Kamikaze Girls
Seafoam LP
Sängerin und Gitarristin Lucinda Livingstone wurde in den frühen Morgenstunden im September 2014 auf dem Weg zur Arbeit überfallen, mit einer Waffe bedroht und ausgeraubt. Seitdem leidet sie unter posttraumatischen Belastungsstörungen. So leidet sie tagsüber und vor allem nachts an Flashbacks, Angstträumen, Depression.
In der Folge konnte sie nicht mehr arbeiten, ist nach Brighton umgezogen, um nicht mehr den gleichen Weg gehen zu müssen, wo sie überfallen worden ist. Nun, diese extreme Erfahrung wird auf dem vorliegenden Debütalbum verarbeitet. Das Gefühl, "dicht zu machen", emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit der Umgebung und anderen Menschen gegenüber, aktive Vermeidung von Aktivitäten und Situationen. Lucindas fragile Gefühlswelt wirkt dann auch gesanglich getragen von einer Melancholie, während der Fuzz-Rock ebenso schwerfällig, laut und eindringlich jene Gleichgültigkeit ins Gegenteil verkehrt. Aber Lucinda hat die Geschehnisse akzeptiert und hat glernt, hieraus Strategien zu entwickeln. Es ist wirklich beeindruckend, wenn solche Menschen hinterher bewusster oder achtsamer mit sich umgehen. Manche wissen das Leben tatsächlich mehr zu schätzen, wenn sie mal kurz davor waren, es zu verlieren.
Geholfen hat aber auch das weltweite unterwegs sein mit der kleinen Band. Lucinda und Schlagzeuger Dawson haben die erstaunlichsten Menschen und Musiker auf den verschiedensten Kontinenten getroffen. Die Erlebnisse, die dem Paar während der Tournee durch die Welt dank ihrer Freundschaft und Musik gewährt wurden, waren eindeutig kathartisch, wurden aber mit ihrer eigenen Traurigkeit gefärbt. Es versteht sich also von selbst, dass Melancholie ein dauerhafter Aspekt des Kamikaze Girls-Sounds. Viel "Seafoam" ist in dieser Zeit geschrieben worden, aus der Perspektive, sich in einem schwarzen Loch zu befinden, nirgends hingehen zu können, emotionale abgestumpft und empathielos.
Doch trotz dieser unterkühlten Atmosphäre gibt es auch schroffe, mutige Aspekte So ist das heftige "KG goes to the Pub" wie ein Befreiungsschlag: “Fuckboy sleaze bag, what do you want from me now? Grab my waist one more time and I’ll knock your fucking lights out. You knocked me off my feet, but not in the right way. I was just walking past - I’m not your fucking sweetheart mate.”
Und mit "I' dont want to be sad forever" spricht Lucinda vielen aus der Seele, spendet Trost und zeigt sich solidarisch wie Musik es eben ermöglicht.
Mit Seafoam gibt es einen beeindruckenden Querschnitt aus Shoegaze, Fuzz-Rock und No-Wave, viel wesntlicher ist aber der zentrale Aspekt, wie das Duo und besonders Lucinda es ermöglicht, aufgrund des physischen wie psychischen Traumas Stärke und Solidarität zu vermitteln, Geschlechter-Stereotypen, Tabus um die psychische Gesundheit zu thematisieren und mit iher Musik und den Inhalten etwas zu erreichen, zu bewegen, dass du dich sicher und wohl fühlst: “We can't control what happens outside of a venue but we can inside. We only play safe spaces, and it's important to us that they're inclusive and people feel comfortable.”