Szenen in Barcelona das Highlight und generell ist es erstaunlich, dass Chaos und Struktur eigentlich keine Gegensätze sind (so wie das in der deutschen bzw.
mitteleuropäischen Mentalität gerne wahrgenommen wird), sondern wunderbar zusammengehen. Chaos und Struktur in Kombination ist eigentlich genau das, was es braucht, um mit anderen Menschen die
unglaublichsten Dinge und interessante Projekte auf die Beine zu stellen.
Außerdem war es beeindruckend, die Leute von CRASS zu treffen, besonders Gee Vaucher.
Sie ist ja ungefähr eine Generation älter als ich und verkörperte für mich eine politische und persönliche Integrität und auch eine Lebensweise, zu der Zeit alleine im Dial House westlich von
London, die mich sehr beeindruckt hat.
Nach welchen Kriterien habt ihr die Auswahl an Orte und Personen festgelegt?
Wir hatten jede eine persönliche Liste mit Favoriten (dazu gehörten auch die Leute von Crass) und dann sind wir eher so vorgegangen, dass wir eine Bandbreite von Ländern und
Positionen repräsentiert haben wollten. Und jede hatte zusätzlich ihre Schwerpunkt-Themen. Mir war es sehr wichtig, das queere und auch viele Frauen mit drin zu haben, weil das mein großer
Kritikpunkt an der Punk-Kultur und besonders -Bands ist, dass es – außer in Schweden - immer noch so viel mehr Typen als Frauen auf Bühne und anderswo gibt. Und dass Queerness auch eher am Rand
stattfindet.
Bei all deinen Arbeiten entdecke ich im Kern eine kreative Radikalität. Was bedeutet für dich radikales Denken?
Erstmal vielen Dank – ich fasse das als großes Kompliment auf, weil radikales Denken es einem/r ja nicht gerade leichter macht. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich empfinde mein Denken nicht
als radikal, ich versuche nur relativ bedingungslos umzusetzen, was ich an Ideen und Visionen in mir vorfinde. Und das ist ein ständiger Prozess.
Ich würde sagen, es ist nicht nur radikales Denken, sondern auch radikales Fühlen, als Basis für kreative Existenz. Ich kann dazu nicht mehr sagen, weil ich einfach so bin.
Des Weiteren hältst du vor Augen, was ansonsten in der Öffentlichkeit vorenthalten, tabuisiert bleibt. Befürchtest du, mit deinen Filmen die Originalität des Alltäglichen gewöhnlich zu
machen?
Warum sollten meine Filme etwas gewöhnlich machen, wenn mich in meinen Arbeiten weder der Alltag noch das Gewöhnliche als solches interessiert und die Filme darüberhinaus wohl
leider oder zum Glück sowieso niemals die große Masse erreichen?
In deinem Kurzfilm Sexjunkie(2) gibt es
erotische bis pornografische Bilder. Wie kritisch und selbstregulierend bist du im Umgang mit Nacktheit, ohne Gefahr zu laufen, Sexismus zu produzieren?
Also diese Sexismus-Vermutung, wo immer nackte Haut zu sehen ist, bzw. diese alte Geschichte, besonders beliebt in der politisch korrekten Linken, Sex bzw. Erotik und Sexismus
zu verwechseln oder gar von vornherein gleich zu setzen, geht mir total auf die Eier.
Wenn ich als Frau meinen eigenen Körper lustvoll selbst inszeniere, wo ist da Sexismus?
Ich habe es ja unter anderem gemacht als Kritik und um der Masse der von Männern und der Erotik-Industrie produzierten Bilder etwas Eigenes entgegenzusetzen – etwas Rohes und gleichzeitig auch
verbal sehr direktes. Denn mir ging es in Sexjunkie auch darum, die von Sexualität ausgelösten Gefühle in Bilder oder Worte zu fassen – und damit geht mein Film weit über ein
oberflächliches Präsentieren von Nacktheit hinaus.
Aber selbst wenn es anders gelesen wird und jemand die Bilder geil findet – wo ist das Problem?
Ich weiß nicht, wie das in anderen Städten ist, aber hier in Berlin werden in der linken Queer Szene ständig künstlerische Kurz-Pornos gedreht, die dann einmal im Jahr auf dem Pornfilmfest
gezeigt werden – also ich hoffe, das damit das Thema Sexismus endgültig vom Tisch ist.
Selbst Filme mit Sex darin zu drehen, sehe ich als: Reclaim your own body und ist prinzipiell 'ne feine Sache.
«Wenn mein Ansatz feministisch ist, dann feministisch-sexpositiv!»
Wie charakterisierst du die Rolle der Frau(en) in deinen Filmen? Du zeigst auch Frauen in erotischen bis hin zu pornografischen Handlungen. Wie ziehst du die
Grenze zwischen Kunst, Erotik und Pornografie?
Ich bin nicht gut im Grenzen ziehen, ich setze eher auf Transgression, also mich interessiert, es Grenzen zu überschreiten und in Frage zu stellen. Ich habe keine Angst vor
Pornographie, aber sie interessiert mich im Moment auch nicht (mehr). Ich habe nie Pornos konsumiert. Es geht mir darum, in einer von männlich-heteronormativer Wahrnehmung geprägten Medienwelt
neue, eigene Körperbilder zu kreieren. Mich interessiert Erotik sehr, in dem Sinne, mit visuellen Mitteln gleichzeitig Verlangen zu evozieren, aber dabei auch zu verstören und Wahrnehmungsmuster
in Frage zu stellen.
Für mich ist das Begehren im Batailleschen Sinne mit einer Form von existentieller Verzweiflung verknüpft, weil wir ja nie genau das bekommen, was wir uns wünschen, sondern es ist immer nur eine
Ahnung dessen, was sein könnte, eine Utopie. Und deshalb finde ich Erotik interessant, weil sie andeutet, so dass der Zuschauer eigene Fantasien haben kann, während das pornographische Zeigen von
jeglichen Details von Sex für mich eher langweilig ist.
Ich habe mich für meinen Film Sexjunkie auch mit anderen beim Sex in verlassener Industrie gefilmt, weil ich an diesem Punkt sehen wollte, ob es mir damit gelingt, eine persönliche leicht
apokalyptische Erotik zu kreieren. Selbstexperimente finde ich auch spannend. Ich habe mal als Darstellerin in einer BDSM-Szene in einem queeren Porno von Emilie Jouvet mitgewirkt.
Wie wichtig ist dir ein feministischer Ansatz im Umgang mit Sexualität in Wort und Bild und das Brechen letzter Tabus?
Ich habe einen individuellen Ansatz, und wenn das dann feministisch ist, weil ich als Frau gesehen werde, ist das für mich ok, aber nicht intendiert.
Es kotzt mich an, dass Frauen, die offen dazu stehen, dass sie Lust auf Sex haben, anscheinend immer noch furchteinflößend sind. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurde sogar ein psychisches (von
Männern erfundenes) Krankheitsbild daraus gesponnen: Nymphomanie, wurde in den USA z.B. mit Elektroschocks behandelt. Wenn mein Ansatz feministisch ist, dann feministisch-sexpositiv.
Auf keinen Fall im Sinne von „Women only“ oder Geschlechtertrennung.
Mein Weltbild ist kein zweigeschlechtliches. My films are for all genders.
Mit den Tabus wiederum – da frage ich mich zur Zeit immer, was ist eigentlich passiert?
Es scheint keine echten Tabus mehr zu geben, in Zeiten von youtube, youporn etc.
Viele Filme, wegen denen in den 80ern in den Kinos randaliert wurde oder die indiziert wurden, sind jetzt problemlos im Internet zu finden.
Aber gleichzeitig macht sich eine Art von kollektiver Spießigkeit und Mittelmaß in der Masse breit – wie ich beobachte – und erschreckenderweise auch in den Köpfen der ganz jungen Leute.
Der allgemeine Mut zum Experiment ist meiner Meinung nach gesunken.
Mein Antrieb ist und war es nie, gezielt Tabus zu brechen. Wenn Sexualität als essentieller Teil von Existenz immer noch ein Tabu sein soll, ist das nicht mein Problem – aber auch nicht der
Grund, warum ich mich damit beschäftige. Ich finde Sexualität und was sie mit Menschen macht einfach spannend und die Mainstream-Bilder davon und darüber meistens schlimm oder langweilig.
Also mache ich eigene Bilder.
In SEXJUNKIE betonst du den Objektstatus des weiblichen Körpers in der gegenwärtigen Gesellschaft, zum anderen rückst du den weiblichen Körper in den Mittelpunkt der Selbstdarstellung.
Ist Sexjunkie also primär ein Essay, die Widersprüche von Sex und Liebe darzustellen?
Ich finde, dass ich in keiner Weise den Objektstatus betone, da ich in dem 10minütigen Film von Anfang an mich selbst zeige, und meine Stimme im Voiceover zu hören ist, so dass
ich das absolute Subjekt des Films bin und ausserdem noch den Zuschauer in meine subjektive Perspektive hinein nehme. Und schon deshalb ist es kein Porno - (Ich hab genau über diese Frage mit
diesem Film mein Diplom gemacht) - weil er gleichzeitig über Sexualität reflektiert.
Sexjunkie kann als Essay oder meine persönliche Sex-Selfploitation (wie Jörg Buttgereit das mal sehr schön in einem Review formulierte) gesehen werden.
«Selbst Filme mit Sex darin zu drehen, sehe ich als: Reclaim your own body und ist prinzipiell 'ne feine Sache.»
Die Nacktheit in deinen Filmen offenbart einen bildlichen Kontrast zwischen entblößtem Mensch und der Schutzlosigkeit des Einzelnen. Während es in Sexjunkie um Nacktheit als Ausdruck von
Verletzlichkeit und Intimität geht, ist es bei Saila bspw. der performative, choreographische Ansatz, sich beim Tanzen zu entblößen. Was willst du mit Nacktheit ausdrücken?
Also erstmal sind wir da ja wieder beim Thema Erotik, und natürlich interessiert es mich in dem Zusammenhang, Körper zu zeigen. Daraus besteht der Mensch nun mal, richtig ?
Aber wenn du genau hinschaust, sind die Menschen in meinen Filmen selten ganz nackt, fast immer haben sie noch irgendwas an, z.B. Netzstrümpfe, Stiefel oder Masken...
In meinem neuesten Werk, Dark Circus, das ich gerade schneide, habe ich damit noch mehr gespielt, und gemerkt, dass ich den Körper mit Accessoires verfremdet viel interessanter finde als seine
totale Nacktheit. Weil das wieder mehr in diese Richtung geht, etwas anzudeuten, was sein könnte – ohne alles zu offenbaren. Und damit findet für mich mehr im Kopf statt als wenn - wie an einem
FKK-Strand - ein nackter Mensch durchs Bild läuft.
Wir sind ja zum Glück nicht in den USA – wo es schlimmer ist nackt zu sein, als eine Waffe zu tragen.
Es geht in deinen Filmen SAILA, Sexjunkie oder DARK CIRCUS um Fetische. Das finde ich einen interessanten Aspekt. Schließlich können Fetische auch als Herausforderung gesehen werden,
Grenzen zu übertreten oder eine politische Botschaft vermitteln...
Das ist eine interessante Zusammenfassung dieser drei inszenierten Filme von mir.
Fetisch ist ein roter Faden, den ich sehr spannend finde, weil daraus ja auch eine Entwicklung der letzten 12 Jahre deutlich wird. Und grundsätzlich kann ja (fast) alles fetischisiert werden, wie
ein Freund von mir erklärte. In meinem Fall heißt das: Von Endzeitästhetik über Stiefel zu Androgynität. Die Liste ist beliebig erweiterbar.
Mein neuer Lieblings-Fetisch ist der Wald als Ort und Tier-Masken bzw -Kostüme.
Wir hatten bei Dark Circus auch ein ganz tolles „Pony“ am Set...
Aber eigentlich benenne ich diese Fetische für mich selbst nicht, ich inszeniere einfach Welten, die ich spannend, ästhetisch und sexy finde. Und das ist mein Vorteil als Underground-Filmerin:
Ich habe zwar limitierte oder gar keine Budgets, aber dafür kann ich ohne Kompromisse meine Vorstellung umsetzen – sofern ich die Menschen finde, die meine Vision teilen.
Und das ist etwas unendlich spannendes.
Mit Gender X hast du eine Hommage speziell an die traditionsreiche Berliner Tunten-, Drag Queen- und MtF-Transgender-Szene gedreht.
Ging es dir sekundär auch darum, einen öffentlichen Diskurs anzuregen, um queer-feministische Gegenöffentlichkeiten zu stärken und in den hegemonialen Diskurs einzugreifen oder um
heteronormative Grenzen zu überschreiten?
Natürlich geht es darum, heteronormative Grenzen zu überschreiten, aber hegemonialer Diskurs...?! Wie gesagt, ich verstehe mich nicht als Polit-Aktivistin. Aber es ist nun mal
so, dass meine Filme Themen auf eine Art darstellen, wie sie im Mainstream oder Fernsehen nicht möglich ist.
Das Persönliche ist politisch. Und ich denke, die Qualität von Gender X liegt darin, dass der Zuschauer mit mir zusammen eine Welt betritt, zu der er sonst keinen Zutritt hätte, und sehr eigene,
unterschiedliche und teilweise auch humorvolle Standpunkte und Einsichten dazu bekommt, wie Geschlechtsidentität jenseits von reiner Zweigeschlechtlichkeit aussehen könnte. Ich war ja allein mit
meiner Kamera und Mikro unterwegs, kein Team, nur ich und mein kleiner Fragenkatalog, und ich wusste selbst nicht, wie die Antworten ausfallen würden. Und aus diesen Statements habe ich dann die
für mich am wichtigsten erscheinenden zusammengestellt.
Hast du dich für Gender X von Judith Butler inspirieren lassen? Butler erörtert Fragen, die sich mit der Natürlichkeit von Geschlecht und Begehren auseinandersetzen. Das kommt in dieser Doku auch
sehr gut zutage....
Ich bin ganz ehrlich keine große Theoretikerin und meine Inspiration ziehe ich aus meiner eigenen Wahrnehmung, vermischt mit Einflüssen aus meiner Umgebung, persönlichen
Begegnungen und der Popkultur. Mir ist Butler bekannt, aber ganz ehrlich – ich habe das eine oder andere Essay, aber kein ganzes Buch von ihr gelesen.
Ich geh lieber ins echte Leben und rede mit Menschen oder beobachte sie.
Das Thema fließende oder uneindeutige Geschlechtsidentität, das Spiel mit Gender-Roles in Gender X hat mich sehr interessiert. Man könnte sagen: Nachdem ich die Darstellung des weiblichen
Körpers an mir selbst erforscht habe, bin ich dazu übergegangen, das Phänomen „Drag“ als Teil von Transgender zu untersuchen – denn letztendlich ist eine Drag Queen ja die Inszenierung von
Weiblichkeit am männlichen Körper.
Aber der Film bewegt sich dann inhaltlich mehr und mehr weg von „drag“ hin zu fließenden Geschlechtergrenzen und was möglich ist.
Transgender in diesem Sinn bedeutet sich nicht mit dem biologischen, sondern einer anderen selbstgewählten Geschlechtsidentität zu identifizieren. Und zwar egal, ob man / frau sich deswegen
operieren lassen möchte oder nicht. Und das finde ich total spannend.
«Ich arbeite aus dem Unbewussten und meiner Intuition heraus, versuche das zu inszenieren, was ich selbst gerne sehen will. Und auch was es nicht so häufig
gibt.»
Sex, Gewalt, Obsessionen sind zentrale Aspekte in einigen deiner Arbeiten. Wie wichtig ist dir hierbei Konfrontation, um gesellschaftliche, moralische und ethische Normen
infragezustellen?
Sex, Gewalt, Obsessionen - tatsächlich? Okay, – dann reden wir über meine Inszenierungen – Saila, und Dark Circus. SAILA ist eine Dystopie um eine androgyne Frau in einer
gesetzlosen Zone, einem Niemandsland, wo sie die Männer, mit denen sie Sex hat, tötet oder verschwinden lässt – was aber auch zum Teil der Wahrnehmung des Zuschauers überlassen bleibt.
Bei Dark Circus geht es um die Spiegelung zweier Frauenfiguren, in der Realität und einer bizarren Parallelwelt, eine Art Alice-in-Wonderland für Erwachsene. Traum / Alptraum, Surreales und
Fetischwelten vermischen sich. Für mich steht im Vordergrund die Atmosphäre und wie der Hauptcharakter des Mädchens Johanna unterschiedliche Stadien einer Transformation durchläuft.
Ich finde Obsessionen sind super und notwendig, und ich denke, es geht in meinen Filmen um eine starke Körperlichkeit, die dem deutschen Mainstream Kino abhanden gekommen ist.
Wichtig ist mir, wenn es um Sex oder Gewalt geht, dass die weiblichen Figuren hierbei eine aktive Rolle einnehmen. Sie sollen bei mir Täter und gerne auch Penetrierende, also on top sein. Die
Welt ist voll von Frauen als Opfern, der Horrorfilm bevölkert von misshandelten Frauen(körpern).
Dem möchte ich tatsächlich etwas entgegensetzen.
Aber ansonsten bin ich keine Konzept-Künstlerin, die sich rational überlegt, wie sie das Publikum konfrontieren oder Normen in Frage stellen will. Ich arbeite aus dem Unbewussten und meiner
Intuition heraus, versuche das zu inszenieren, was ich selbst gerne sehen will. Und auch was es nicht so häufig gibt.
Also mache ich Filme über das, inszeniere Bilder mit dem, was mich persönlich fasziniert, interessiert oder berührt - und ob und was ich damit in Frage stelle, liegt letztendlich im Auge der
BetrachterIn. Aber meine Motivation kommt ausschließlich aus meinem eigenen Empfinden, da finde ich genug abseitiges. Mich interessiert ein körperliches erfahrbares sinnliches Kino, das alle
Sinne anspricht mehr als ein intellektuelles.
Du schneidest zur Zeit deinen zweiten Spielfilm „Dark Circus“, der in Kürze – eher als geplant – Premiere feiert.
Was sind Gemeinsamkeiten, in Machart und Inhalt zu deinem ersten Spielfilm SAILA – Punk Dystopia (2008), wo siehst du Unterschiede oder „Weiterentwicklung“?
Inhaltlich gibt es die Gemeinsamkeiten, dass es wieder eine düstere Atmosphäre und starke Frauenfiguren gibt, die sich in Außenseiterpositionen befinden und sich dabei spiegeln
bzw ergänzen. Es gibt düstere, nicht explizite Erotik Szenen und einen sehr guten Soundtrack.
In der Machart ist die Gemeinsamkeit, dass es mal wieder keine Filmförderung gab, da das Thema nicht fernsehtauglich ist, und wir im stetig wachsenden Kollektiv innerhalb eines Jahres dennoch den
Film gedreht haben. Ohne dass irgendwer dafür bezahlt wurde.
Die Unterschiede und Weiterentwicklung: Es gab ein Drehbuch. Der Film hat mehr Dialoge und eine Storyline. Es gab eine Film-Crew, incl. Kamera- und Tonmann und einen Setfotografen. Ich habe
selbst nur die zusätzliche, aber nicht die Haupt-Kamera gemacht. Es gab 10 verschiedene Drehorte (mit Genehmigung). Ich habe mit SchauspielerInnen gearbeitet. Wir haben in Kinoqualität gedreht
und insgesamt waren an die 100 Leute an dem Projekt beteiligt. Also größer als alle meine Filme vorher.
Was hat dich am Thema Okkultismus gereizt? Geht es auch um den Blick in die eigene Zukunft?
Beim Okkultismus interessiert mich die Bilderwelt, das Symbolische und die Mystik, womit ich mich schon seit vielen Jahren beschäftigt habe, z.B. indem ich Tarotkarten
lege.
Beim Thema Okkultismus denkt aber auch jeder an etwas anderes. Das Wort löst bei manchen Menschen seltsame Assoziationen aus. Auf keinen Fall hat es für mich etwas mit (neo)faschistischem
Gedankengut zu tun.
Für mich ist es eine Parallelwelt, ich finde das Rituelle daran interessant, weil es in der filmischen Umsetzung Raum für Performances und kollektive Grenzüberschreitung bietet.
Die Bilderwelt von Dark Circus ist dabei stark von Fetish und BDSM-Ästhetik beeinflusst.
Meine Inspiration kommt einerseits aus der Musik, Doom und Black Metal, von Bands wie Electric Wizard aber auch von Okkult-Filmen aus den 70er Jahren, sowie der Recherche über reale mystische
oder okkulte Gemeinschaften wie z.B.TOPY (Temple of Psychick Youth). Und daraus habe ich dann den fiktiven matriarchalen Kult im Film geschaffen.Bei beiden Filmen arbeitest du vor der Kamera mit
Performance und spontaner Improvisation.
Wie erreichst du einen Zugang zu den Charakteren? Lässt du dich auf eine Eigendynamik der Charaktere ein, forderst diese sogar?
Für den Film Dark Circus habe ich über ein Jahr an dem Script gearbeitet. Die Figuren sind zu einem Teil von mir geworden, besonders die beiden Hauptfiguren tragen vermutlich
Charakterzüge von mir selbst.
Es war nicht einfach, die DarstellerInnen hierfür zu finden, weil ich eine sehr genaue Vorstellung hatte. So habe ich sehr viele Gespräche geführt, es gab Try and Error, eine Schauspielerin ist
abgesprungen, weil wir in der Suspension-Szene mit echtem Blut arbeiten (das hatte ich ihr aber vorher gesagt)…ein langer Prozess, der tatsächlich viel Eigendynamik beinhaltet. Letztendlich wurde
die Hauptrolle der Herrin mit einer Performance-Künstlerin besetzt. Sie passte perfekt auf die Rolle und hatte einen sehr intuitiven Zugang zur Figur. Weil sie z.B. mit dem Charakter einer Domina
vertraut ist und der Figur so ihre eigene Note geben und das Script mit eigenen Ideen bereichern konnte. Das war kreativ hat mir sehr viel Erklärungsarbeit abgenommen.
Die Rolle des jungen Mädchens Johanna ist sehr gegensätzlich und ich habe sie mit Angela Romacker gemeinsam erarbeitet. Ihrer Offenheit ist es zu verdanken, dass die innere und äußere
Verwandlung der Figur innerhalb der Geschichte des Films hervorragend funktioniert. Sie kommt von der Schauspielschule, ist 26, kann aber auch wie 17 aussehen und hat für Dark Circus Sachen
ausprobiert, die ihr vorher noch nie so begegnet sind. Das war beeindruckend.
Das von dir geschriebene Script für Saila bekamen die LaiendarstellerInnen oft nur wenige Tag vorm Dreh. Bedeutet Improvisation und Authentizität nicht auch mehr Stress am
Drehtag?
Es ist eine durchaus gängige Vorgehensweise im Film, dass nicht jeder Darsteller das ganze Script bekommt. Bei einem Projekt wie diesem kommt dazu: es wird nicht in einem Stück
gedreht, sondern wir treffen uns über ein halbes Jahr verteilt immer wieder für 1-2 Tage, und dann bekommen die Mitwirkenden immer die Szenen, die dann gedreht werden.
Die Komparsen findet man oft erst Tage vorher, und um an einer Szene teilzunehmen, müssen sie ja nicht das ganze Script lesen.
Nur die HauptdarstellerInnen, die mehrere Szenen haben, kennen das komplette Script.
Bei dem Film SAILA -Punk Dystopia wiederum hatten wir überhaupt kein Budget, und um das Original-Script zu verfilmen, hätten wir eine größere Förderung gebraucht.
Also habe ich das Script auf No-Budget umgeschrieben und es wurde mit Improvisation und im Punk Style mit dem vorhandenen gearbeitet: Das hieß, Guerilla-Stil, also ohne Drehgenehmigung zu
arbeiten, was sich nicht bis ins Letzte planen lässt. Und erst wenn ich wusste wie der Ort aussieht, konnte ich den Ablauf der Szene festlegen und ein provisorisches Script dafür schreiben – was
dann eben erst kurz vorher fertig war.
Dann gingen wir mit einer Gruppe an den Ort, kletterten über den Zaun, entwickelten die Szene an den Gegebenheiten und drehten dann so viel wie möglich.
Außerdem war es mir bei SAILA in erster Linie wichtig, eine Stimmung – diese Endzeit-Punk-Atmosphäre zu erzeugen, und ich wollte, dass die Leute nicht ständig darüber nachdenken, wie sie
sein sollen, sondern einfach in diese Welt eintauchen und dabei den Charakter aus sich heraus entwickeln.
Wenn ich davon ausgehe, dass du bei einem Spielfilm zu deinen Figuren genaue Vorstellungen hast, wie sie sich verhalten/aussehen sollen...wie konsequent setzt du das dann um und wie
schwierig ist es, diese Vorstellung auf eine*n LaiendarstellerIn umzusetzen?
Ich setze das so konsequent um, wie es sich für mich richtig anfühlt.
Wie oben angedeutet, will ich gar nicht, dass die Darsteller nur meiner Vorstellung entsprechend agieren, abgesehen davon, dass sie ihren Text beherrschen sollten. Ich möchte im Grunde, dass auch
sie von sich aus der Figur eine spezielle Note geben, denn deswegen wähle ich sie für die Rolle aus. Also ich erwarte auch eine gewisse Kreativität von den DarstellerInnen.
Und ich mag den Begriff Laiendarsteller überhaupt nicht. Es sind einfach alles Darsteller, und es gibt viele Wege, gut darin zu sein, vor der Kamera zu stehen und einen Charakter zu
verkörpern.
Für DARK CIRCUS haben übrigens alle DarstellerInnen das komplette Drehbuch bekommen, vor den jeweiligen Drehs noch einmal die Szenen im Detail, und ein paar Tage vor dem Dreh haben wir uns sogar
wenn möglich zur Probe getroffen. Also relativ klassisch und strukturiert diesmal.
Was passiert, wenn du die Kontrolle für eine Szene verlierst?
Das kenne ich nicht. Es gibt ja beim Film immer die Möglichkeit „Cut“ zu rufen und von vorne anzufangen, außer der Zeitplan lässt es nicht zu.
Bis zu einem gewissen Ausmaß provoziere ich im Sinne eines Cinema of Transgression bei Massenszenen eine Form von Eigendynamik – die von außen gesehen an „Kontrollverlust“ heranreicht. Das
passt nun mal zu Ritualszenen.
An sich ist anscheinender Kontrollverlust sogar ein probates Mittel, um gewisse Stimmungen zu erreichen und mit der Kamera einzufangen, denn ich will ja, dass die Teilnehmer sich zu einem
gewissen Grad in der Szene verlieren. Die Leute sind am besten, wenn sie nicht mehr darüber nachdenken, was sie tun.
„Pure kaos against total kontrol“ war das Motto der größten Performance und Ritual-Szene von Dark Circus mit dem Suspension-Künstler Louis Fleischauer/ Aesthetic Meat Front. Und wie der
Titel schon sagt, ist Evozierung von Kontrollverlust im Sinne ursprünglicher archaischer Energie Teil des Konzepts.
In der Szene wird also eine Frau an Haken langsam hochgezogen, während mehrere andere maskierte und mit Körper-Makeup verfremdete Menschen durch Haken in ihrer Haut mit grossen Drahtspiralen
verbunden werden. Auf diesen Metallsträngen erzeugt Louis dann Sounds, die vermischt mit anderen Instrumenten und Sprachelementen auf PA übertragen zu einer Art Industrial-Symphonie werden, zu
der sich alle Anwesenden bewegen und untereinander agieren...
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