Göran Gnaudschun war 1996 mit seiner Band 44 LENINGRAD(1) auf Tour, als er Menschen aus der Punk-Subkultur fotografiert und so die Höhepunkte des Tour-Gefühls als eine Gegenspur zur Normalo-Existenz kontrastiert. Irgendwo in den ostdeutschen Provinzen zwischen Hoyerswerda und Riesa nimmt Göran aktiv teil und taucht ein in die Subkultur, die für viele eine Sackgasse, eine Endstation zu sein scheint. Die Bilder werden als eine Art erzählerischer Szene-Report in »LONGE - 44 LENINGRAD« dokumentarisch festgehalten und ausgestellt.
„Die Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit der fotografischen Perspektive ist Gnaudschuns Trumpf. Das Mitmachen in der Band gibt den Fotos einen rauhen Sound, street credibility eben - es
lenkt ab, schärft aber auch Göran Gnaudschun den Blick und akzentuiert Problemsituationen. Diese Fotos haben eine Textur, die mehr hergibt als etwa eine bebilderte Bandgeschichte mitzuteilen in
der Lage wäre.
»LONGE - 44 LENINGRAD« spricht eine Art nichtkorrumpierter Sprache jenseits der Worte und spielt sich auf einem atmosphärischen Plateau ab, das suggestiv und distanzierend zugleich wirkt.
Gnaudschuns Bilder, verklammert zwischen Kameraobjektiv und Gitarrensaite, brauchen kein Interpretations-Feedback, weil ihnen bereits ein ungewöhnlich weites Bewußtsein für sinnfällige
Verbindungen musikalisch eingeschrieben ist...“(2)
Zwischen 2010 und 2014 ist Göran auf dem Alexanderplatz in Berlin unterwegs gewesen, immer einmal die Woche, manchmal bis spät in die Nacht hinein. Das Langzeitprojekt „Alexanderplatz“ zeigt
stille Porträts, voller Ruhe und Ernsthaftigkeit. Vertrauen spricht aus ihnen, ein spezieller Moment ist entstanden, der nur dem Porträtierten und seinem Fotografen gehört. Sie zeigen auch viele
Gegensätze, ambivalentes und rätselhaftes, intimes und verletzliches: Abbilder der Wirklichkeit. Göran hat aber nicht nur fotografiert, sondern auch unzählige Interviews geführt und Tagebuch
geschrieben. Seine Porträts sind gemeinsam mit Schnappschüssen, Interviews und Tagebucheinträgen unter dem Titel „Alexanderplatz“ (Fotohof edition Salzburg, 218 Seiten, 30 €) als Buch
erschienen(3).
„Was passiert, wenn die Enge von Familien, die keine mehr sind, nicht mehr zu ertragen ist? Wenn Desinteresse, Gewalt, manchmal auch emotionale Verwahrlosung das eigene Leben beschädigt? Wenn
man sich finden will, fernab von dem, was anderen schon missglückt ist? Man gehorcht dem Fluchtreflex und geht in die weite Welt. Die weite Welt, das ist für viele Berlin und der Alexanderplatz
ist der Ort, an dem Ausreißer und Gestrandete, Vagabunden und Crash-Kids eine Gemeinschaft bilden. Sie treffen hier auf Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die erste Überlebenstipps
und manchmal auch eine Übernachtung geben.
Die meisten von ihnen sind sehr jung. Manche sind erst dreizehn und schon von zu Hause weggelaufen. Selten trifft man Menschen über Dreißig. Das Leben auf der Straße ist anders, manchmal
schillernder, oft brutaler als das was der Normalbürger erlebt. Kinder werden schnell erwachsen und Erwachsene schnell alt.
Die Szene im Schatten des Fernsehturms übt eine starke Sogwirkung auf alle aus, die sich ihr nähern. Äußere Perspektivlosigkeit in dieser effizienten Gesellschaft und die innere
Trostlosigkeit sorgen dafür, dass die Regler des Lebensgains aufgedreht werden. Übersteuerte Verstärker, deren Verzerrungen einen singenden Ton abgeben. Die Menschen verändern sich, passen sich
den neuen Bedingungen an, werden lauter und verhärten, um nicht wieder zu zerbrechen.
Die Bedingungen er Arbeitswelt sind fern und oft passen die Menschen vom Alex auch nicht mehr in die Systeme der sozialen Fürsorge. Obdachlosigkeit ist ein Zustand, der für mich nur im
Ausnahmefall das Schlafen im Gebüsch bezeichnet. Obdachlosigkeit ist die eigene Unbehaustheit in einer Welt, die man nicht mehr versteht. Sie ist das Fehlen von Bezügen zur Gesellschaft, ist das
Abschneiden von Verbindungen zu Menschen, deren Regeln und Rituale man als sinnlos und somit leer empfindet.
Der Alexanderplatz ist nicht nur ein Ort, er ist ein Zustand, der sich dem Vorübergehenden nicht so leicht offenbart. Dass sich hinter den Gesichtern einzelne Schicksale verbergen, nehmen die
Passanten oft nicht wahr, weil man dem, der einen um Kleingeld anschnorrt, nicht ins Gesicht sieht.
Nicht-Allein-Sein als kleinster gemeinsamer Nenner. Irgendjemand ist immer da. Die Tage vergehen, die Zeit spielt kaum eine Rolle. Oft ist es unmöglich, sich zu verabreden: morgen, das ginge
gerade noch, aber übermorgen?“ (Göran Gnaudschun, Potsdam 2011).
Göran, wann hast du dich eigentlich für das Fotografieren begeistert? Was war der „Auslöser“?
Mein Vater war Amateurfotograf, ich durfte immer mithelfen, wenn er die Fotos im heimischen Badezimmer entwickelt hat. Es wurden Bretter auf die Badewanne gelegt, Vergrößerer,
Schalen und Zubehör installiert, Fenster verdunkelt und niemand anderes aus der Familie durfte ohne lange Vorankündigung auf’s Klo.
Wenn das belichtete Fotopapier im Entwickler liegt, vom gedämpften Rotlicht beleuchtet ganz langsam erscheint, so langsam, dass man am Anfang nicht weiß, ob da wirklich was erkennbar ist oder ob
man das Bild selbst auf die weiße Fläche projiziert, dann entsteht eine Magie, der man sich schwer entziehen kann.
Mit sieben oder acht bekam ich dann eine Kamera aus den fünfziger Jahren geschenkt, eine „Perfekta II“ – schwarz, schwer und aus einem plastikähnlichen Material. Sie machte quadratische Bilder
und es passten nur 12 Fotos auf einen Film, sodass sich der kleine Junge schon sehr gut überlegen musste, was er aufnimmt, reichte doch das Taschengeld gerade mal für zwei Filme pro Urlaub. Ich
habe meistens Familienmitglieder porträtiert, oft in Aufstellungen von mehreren Personen. Die Bilder kommen mir heute nicht nur als 35 Jahre alt vor, sondern wie aus einer völlig anderen Zeit,
weil alle so gefasst und konzentriert in die Kamera blicken, alle stehen gut da, niemand hat die Augen zu, grinst blöd oder macht Mäzchen; sie wissen nämlich, dass der Junge nur einmal auslösen
wird.
Göran, du hast mit 24 ein Studium für Künstlerische Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig begonnen. Welche Aspekte der künstlerischen Fotografie waren und sind
für dich besonders reizvoll?
Ich habe zwischen 1989 und 1990 das Jahr der Anarchie in der DDR erlebt, eine Zeit in der plötzlich so vieles möglich war, die alten Machthaber waren nicht mehr da und die
neuen noch nicht im Sattel. Staatliche Funktionsträger waren desorientiert, lustlos und demoralisiert. Niemanden hat es gestört, wenn du ein Haus besetzt hast, wenn du eine Kneipe einfach so
aufgemacht hast, oder wenn du der Meinung warst, dass die Öffentlichkeit ein neues Kulturzentrum braucht, in der die Musik gespielt wird, die du selber magst. Es lag einfach an dir selber und
Geld spielte keine Rolle.
Ich hatte im Osten eine Lehre als Wasserbauer gemacht, angefangen dann im Westen Bauwesen zu studieren, aber schnell gemerkt, dass das kein Weg für mich ist: abhängig beschäftigt sein und sich in
Hierarchien zurechtfinden müssen.
Ich hatte damals die Absicht, die Freiheit meiner Jugend irgendwie ins Erwachsenensein hinüberretten zu müssen. Mich haben Bilder schon immer interessiert, egal ob gemalt oder fotografiert. Ich
wollte Bilder machen und von Beruf Künstler zu sein, fand ich auch spannend. Nicht dass ich mir ausgemalt habe, irgendwie großartige Erfolge zu feiern, aber die Selbstbestimmtheit und die
Möglichkeit, eine andere Aussage zur Welt treffen zu können fand ich reizvoll. In die Entscheidung floss noch ein anderer Aspekt mit ein: ich habe damals von Zeit zu Zeit als Vermessungshelfer
gearbeitet, im Osten gab es in den Neunzigern einen Bauboom, alles sollte neu und hübsch werden, mindestens ebenso schick aussehen, wie es sich der Westen vorgestellt hat. Jedoch immer wenn die
Arbeit am angenehmsten war, auf der grünen Wiese und mitten in der Natur, hatte ich das kommende Einkaufzentrum, den Gewerbepark und das neue Autobahnkreuz vor Augen. Ich fühlte mich einfach
mitschuldig daran, dass die Welt so hässlich wurde.
Man kann sagen, dass die Entscheidung, Künstler werden zu wollen, letztendlich also auch ästhetische Gründe hatte. Ein Bauwerk steht da und alle müssen damit umgehen, ob sie wollen oder nicht,
ein Bild ist da eher ein Angebot an den Betrachter, man muss ja schließlich nicht in eine Galerie gehen, wenn die Bilder einen stören. Ich dachte damals, damit wäre ich raus aus der Verantwortung
der Gesellschaft gegenüber. Dachte ich. Dass man immer Teil dieser Gesellschaft ist, wenn man in ihr lebt, dass sie dich nie rauslässt und du immer, auch in der Fundamentalopposition, mit ihr
zusammenhängst, das war mir nicht klar.
Ich habe dann angefangen in Leipzig künstlerische Fotografie zu studieren. Leipzig war damals eine völlig verrottete, aber sehr inspirierende Stadt, in der sehr viel auch Unabhängiges los
war.
Ich habe dann gemerkt, dass es für mich möglich ist, mein Leben, mein Denken und einen Teil meiner Weltsicht in Bilder zu bringen, die sehr viel mit mir zu tun haben, die sehr persönlich sind,
die keiner machen kann außer mir. Ich habe den Alltag meiner Band, in der ich gespielt habe, und das Leben in besetzten Häusern abgebildet („Longe-44 Leningrad“ und „Vorher müsst ihr uns
erschießen.“), ich habe erste Portraits gemacht und ich hatte das Gefühl, mit dieser Fotografie direkt in der Zeit zu sein, in der etwas passiert. Somit kämen wir vom Damals zum Heute: das
Faszinierende ist für mich immer noch, dass man etwas der Wirklichkeit entnimmt, in Form eines Bildes und dass man ihr es wieder hinzufügt, ohne dass was fehlt. Dass die Realität eine Spur
hinterlässt und durch den eigenen Blick und ein technisches Mittel kommt etwas heraus, was sehr persönlich ist und als Bild wieder eigenständiger Teil der Wirklichkeit wird.
Dazu kommt noch, dass ich gern Porträts von Menschen mache, weil ich diese dann so völlig anders kennen lerne, weil ich etwas von ihnen mitbekomme, was ich vorher noch nicht wusste und was, das
gibt es recht häufig, auch die Abgebildeten nicht wussten. Ich will die Leser dieses Fanzines aber nicht zu sehr mit fotofilosofischen Betrachtungen langweilen, jedenfalls habe ich den Eindruck,
als könnte ich mit Bildern etwas sagen, was Texte nicht vermögen. Ich kann eine Aussage über die Welt treffen, die offen bleibt, die manchmal auch rätselhaft ist und die sich einfachen
Erklärungsmustern dann doch immer wieder entzieht und – das ist sehr wichtig – ich kann dabei ich selbst sein. Ohne mich zu verstellen. Also, nur dann, wenn ich am subjektivsten bin, kann ich
anfangen, der Welt etwas zu sagen. Berufsbild: Ich-Sein. Schöner hätte es sich Max Stirner nicht ausdenken können.
Wenn du fotografierst, hast du vorher einen genauen Plan, einen bestimmten Blick für die Situation, eine ausgewählte Perspektive im Kopf oder lässt du dich von dem Moment
inspirieren?
Der Moment ist das, was erst mal zählt. Ich versuche immer, mir was auszudenken und konkrete Bildvorstellungen zu entwickeln, dann blicke ich durch den Sucher und merke, dass
die Wirklichkeit schon wieder anders als die Vorstellung ist. Ab dann kann man nur noch versuchen, mit ihr zusammenzuarbeiten und das was, dabei herauskommt, ist dann oft sehr überraschend für
mich. Besser, als das, was ich mir ausgedacht habe. Natürlich habe ich einen bestimmten Stil und eine bestimmte Herangehensweise, aber das Bild an sich ist nicht planbar.
Wann und wie kannst du mit Fotografieren, also mit dem Foto an sich, aufklärerische, sozialkritische oder ideologische bzw. politische Wirkungen erzielen? Liegt das nicht immer im Sinne
des Betrachters?
Liegt es, sicher. Die konkreten Wirkungsmöglichkeiten künstlerischer Fotografie sind sehr begrenzt und niemand wir etwas erkennen, der nicht die Antennen dafür hat. Ich ziele
auf den Einzelnen, bei dem sich vielleicht etwas bewegt. Ich kann dabei nur etwas zeigen, ich kann nur der Finger sein, der auf etwas deutet, die Leistung, eine Interpretation dessen vorzunehmen
und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, das müssen andere übernehmen.
Wenn ich am sozialen Brennpunkt Alexanderplatz fotografiere und Texte mache, kann ich nur beschreiben, was ist und nicht gleich die Ursachen für Entwurzelung, Wohnungslosigkeit, Gewalt,
Alkoholmissbrauch und Einsamkeit aufzeigen und außerdem mögliche Auswege aus der Situation klarmachen. Das erfordert dann den aktiven, sensiblen, weiterdenkenden Leser/Betrachter. Sonst entstehen
dann oft sehr simple Deutungsmuster, die mich als Künstler nicht interessieren, Klischees werden dann oft reproduziert und gut gemeint ist zwar immer noch besser als schlecht gemeint, aber etwas
Vielschichtiges, Offenes, an das der Betrachter/Leser andockt, kann so nicht entstehen.
Welchen Sinn haben Fotoserien in diesem Zusammenhang?
Ich kann da nur für mich sprechen. Besonders in der Serie „Alexanderplatz“ sind die Texte ungeheuer wichtig, weil sie die Bilder nicht interpretieren, sondern diesen etwas
dazustellen, etwas offenlegen, was eher atmosphärisch ist und die Bilder nicht platt erklärt – das vom Leben auf der Straße erzählt und das hinzufügt, was man nicht in ein Bild bringen kann:
Missbrauch etwa, Gewalterfahrungen in der Kindheit oder auch das Gefühl, von niemandem gebraucht zu sein. „Alexanderplatz“ ist für mich eigentlich keine Fotoserie, sondern ein Geflecht aus
Bildern, die in der Situation spontan entstehen, aus langen Interviews, aus Portraits, aus eigenen Beobachtungen, die ich in kurze Texte gegossen habe und Bildern, die plötzlich etwas sehr Freies
haben.
Im Allgemeinen aber, dahin soll wahrscheinlich deine Frage eigentlich gehen, zielt der Sinn meiner Bilder, oder auch von Kunst überhaupt, eher auf den Einzelnen. Auf das innere Verstehen von
etwas, auf Erkenntnis. Wenn sich daraus bei den Einzelnen vielleicht Handlungen ergeben, ist das sehr schön, man kann aber nicht erwarten, dass sich aufgrund einer künstlerischen Arbeit hinter
die Stichworte Sozialkritik, Aufklärung und Veränderung der Zustände Häkchen machen lassen. Sonst wird es Agit-Prop oder durchschaubar und banal.
Warum hast du Punks am Berliner Alex fotografiert? Was für dich an dieser Arbeit besonders reizvoll?
Die Freiheit und die Offenheit der Menschen. Es sind ja auch nicht alles Punks, sondern auch viele Normalangezogene und Anhänger anderer Jungendkulturen, wie Skinheads,
Metaller und Emos, Es zählt eigentlich in der Szene nicht so sehr, wie du aussiehst, das ist etwas für die Außenwelt, sondern wie Du bist. Zu den anderen und zu Dir. Ob Du dir Respekt verschaffen
kannst, ob du mit vielen gut kannst oder ob du Hilfe benötigst. Einige waren schon so lange auf der Straße, dass sie sich von der Gesellschaft sehr weit entfernt haben, ganz anders ticken und
dementsprechend auch die Normalität ganz anders sehen. Diese Sichtweise fand ich persönlich extrem horizonterweiternd. Auch war es für mich spannend, dass da, wo man Regellosigkeit vermutet, bei
den Säufern, den Obdachlosen und denen die sonst nicht klarkommen, ein ganz eigenes Netz von feinen Regeln und Verhaltensweisen im Miteinander entsteht. Für mich war der Alex ein Biotop, die Welt
im Kleinen – mitten in Berlin trifft man auf Menschen und auf Schicksale, die man der dieser Häufung nicht für möglich gehalten hätte. Jeder hat dort seinen Rucksack an Erfahrungen auf, der
manchmal schwerer wiegt, als das man ihn tragen könnte. Unglaublich, wieviel ein Mensch aushalten kann.
Andererseits ist es nicht nur Leid und Elend, sondern es gibt auch einen Stolz, anders zu sein, der Welt schon mit seinem Dasein etwas entgegenzusetzen und diese Freiheit, mit Geldnot und
häufiger Wohnungslosigkeit auch klar zu kommen. Natürlich verliert sich das erhebende Gefühl der grenzenlosen Freiheit nach einigen Jahren auf der Straße wieder, wenn Krankheiten und Süchte
überhand nehmen, aber dieses: „Ich komme ohne Geld und ohne Wohnung klar und ich bin nur für mich allein verantwortlich, weil das HartzIV ohnehin auf null gekürzt wurde, die Ämter können mir mal“
ist für einige fast rauschhaft, weil sich die Menschen plötzlich nicht mehr als Opfer sehen, sondern raustreten aus dieser Rolle. Selbstbestimmt werden. Sich wieder als Gestaltende begreifen. Die
z.B. Schnorren als Job und ehrliche Arbeit begreifen.
Welche Absicht steckte dahinter und siehst du die Fotoserie als Doku, als Porträt oder Reportage?
Ich benutze verschiedene Mittel: das Dokumentarische, die Reportage, das Literarische und was ein Portrait hervorbringt. Es sind Werkzeuge, mit denen man etwas erzeugen kann,
das sehr offen ist, etwas, das in meinem Fall mal mit Poesie beschreiben wurde.
War dir eine authentische Darstellung wichtig und warum glaubst du, hast du diese Authentizität erfolgreich eingefangen/dargestellt?
Was ist schon authentisch? Schon wenn ich durch den Sucher gucke ist sie ja weg, weil ich nie jemand heimlich abgeknipst habe. Und dann geht alles noch durch meinen Filter.
Aber ich glaube, dass ich meine Protagonisten bei sich gelassen habe, dass ich sie nicht etwas anderes dargestellt haben, als sie sind, dass sie nicht ihnen fremde Rollen einnehmen mussten,
sondern dass sie eher ihr Selbstbild in meine Bilder einbringen konnten.
Was unterscheidet deine Arbeit vom Künstler zum Voyeur? Andersherum gefragt: Wie unterscheidest du Fotografie, Voyeurismus und unerlaubtes Beobachten?
Ein guter Fotograf muss gut beobachten können, er muss neugierig auf die Welt sein, die ihn umgibt. Das ist grundsätzlich und wird aber gern verwechselt mit dem heimlichen
Beobachten aus geschützter Umgebung heraus. Ich habe meine Absicht, eine große Arbeit über den Alexanderplatz in Bild und Text zu machen den Menschen dort immer klar dargelegt, ich habe immer
deutlich gemacht, dass ich weder Journalist noch Sozialarbeiter bin. Ich habe den geschützten Bereich verlassen und war einfach dabei. Ich hatte das Vertrauen der Alexszene, für das ich sehr
dankbar bin. Manchmal kam schon die Frage, warum ich schon das dritte Bier, aber noch kein einziges Bild gemacht habe.
Warum ging die Fotoserie über einen Zeitraum von 4 Jahren?
Weil wirkliche Nähe auch Zeit braucht. Ich kann da nicht reinswitchen und nach drei Monaten wieder gehen und dann behaupten, ich hätte die Alexszene verstanden.
Zunächst ging es ja auch darum, dass Menschen sich dir gegenüber überhaupt öffnen und sich fotografieren lassen. Wie hast du das Vertrauen der Punx am Alex gewonnen und wie fielen die
Reaktionen auf dein Vorhaben aus?
Das Vertrauen habe ich durch Dasein bekommen, durch Offensein, durch Zuhören und durch das Fotografieren. Ich habe mit Portraits begonnen. Diese Art von Bild ist eine
Verabredung, die auf einem Einverständnis beruht. „Ich will Dich fotografieren, will ein Bild von Dir, auf dem Du ganz allein drauf bis, und dass dich ganz alleine meint.“ Du kannst nein
sagen oder aber ein Bild von Dir entwerfen. Ich war am Anfang jeden Dienstag da. „Komm am Dienstag, dann habe ich Abzüge von Dir mit.“ Ob das dann eine Woche oder ein halbes Jahr später war, ist
dann egal. Es ging einfach um die Regelmäßigkeit. Einer kam erst nach zwei Jahren Knast wieder auf den Alex: „Du hast mich doch damals fotografiert!“ „Stimmt und ich hab’ auch die Bilder mit.“
Ich glaube, dass sich viele mit ihren Portraits identifizieren konnten, dass sie mit der Darstellung mehr als einverstanden waren. Das spricht sich herum, sodass auch Menschen zu mir kamen, die
ich gar nicht kannte, die aber die Portraits von Freunden kannten und auch mal drauf sein wollten.
Du hast sicher auch viele persönliche Schicksale erfahren. Gibt es einschneidende Erlebnisse, die dich aufgewühlt haben?
Das hat mich mehr runtergezogen, als ich das am Anfang für möglich gehalten habe. Ich bin ja mit der Maxime hin, dass ich Künstler bin und den professionellen Abstand nicht
brauche, den gute Journalisten haben und den Sozialarbeiter auch haben müssen. Also habe ich mich voll da reinbegeben. Es ist ein Umgehen können mit innerer Verwahrlosung, mit üblen Geschichten
aus der Kindheit und mit Tod. Immer wieder mit Kindheit, auch wenn ich nicht dahin gefragt hatte, kommt nach einiger Zeit das Thema auf das Tablett. Es gibt Verletzungen, die bei den Menschen nie
mehr heilen werden. Und das tolle ist, dass es mache schaffen, sich trotz aller widrigen Umstände von selber, von innen her aufzubauen. Manche schaffen es dann aber nicht, das kann sehr traurig
werden.
Interessant wäre ja auch gewesen, wie sich Menschen über den Zeitraum verändern...gab es denn für dich auch Hinweise, dass du Porträts machst im Sinne von vorher/nachher oder war das kein
Thema für dich?
Kinder werden schnell erwachsen und Erwachsene werden schnell alt. Das Straßenleben und die begleitende ständige Konfrontation des Körpers mit Genuss- und Rauschmitteln stellt
eine hohe Belastung für den Körper dar, die sich dann auch im Gesicht abzeichnet. Was mich aber selbst erschreckt, wie deutlich sich das oft schon an Bildern aus vier Jahren zeigt, muss ich nicht
fotografieren, das wäre dann zu einfach.
Was waren deine Auswahlkriterien für ein Foto?
Dass es etwas gibt, was offen bleibt und sich einfachen Zuschreibungen verweigert. Dass man etwas auf den Punkt bringen kann, ohne dass man ihn direkt benennen kann.
Wie viele Fotos hast du insgesamt gemacht?
Viele. Steinzahl. Hab ich im Ernst nie gezählt. Im Buch sind ungefähr hundert.
Im Begleittext schreibst du, dass du selten das Erzählte in den Porträts wiederfindest. „Bilder sind nur Bilder und finden im besten Fall zu ihrer eigenen Wirklichkeit“. Was meinst du
damit?
Ich versuche nicht, den schnorrenden Alki zu zeigen, sondern etwas, was anders ist, was dahinter ist, was etwas freilegt, das eine Persönlichkeit mit innerer Integrität zeigt.
Mit einem Kern, der sich manchmal trotz aller widrigen Lebensumstände nicht zerstören lässt. Menschen mit Hoffnungen, Träumen und Wünschen, mit Individualität, die man denen, die in Rotten am
Bahnhof abhängen, mit Schnaps und kläffenden Hunden, gar nicht zutrauen würde. Das ist die Wirklichkeit, die auch da ist, gleichzeitig, die man aber nicht sieht, die manchmal auch erst in meinen
Bildern zu Tage tritt.
Was hat diese intensive Arbeit mit dir gemacht? Wie hat sie dich verändert?
Es hat mir den Horizont erweitert, ich habe unglaublich viel erfahren, was mich sehr sensibel auf die menschliche Nachtseite und die dunkle Seite unserer Gesellschaft gemacht
hat. Nichts ist so einfach, wie man denkt, alles ist vielschichtig und auf einen Nenner kann man selten etwas bringen. Mir ist bewusst geworden, dass ich die Welt nicht erklären, aber Fragen
stellen kann. Immerhin. Ich habe von den Menschen am Alex Vertrauen, Nähe, ehrliches Interesse und auch Schutz bekommen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Nachtrag:
Görans Fokus für seine Foto-Reportagen sind Heranwachsende. Dabei spielt es keine Rolle, ob er sich Punks, Straßenkindern oder braven BürgerInnen widmet. Er hatte allerdings schon immer eine
besondere Affinität zu AußenseiterInnen (Longe, 1998, über eine Band auf Tour; Vorher müsst ihr uns erschießen – Hausbesetzer in Potsdam, 2001). Der/Die BetrachterIn hat nie den Eindruck, dass
Göran die Leute vom Rand des Alexanderplatzes für die Zwecke seiner künstlerischen Karriere benutzt, sondern als Mensch hat er sie ernstgenommen, Öffentlichkeit hergestellt und damit, in einer
Zeit, wo Wegsehen üblich ist, viel für sie getan.
Göran Gnaudschuns neue Arbeit „Mittelland“ ist im Jahr 2015 in Hannover während des „HannoverShots-Stipendiums“ entstanden. Auf der Suche nach dem Inneren der Gesellschaft ist er bei den
einzelnen Menschen angekommen. Er möchte mit seinen Fotos niemanden charakterisieren oder auf narrativer Ebene Eigenheiten erkennbar machen. Es geht ihm um etwas Tieferliegendes, allgemein
Menschliches - als ginge es in jedem Bild ums Ganze, um die Gegenwart und das Dasein.
http://gnaudschun.de
Anmerkungen:
(1) Off-Beat, den 44 Leningrad "Russian Speed Folk" nennen, der zwischen östlichem Volkslied und westlichen Pop, zwischen Polka und Ska angesiedelt ist: http://www.44leningrad.net
(2) Nachwort zum Katalog „Longe-44 Leningrad“ v. Christoph Tannert, 1998
(3) Leseprobe mit Texten, Porträts: http://gnaudschun.de/leseprobe_alex/Gnaudschun_Alexanderplatz_dt_Leseprobe.pdf