Aus dem grauen Schlauchboot entweicht leise zischend Luft. Erst ist es totenstill, dann bricht Panik aus. Es ist so voll an Bord, dass sofort die ersten Menschen ins Wasser fallen. Ihre Schreie gehen unter, sie gehen unter, hier kann niemand schwimmen. Am Horizont ist keine Hilfe in Sicht.
So kann es sich zugetragen haben, als gestern ein Schlauchboot vor der libyschen Küste havarierte. Bereits im März sind über 300 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wie sich dieses Bootsunglück
genau ereignet hat wissen wir es nicht, denn niemand hat diese Menschen sterben sehen. Seit vier Wochen ist Sea-Watch mit einigen anderen zivilen Rettungsorganisationen vor der libyschen 24-Seemeilen-Zone präsent, um genau solche Situationen zu verhindern.
Wie kann es also immer wieder so weit kommen?
In den Tagen vor dem Unglück am 24.03.2017 hatten zivile Seenotretter*innen mehrere Tausend Flüchtende zur Erstversorgung an Bord genommen. Jetzt wäre eigentlich der Moment gekommen, die
Geretteten an größere Schiffe zu übergeben. Normalerweise schicken europäische Institutionen wie Frontex oder die italienische Marine eigene Shuttle-Schiffe zum nächsten sicheren Hafen.
Genau diese Hilfe blieb aber aus, die Ehrenamtlichen wurden mit der Situation auf dem Mittelmeer weitgehend alleine gelassen. Sea-Watch war zum Zeitpunkt der Tragödie genau wie alle anderen
Organisationen selbst mit dem Transfer der zuvor geretteten Schiffbrüchigen nach Italien beschäftigt – und am Unglücksort keine Patrouille der Europäischen Union weit und breit.
“Diese Tragödie war absehbar. Die EU hat sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht”, sagt Sea-Watch Geschäftsführer Axel Grafmanns. “Wir prüfen derzeit rechtliche Schritte gegen
Verantwortliche wie Frontex Chef Fabrice Leggeri, der für das massenhafte Sterben zur Verantwortung gezogen werden sollte.”
Dabei scheint es besonders zynisch, dass Leggeri nicht müde wird, die eigene Schuld am gewollten Sterben im Mittelmeer den NGOs in die Schuhe zu schieben. Die jüngste Studie der Oxford University zeigt aber, dass sich die
Rettungsmaßnahmen durch Mare Nostrum (2014 eingestellt) oder die zivile Flotte nicht darauf auswirken, wie viele Menschen sich auf den gefährlichen Weg machen.