LOTTA #62
68 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-
Lotta, Am Förderturm 27, 46049 Oberhausen
www.lotta-magazin.de
Selbsternannte Hilfssheriffs als "Ordnungshüter". Der Schwerpunkt thematisiert das Phänomen der "Bürgerwehren", die vor allem im Zuge der Silvesterereignisse in Köln und durch die "erneute
Verknüpfung von Diskurse um Kriminalität und sexualisierte Gewalt mit der Thematik Flucht und Asyl" einen Gründungs-Boom erfahren.
Die Bürgerwehren fühlen sich berufen und bemächtigt, "deutsche Frauen zu schützen" und für Sicherheit in ihrer Nachbarschaft zu sorgen. Doch meist sind sie kurzlebig und sind in soziale Netzwerk
aktiv.
Im Falle extrem rechter „Bürgerwehren“ geht es auch um die Wiederaneignung von Handlungsstrategien, wie sie bspw. die Kameradschaftsgruppe Skinheads Sächsische Schweiz ausüben:
- Etablierung alternativer Machtzentren auf der Straße
- Einschüchterung von Opfergruppen
- Verdrängung von (politischen) GegnerInnen
- Schaffung von Angsträumen.
Schon im 19. Jahrhundert hätten sich in Deutschland unter dem Oberbegriff Bürgerwehr viele "Zusammenschlüsse bewaffneter Bürger" gegründet. Dies endete mit der Monopolisierung der Gewalt beim
Zentralstaat.
Dass es schon vor den Gewalttaten in Köln Bürgerwehren gab, die politisch beobachtet wurden, geht auch aus einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke vom Dezember 2015 an die Bundesregierung
hervor(1). Sie erfragte "Aktivitäten von
sogenannten Bürgerwehren im Zusammenhang mit Neonazis und Flüchtlingsunterkünften". In ihrer Antwort teilte die Bundesregierung mit, dass "politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit
Bürgerwehren" durch den Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) erfasst werden.
Die Silvesterereignisse in Köln und anderen Großstädten brachten dann einen neuen Schub für die Gründung von Bürgerwehren. Distanzieren sich einige Bürgerwehren wie die "Bonner Bürgerwehr" auf
ihrer Facebookseite ausdrücklich "von jeder Form von Gewalt, Fremdenhass, Terrorismus und Rassismus!" und von Einsatz von Waffen, werden im LOTTA-Schwerpunkt auch extrem rechte Bürgerwehren
aufgezeigt, die "ein neues Handlungsfeld der sozialen Bewegung von rechts eröffnen: ein nicht nur wehrhafter, sondern ein offener Rassismus."
Die meist extrem rechte Mitglieder geben in den neu gegründeten Bürgerwehren den Ton an, wie Johannes Lohmann im Artikel "Bei Sichtkontakt schießen" recherchiert und die ein Ventil für
"Rassismus, Gewaltverherrlichung und Menschenverachtung" repräsentieren. Ab August 2014 organisierte die Partei „DIE RECHTE“ zunächst in Dortmund einen sogenannten Stadtschutz.
Der im Juni 2015 gegründeten „Bürgerwehr FTL/360“ gehöre Mitglieder an, die Verbindungen in die regionale neonazistische Szene, unter anderem zu den „Freien Kräften Dresden“ unterhalten.
Die „Bürgerwehr FTL/360“ gründete sich nach eigenen Angaben vor dem Hintergrund angeblicher Vorfälle mit Asylbewerbern auf der Fahrtstrecke einer regionalen Buslinie (der Nummer 360).
Gesamteindruck:
Ob "Bürgerwehr", "Deutschland passt auf", "Stadtschutz" oder "Altstadt-Spaziergang". Viele neu gegründete Facebook-Gruppen löschen ihren Auftritt wieder, beispielsweise die "Bürgerwehr Kleve",
die "Bürgerwehr Landshut – Gemeinsam stark sein" und die "Bürgerwehr Friedrichshafen". Es handelt sich hauptsächlich um virtuellen Aktionismus. Doch Neonazis haben ihre Chance erkannt und
profilieren sich auch als "legitime Ordnungshüter", weil sich hier Freiräume eröffnen. Mit dem angeblichen Ziel, BürgerInnen vor Straftaten schützen zu wollen, richten sich die real aktiven
Bürgerwehren jedoch vor allem und insbesondere gegen Flüchtlinge und deren Unterbringung. Diese Bürgerwehren werden verstärkt von rechts unterwandert, sofern sie nicht selbst von extrem rechten
Personen gegründet wurden. Der Bürgerwehr Augsburg gehören vorwiegend rechte Hooligans an, die hier ein neues Aktions- und Tätigkeitsfeld sehen.
Polizei und Politik haben noch keinen sicheren Umgang und Konsens mit der Problematik gefunden. Für die Sicherheitsbehörden des Bundes erlangen sogenannte Bürgerwehren erst dann Bedeutung, wenn
sich tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Bestrebung im Sinne des § 3 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ergeben oder diese aufgrund strafrechtlicher bzw.
gefahrenabwehrrechtlicher Sachverhalte in Erscheinung treten.
Ein öffentlich unsensibel geführter Diskurs wird weiter rechten Hetzern in die Hände spielen und die Zahl der Übergriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte auch im neuen Jahr weiter in die Höhe
treiben. Dagegen fordern antirassistische und feministische Aktivisten eine konsequente Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Rassismus. Wir benötigen aus antifaschistischer und
feministischer Perspektive intersektionale Konzepte gleichermaßen zu Rassismus und Geschlechterverhältnissen und eine eine konsequente Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Rassismus
in Schulen, Vereinen und anderen Ebenen.