Neulich war ich wieder abends unterwegs zur Arbeit und fuhr mit der Bahn. An meiner Haltestation stieg ich aus und begegnete auf dem Weg zum Ausgang einen offensichtlich angetrunkenen Mann, der
torkelnd auf mich zukam und mich mit glasigen Augen fragte:
"Weis du, wann der näschte Zuch zurück nach Delmenhorst fährt?"
Ich mutmaßte, dass er seine Haltestation verschlafen hatte und nun etwas orientierungslos war, denn an meiner Haltestation gibt es lediglich einen Fahrkartenautomat und die üblichen
Informationsschilder über An- und Abfahrtzeiten. Nun verhält es sich bekanntermaßen aber so, dass jemand im alkoholisierten Zustand entsprechend des Promillegehaltes nicht mehr in der Lage ist,
Buchstaben, Wörter und ganze Sätze optimal zu lesen und zu verinnerlichen.
"Nun", antworte ich ich wahrheitsgemäß. "Da musst du dich ungefähr noch eine Stunde gedulden. Dann kommt die NWB, die in Richtung Osnabrück auch in Delmenhorst Halt
macht."
Nach einer kleinen Pause, die er genutzt hat, meine Informationen zu verarbeiten, blickte er mich an und fragte mit glasigem Blick:
"Hass du noch ein Bierchen zu trinken für mich?"
"Nein, ich trinke keinen Alkohol!"
Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen erstaunt an. "Echt? Da siehst du gar nicht nach aus!"
- Kleine Pause -
"Has du denn eine Zigarette für mich?"
"Nein, ich bin Nichtraucher!"
Mein Gegenüber hatte zunehmend Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und schaukelte gefährlich von eine auf die andere Seite:
"Echt? Da siehst du gar nich nach aus, du! Na, dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend!" antwortet er mit einem Gefühl von Enttäuschung, Erstaunen und Freundlichkeit.
"Danke, ich muss jetzt auch mal los zur Arbeit!" Ich verabschiedete mich und wollte gerade schnellen Schrittes an ihm vorbei gehen, als er mir noch hinterherrief:
"Echt? Da siehst du gar nicht nach aus!"
Ich grinste innerlich und dachte noch so bei mir, wie mensch denn auszusehen hat, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.
Wenn du zum Beispiel im Krankenhaus im Fahrstuhl bist und du dort jemand antriffst, der einen weißen Kittel trägt, gehst du davon aus, dass der Arzt ist. Er könnte aber auch gerade jemand
heimtückisch ermordet haben und sich einfach einen Kittel zur Tarnung und für die Flucht ausgeliehen/entwendet haben. Eine gefährliche Täuschung eines Serienmörders.
Und falsche Ärzte gibt es immer wieder. Allerdings müssen die nicht immer Serienkiller sein. Aber es kommt immer darauf an, welche Erwartungen du an jemand hast. Rollenerwartungen bezeichnen
gesellschaftliche Erwartungen an das Verhalten von Menschen in der sozialen Interaktion, also gewisse Verhaltensweisen, die mensch vom Träger einer konkreten sozialen Position erwartet.
Donald Trump etwa ist Präsident der Vereinigten Staaten. Oder denkst du ernsthaft, er ist ein Hochstapler, der sich das Amt erschlichen hat? Es kommt immer darauf an, wie sich jemand
kleidet, wie sich jemand gibt und verhält. denn man richtet hier das Augenmerk auf das handelnde Subjekt, das auf bestimmte Rollenerwartungen in je spezifischer Weise reagiert.
Also denk' dran, dass du dir morgens immer die richtige Kleidung aussuchst, um deine soziale Rolle gerecht zu werden, denn: "Ist der Mensch in der Lage, die Rolle eines anderen zu übernehmen,
kann er daher aus dieser Perspektive auf sich selbst zurückblicken oder auf sich selbst reagieren und so für sich selbst zum Objekt werden. Daher ist es nur im gesellschaftlichen Prozess möglich,
Identität zu entwickeln, denn Identität konstituiert letztlich das Wesen, das sich seiner selbst bewusst wurde."(1)
Also, frag dich doch einfach mal: "Und, als was gehst du so?"
In diesem Sinne:
Bleibe wie du bist oder sei, was du sein willst!