ES gibt Menschen, die schauen auf ihr Leben zurück, um festzustellen, dass ihnen einiges peinlich ist, anderes wiederum genauso noch einmal machen würden. Andere Menschen beurteilen diese persönliche Errungenschaften, Leistungen und stellen fest, dass du einE Versagerln oder ein Vorbild bist, dir Respekt entgegenbringen oder dich ins Fegefeuer wünschen. Manche neigen zu einer gehörigen Selbstüberschätzung, zum Größenwahn, werden Politikerln, Kandidatln bei DSDS oder Nazi. Je nachdem, für was du dich entscheidest, welche persönliche Leistungen du erbracht hast und worauf du stolz bist oder wofür du dich schämst, es ist letztendlich immer ein Teil deiner eigenen Lebensgeschichte.
Karl Nagel hat eine sehr abwechslungsreiche Lebensgeschichte, die er öffentlich anbietet und zur Schau
stellt. Dieses Vorgehen macht es einfach, ihn und seine Taten einzuordnen, zu be- und verurteilen, je nach moralischer Wertigkeit. Schwierig wird es, ihn aufgrund seiner erbrachten Leistungen im
emotional-sozialen Bereich einzuordnen. Ist er einfach nur ein hyperaktiver Zappelphilipp, ein kreativer Ideenlieferant, ein Schlitzohr, ein Arschloch? Tatsächlich spielt Karl mit den Medien,
benutzt sie für seine diabolischen Zwecke und manipuliert, Schürt Angst, Hass und Chaos. Hierfür verkriecht er sich im Bunker, schreibt Briefe an die Ober- und Unterwelt. JedeR, der/die es wissen
will, bekommt Schlagzeilen auf BILD-Niveau. Mit viel Demagogie, Ironie und Zynismus ausgestattet verbreitet er Aktionen übers Internet, als viele dieses Medium noch gar nicht kannten. Der Meister
des Chaos, wie Karl sich selbst bezeichnet, etabliert die Chaostage in Hannover und wirft der Presse den Fraß vor, den sie gierig verschlingt und weiter zerreißt. Das ist Macht! Karl inszeniert
Ereignisse wie die Chaostage, schafft dabei aber auch ein gesteigertes Interesse an die Subkultur, an Punk. Provokativ, offensiv und hemmungslos übertrieben wird er missverstanden, angepöbelt und
abgelehnt. Immer laut durchs Leben! 1984 mit den ALTE KAMERADEN im Schrammelsound unterwegs, ab 1985 mit MORBID OUTBURST den Crossover entdeckt, mit den MILITANT MOTHERS von 1988 das Singen
gelernt. Musik als Ventil, als Kreativ-Werkstatt, als Entwicklungshilfe. Diese wird in einer Art Rückverdummung politisch aufgewertet. Von 1982 bis 2005 hat Karl immer mal wieder seinen Arsch für
die "Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands (APPD)" aus dem Fenster gehalten. In den Jahren 82 bis 88 legt sich Karl in seinem Fanzine „Hackfleisch“ mit „Polit-Pappnasen aller
Art an“: "HACKFLEISCH ist ein Punk-Fanzine, wie ich es mir immer gewünscht habe: Keine Konzertberichte, keine Plattenkritiken, Sondern bündelweise Bosheit, Offenheit und die Bereitschaft,
sich Feinde zu machen“. Skandalträchtig war eine seiner jüngsten Aktionen. Mit der Veröffentlichung von DIE! ODER WIR im Februar 2009 wurde eine Amokstory getextet und gezeichnet, die die Bundesprüfstelle auf den Plan rief.
„Derartige Metzeleien finden ja Selbstredend in den Medien immer reichlich Beachtung, weshalb auch der Zustrom an Nachahmer nicht abreißt. Nun sind Stephan und ich glücklicherweise aus dem Alter
raus, in dem man sich Selbst per Pumpgun den Weg durch die gehasste Schule bahnt und den geliebten Lehrern einen Freifahrtschein zur Hölle verschafft. Aber immerhin kann man ja per Comic-Story
dem ganzen eine ... hm... besondere Note geben! Wir haben uns reale Schulmassaker Sehr genau angeschaut und der Geschichte eine ganz besondere Wendung gegeben...“. Karl und Zeichner Stephan
Hagenow haben nicht damit rechnen können, dass diese fiktive Amoklauf-Story die Realität einholt. Am 11. März 2009 ereignete sich der Amoklauf von Winnenden. Dabei wurden 15 Menschen
ermordet. Elf Menschen – einige von ihnen schwer verletzt - wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Der 17-jährige Täter, Tim Kretschmer, wurde nach mehrstündiger Flucht von der Polizei gestellt
und erschoss sich schließlich selbst. Am 7. Mai wurde von der Bundesprüfstelle geurteilt, dass DIE! ODER WIR nicht „jugendgefährdend“ ist und deswegen nicht indiziert wurde. Karl bekam
gesundheitliche Probleme: „Und der Gedanke, kämpfender weise jeden Tag unendlich erscheinende Stunden auf dem Arsch zu Sitzen, obwohl es mich eigentlich dazu drängt, aufzustehen, mich zu bewegen,
zuzulangen, zu brüllen, irgendwas kaputtzumachen, dieser unglaubliche Stau hat mich krank gemacht.“
Mit KEIN HASS DA widmet sich Karl derzeit wieder der (Punk-)Musik,
covert mit Herzblut BAD BRAINS und ist für neue Schandtaten bereit, um wieder „was kaputt zu machen“. Punk ist eben nicht nur eine Lebensart und -einstellung, es ist auch der Wille und der Wunsch
nach (Selbst-)Zerstörung. Punk as fuck! Karl Nagel ist ein Selbstdarsteller, ein mediensüchtiger omnipräsenter und hemmungsloser Exhibitionist. UNDERDOG bittet zur Therapiesitzung und zieht Karl
die Hosen runter…
Karl, was macht die Gesundheit?! Du musstest ja ein wenig kürzer treten. Was ist passiert? Hast du dich so mit Arbeit zugeballert, dass du einem Zusammenbruch nahe warst? Welche
gesundheitlichen Probleme sind denn bei dir im Alltag präsent?
Auf die Schnelle: Lustige Muskelentzündungen in Bein und Schulter. Damit ich mich einigermaßen normal bewegen kann, hilft nur Cortison. Hängt möglicherweise damit zusammen, dass ich in den
letzten Jahren zu wenig den Arsch bewegt und zu viel gesessen habe.
Was tust du denn für deine Gesundheit, um dich fit zu halten, um dich zu erholen? Ist deine Familie dein Ruhepol?
Lass uns hier nicht zu viel über Privates reden. Oder ist das hier das GOLDENE BLATT? Dann erst recht nicht...Ich werde hier keine Details über mein Body-Building-Programm auspacken, auch nicht
über Potenzstörungen, Ehekräche und über den Drogenkonsum meiner Tochter. Oder wie wir Weihnachten gefeiert haben. Bin ich Ozzy Osbourne?
Ruhig Brauner! Denk an deinen Bluthochdruck! Lag es auch an deinem gesundheitlichen Zustand, dass du von Hamburg nach Südfrankreich geflüchtet bist?
Nein, nur an meinen schlechten Französischkenntnissen. Da versteht man wenigstens nicht, was für einen Unsinn die Leute sabbeln. Und die mein Gesülze nicht.
DIE! ODER WIR war von dir als groß angelegte Offensive In der Presselandschaft angekündigt. Damit bist du gescheitert. Erreicht hast du wenigstens, dass du mit der Veröffentlichung In
DIE! ODER WIR, genauer die Amokschützen-Story, die Bundesprüfstelle auf den Plan gerufen hast. Wie liefen denn bis dahin die Verkäufe? Nach der Amok-Story war doch niemand mehr bereit, die
Comic-Zeitung auszufahren? Dennoch wird es DOW In anderer Form weiter geben! Bietest du die Comics nur noch als Download an?
DIE ODER WIR ist gescheitert, klare Sache...oder auch nicht! Habe viel dabei gelernt und zudem nun rund 100 Seiten unveröffentlichte Comics rumliegen. Das ganze ist eigentlich in erster Linie
nicht an finanziellen Dingen (Kohle war genug da) und der Bundesprüfstelle (das Verfahren habe ich gewonnen) gescheitert, sondern weil mich bestimmte Dinge einfach zerrissen haben.
Eigentlich reicht es mir, wenn ich wegen irgendwelcher Jobs vor dem verdammten Computer sitze. Bei allen anderen Dingen möchte ich eigentlich nur RAUS oder zumindest ohne Termine einfach nur so
vor mich hin machen. Spaß haben. So ein Magazin wie DOW hat dann einfach diese Unvereinbarkeit explodieren lassen. Die ganze Scheiße . . . Promo, Web, Druckvorbereitung, blabla hier und dort, das
war einfach zu viel, zu zeitaufwendig und hat meiner Gesundheit den finalen Arschtritt verpasst. Ich habe da nun meine Konsequenzen daraus gezogen. Ich lass mich durch nix mehr in die Zange
nehmen. Es lebe das Bockprinzip! Zum Jahreswechsel habe ich meinen Job um die Hälfte reduziert und werde die freiwerdende Zeit mit Singerei, Schreiben und viel Bewegung verbringen. Mit DOW wird
es auch weitergehen, aber nicht mehr zu festgelegten Terminen. Wenn es fertig ist, isses fertig. Die aktuelle Ausgabe gibt's dann immer bis zum Erscheinen der Folgenummer kostenlos zum Download,
danach wird bezahlt. Eine Druckversion gibt's auch, aber nur in MiniAuflage. Und was weg ist, ist weg. Keine Abos, keine Rücksichten auf die lieben Leser, nur Sachen, die MIR Spaß machen. Basta!
Stattdessen eine Mischung Comics, neuen Bunkerbriefen, Beobachtungen alle Art. Das ganze zum größten Teil in braver Handarbeit. Computer, Internet und das ganze Zeug bin ich mittlerweile ganz
schön über. Wenn’s geht, mach ich's anders. Dieses Jahr werde ich 50. Und seit mindestens 25 Jahren gibt es Leute, die rumblöken, ich solle mich „aus der Szene verpissen“. Bester Spruch: „Der
Nagel hat doch mich Punk nichts zu tun. Der will nur provozieren. “
Die meisten dieser Gurken habe ich überlebt. Bin immer noch da. Das ist doch hervorragend, oder?
Ich bin der John Travolta der Punk-Szene.
Glaubst du, dass die Behörden wie Staatsanwaltschaft, Bundesprüfstelle und Politiker nicht angemessen reagieren, um Gewalt präventiv zu verhindern? Wem sollen die erhobenen Sanktionen
nutzen? Und welche Maßnahmen rechtfertigen eine Zensur?
Keine Ahnung. Eigentlich bin ich ja prinzipiell für Meinungsfreiheit. Aber will ich will ich meiner 6jährigen Tochter wirklich irgendwelche sadistischen Metzelorgien oder Haßparaden aller Art
zumuten? Bin insgesamt kein Freund eines alle regulierenden Staates, aber wie lautet die Alternative? Dass irgendwelche selbsternannten Anti-Schweineristen Kinos blockieren und böse Literatur
anzünden? Das läuft doch eh fast alles nach dem Motto „Der größte Feind des Guten ist das Gutgemeinte“. Selbstgerecht mit der Fackeln in der Hand das „Böse“ eigenhändig ausrotten zu wollen,
schmeckt mir einfach nicht. Aber für gesellschaftliche Gesamtlösungen fühle ich mich eh nicht zuständig. Das ist am Ende Politik, und da wird“ s schnell unübersichtlich, widersprüchlich und
verlogen. Während man man außen Ehrlichkeit und klare Lösungen raushängen lässt. Dann lieber auf meine Art widersprüchlich und Mensch bleiben! Den Kreuzzug gegen Faschismus, Minarett, Porno und
schlechte Musik sollen andere durchführen. Ich werde dadurch nur richtig krank. Ich mache einfach die Dinge, die aus mir rauskommen und versuche dabei nicht allzu viel Scheiß zu verzapfen und
Sackgassen zu vermeiden. Dass klappt manchmal, und manchmal eben nicht. Dann heißt es: Neuer Versuch! Aber ich weiß auf jeden Fall mittlerweile, dass es überhaupt nichts bringt, auf die Dinge,
die man als negativ oder auch unerträglich empfindet, mit Hass und Brechstangen zu reagieren. Es klappt dann einfach nicht. Man fühlt sich für nen Moment klasse, weil man die Sau rausgelassen
hat, aber eigentlich tritt man auf der Stelle. Da ist die Depression nach dem Hoch dann nicht sehr weit.
Was hat dein Interesse an Comix geweckt? Hast du viel U-Comix, Schwermetall-Comix gelesen? Was war ausschlaggebend, ein Comic-Kollektivstudio zu gründen?
Nee, mit dem Underground hatte ich nie viel zu tun. Ich bin ganz normal mit FIX FOXI, MICKY MAUS, ASTERIX, SUPERMAN und MarvelComics sozialisiert worden. Und natürlich PERRY RHODAN und
GRUSEL-KRIMI. Das hat mir in schlimmer Zeit die geistige Gesundheit gerettet. Insofern habe ich bei dem Begriff Schundliteratur" sehr angenehme Gefühle. Später habe ich dann viel Ami-Comics
gelesen, bin großer Fan von Jack Kirby, Berni Wrightson und Bill Sienkiewicz sowie den EC-Heften der 50er. Das sagt den meisten hier wahrscheinlich wenig. Macht aber nix. Das würde den Rahmen
sprengen. Außerdem bin ich kein Volksaufklärer.
Hast du das Ziel erreicht, das ELBSCHOCK als Boulevard-Comicmagazin zu etablieren?
Ich habe überhaupt nichts etabliert, auch nicht ELBSCHOCK als irgendwas. Höchstens den Begriff CHAOSTAGE. Der wird ja mittlerweile für jeden Scheiß benutzt. ELBSCHOCK war ‘ne klasse Idee,
irgendwie ein Vorläufer von DIE! ODER WIR, aber der Druck war zu teuer. Und der Vertrieb beschissen. Es ist leider heutzutage unmöglich, in Deutschland einen billiges Comic unter die Leute zu
bringen. Da verlierst Du nur massig Kohle. Ich sollte Lotto spielen – und ein paar Millionen gewinnen. Dann würde ich die Kohle in einem Comicverlag verheizen. Ein klasse Team zusammenstellen,
die Leute ordentlich bezahlen und dann eichten Schund produzieren, egal, ob er irgendwie das Geld wieder einspielt. Das wäre wirklich der einzige Job, der mir Freude bereiten würde! Also . . .
die Multimillionäre unter euch: Blast mir die Millionen in den Arsch, ich werde sie auf sympathische Weise verknallen!
Das war auch in den letzten Jahren immer so, habe derbe viel gearbeitet, die Kriegskasse ordentlich gefüllt und dann das Geld bei Chaostagen, APPD, Comicproduktion und ähnlichem Scheiß verknallt.
Echt Saturday Night Fever. Ich bin der John Travolta der Punk-Szene. Lustigerweise schließen die Leute dann immer daraus, dass ich a) ordentlich Kohle habe und b) mit den Projekten noch mehr
Kohle verdiene. Schön wär's. Am Ende steht leider immer der Schuldenberg. Das böse Erwachen aus radikalem Aktionsrausch. Nach team Desaster mit Comics & Zeichenstudio war ich mit schlanken
30.000 Euro in der Kreide. Habe nun über zwei Jahre wieder wie blöde gearbeitet, und jetzt liegt sogar wieder ein bisschen was in der Kriegskasse. Was ich damit diesmal mache? Keine Ahnung. Aber
ich habe mir fest vorgenommen, es diesmal nicht zu verballern. Was ansonsten die ALLIGATOR FARM angeht – das war kein „Comic-Kollektivstudio“, nö, bin doch kein Hippie, sondern wie üblich so eine
Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Nummer. Das Konto war gut gefüllt, also habe ich ‘ne Wohnung angemietet und dort zusammen mit einem anderen Zeichner kostenlose Ausbildung von Comic-Zeichnern
betrieben. Und die dort entstandenen Sachen eben selbst rausgegeben. Irgendwann war das Konto nicht nur leer, sondern knackig in den Roten. Und dann wurde der Laden eben dicht gemacht. Schade.
Karl, die SZ hat dich einen "Internet-Punk" genannt, der die Medien an die Nase herumführte. Ist Manipulation ein Machtinstrument? Was beabsichtigst du, damit zu erreichen?
Natürlich ist Manipulation ein Machtinstrument. Jeden Tag wird uns irgendwelche Scheiße in die Birne gejubelt, und viel zu viel davon kriegen wir nicht mal mit. Und manchmal macht es eben Spaß,
diejenigen, die an den Schalthebeln der Maschinerie sitzen, ordentlich in die Irre zu führen. Das sind ja oft auch ganz kleine Lichter, die da z. B. in den Nachrichtenredaktionen sitzen. Halten
sich aber für die Chefs, für „Journalisten“. Pah. Es war schon klasse, als bei den Chaostagen 1996 500 Medienheimer aller Art durch Hannover gerannt sind und „die Punks“ gesucht haben. Ich will
das aber nicht genauer sezieren, weshalb ich das nun klasse finde. Ist vielleicht einfach ein Mittel, der eigenen Ohnmacht zu begegnen. Andere schmeißen in so einer Situation Steine. Manche sagen
auch, ich sei einfach ein egozentrischer „Selbstdarsteller“, ohne jede Inhalte. Damit kriegen sie aber die Nuss nicht geknackt. Wieso stelle ich mich dahin in die Öffentlichkeit und behaupte
lautstark, mit dem Gedanken zu spielen, „nach rechts überzulaufen“? So wie ich das 2001 bei meinen BUNKERBRIEFEN gemacht habe. Dafür kriegt man ja nicht gerade Beifall. Oder bin ich vielleicht
einfach bescheuert? Kann ja auch sein, merkt der Betroffene dummerweise nicht. Aus meiner Warte stellt sich das aber leider so dar, dass ich mit Vorliebe genau das tu, was verboten ist, egal ob
nun etwa der Staat was verbietet, oder „die Szene“. Ich wollte einfach mal rauskriegen, was mit dem groß postulierten „Gerechtigkeitssinn“ und den Idealen mancher Leute passiert, wenn erstmal der
Jagdinstinkt erwacht ist. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Ich kann dazu nur folgendes abschließend sagen: Manche Pappnasen sollten gut aufpassen, dass sie ihren Gegnern nicht immer
ähnlicher werden.
Manchen kommt’s doch am Ende nur noch darauf an durch ihr Umfeld eine Legitimation zu erhalten, irgendwem was in die Fresse zu geben. Ist der Gegner erst mal als völlig indiskutabel und unrettbar
klassifiziert und entmenschlicht, darf man sich auch selbst wie das hinterletzte Arschloch benehmen. Wie schön!
Gibt es bei dir einen Widerspruch zwischen eigenen Idealen und der vorgefundenen Realität? Brauchst du das inszenierte Spektakel, um gegen Konventionen oder gegen die kreative Langeweile
anzukämpfen?
Ach, da steht eigentlich kein großer Plan hinter. Manchmal ist einfach die Zeit reif für irgendwas. Dann habe halt 'ne fixe Idee, die auch durchgezogen wird. Ich verfolge ja keine konkreten
Ziele, sondern will einfach nicht zu der Sorte Leute gehören, die den ganzen Tag rumsabbeln. Wenn ich die Idee lustig finde, mal Kanzlerkandidat zu werden, dann mache ich das eben. Oder
Schundcomics herauszugeben. Seit Jahren würde ich schon gerne mal BAD-BRAINS-Songs auf deutsch singen. Klasse, dass ich jetzt die richtigen Leute dafür gefunden habe. Ich glaube aber nicht, dass
von mir noch irgendwelche „großen“ Spektakel zu erwarten sind. Irgendwann reicht "s einfach. Es macht auf die Dauer keinen Spaß, negative Erkenntnisse über seine Umwelt zu gewinnen. Da passen die
BAD BRAINS gerade ganz gut. Positive vibration, paff . . . qualm. . . geht auch ohne Kiffen! Manche Leute wissen ja gar nicht, wie viel körpereigene Drogen man durch die Blutbahn jagen kann. . .
indem man einfach Dinge TUT! Ob’s Beifall dafür gibt, ist doch scheißegal. Also singe ich momentan lieber von Mut, Geradlinigkeit, Wärme und natürlich HASS . . . der mir wirklich seit Ewigkeiten
ziemlich fremd ist! Muss ich mich dafür schämen?
In einer Zelt, in der in Deutschland das Internet noch nicht so Intensiv genutzt wurde (1995/97), hast du diese Form bereits für deine Zwecke genutzt. Du hast das Spiel mit den Medien
gesucht und Aktionen Inszeniert. Ist es die Wallraff Manier, mit der du Mechanismen offenlegen wolltest? Oder ging es dir immer nur um pure Provokation und hast dich über die Reaktionen hierauf
ins Fäustchen gelacht?
So einfach ist das nicht. Ich suche einfach nur immer den Weg aus Sackgassen heraus. Dazu gehört es, neue Dinge auszuprobieren. Und mit neuen Dingen kann man halt herrlich Verwirrung stiften. Als
Punk noch neu war, ging das mit Punk insgesamt sehr gut. Da wusste auch keiner, ob die nun „links“ sind oder „recht“, Intellektuelle oder Stumpfis, Bürgersöhnchen oder Prolls sind. Heute suhlt
man sich in der Punk-Verherrlichung alter Zeiten und Spielregeln, und wer da nicht mitmacht, erntet eine Menge Nasenrümpfen. Mir hat echt mal einer vorgeworfen, ich wolle immer „anders als die
anderen Punks sein. Was besseres.“ Ja, so ist das wohl. I want to go where no one has boldly gone before. Schließlich bin ich Science Fiction Fan. Neue Welten entdecken, das ist doch was tolles,
oder? Irgendwas ausprobieren, wo andere sagen, „das geht doch nicht“, oder „das tut man nicht“. Wenn Leute hören, dass ich BAD BRAINS-Songs auf deutsch singe, legt sich auch gerne manche Stirn in
Falten. Hurra!
Ansonsten ist es natürlich wahr, dass ich ein Selbstdarsteller bin. Ich stehe gerne auf Bühnen. Aber bin laut Aussage mancher Gurken wohl der einzige, der das NICHT DARF. Alle möglichen Pappnasen
zappeln zu Zehntausenden über die Bühnen Deutschlands, schreiben Bücher, machen Musik etc. Nur, wenn der Karl Nagel sich seine eigene Bühne
aussucht und ein bisschen an den Spielregeln dreht, dann heißt es HAAAAAAAALLLLLO . . . der will sich schon wieder in den Mittelpunkt stellen. Sagt Ihr das auch zum Sänger Eurer Lieblingsband,
wenn der sich mal wieder spastisch auf der Bühne die Glieder verrenkt?
Trotz Präventivmaßnahmen gelang es Wallraff Immer wieder, in die "Intimsphäre" von Wirtschaft und Staat einzudringen, um über skandalöse Arbeits- und Herrschaftsverhältnisse, über
undemokratische und unmenschliche Ansichten und Verhaltensweisen von Unternehmern, Managern und Amtsträgern berichten zu können. Dazu schlüpfte er jedes mal in eine fremde Rolle. Du bist zwar
nicht in eine fremde Rolle geschlüpft, hast aber für Wirbel gesorgt, als du zu einer Kameradschafts-Gruppe um Christian Worch Kontakt aufgenommen hast. Gefährlich empfinde Ich deine Erkenntnis,
dass er dir sehr sympathisch war und auch einige Ansichten korrekt fandest. Ist es dir wichtig, Feindbilder zu verstehen, um sie zu verharmlosen? Dir lag es ja fern, auf Konfrontationskurs mit
Worch zu gehen?
Ich bin kein „politischer Aufklärer“ à la Wallraff. Ich bin einfach immer nur darauf aus, persönliche Erfahrungen zu machen, Dinge mit einer gewissen Intensität zu spüren. Und diese Erfahrungen
dann weiter zugeben. . . auf meine Weise! Das liest sich dann eben nicht als einfaches „Rezept“, wie man's „richtig“ macht. Und manchmal, wenn ich das Gefühl habe, in einer Sackgasse zu hängen,
dann muss eben manches demontiert werden. Notfalls ich selbst. Das verhindert auch, dass einem irgendwelche „Fans“ an den Lippen hängen. So was macht nur unfrei.
So. Und Du findest es also „gefährlich“, dass ich Worch „sympathisch“ fand, hm? Und was ist, WENN ich GELOGEN hätte, um mal zu sehen, wie manch einer mit dem Konstrukt „Sympathischer Nazi“
umgeht? Das Problem ist ja, dass der gemeine Antifaschist einen höllischen Bammel vor „sympathischen Nazis“ hat (Anmerkung: was ein Oxymoron ist, Karl), also wird erstmal sicherheitshalber deren
Nichtexistenz erklärt. Der Nazi an sich ist hässlich, stumpf, verschlagen, gewalttätig etc. Wie in einem deftigen Schundcomic voller Klischees. Im Gegensatz zu anderen bin ich mir aber dessen
bewusst, dass das nicht der Realität entspricht, und dass diese Klischees einfach nur ungemein praktisch sind, dem anderen ohne Gewissensbisse aufs Maul zu geben. Der „andere“ ist möglichst kein
Mensch in all seinen vielschichtigen Tiefen – so was fördert nur die Beißhemmung! Mit diesem Trick wird seit Jahren gearbeitet, um die eigenen Kampftruppe zu motivieren. Was die Sache besonders
traurig macht: Selbst der Mainstream ist mittlerweile in der Lage, die Konflikte, die sich aus der des „sympathischen Negativen" ergeben, mit entsprechender Tiefe zu thematisieren. Was ist z. B.,
wenn dich ein nettes Ehepaar beim Trampen mitnimmt, ihr Euch nett unterhaltet und Du am ENDE erfährst, dass die beiden in der NPD sind? (Anmerkung: Ausrauben, Auto
demolieren!).
Standest du in Antifa- und Kameradschaftskreisen zum Abschuss bereit oder blieb es bei verbalen Drohgebärden?
Am Ende blieb es bei Drohgebärden. Entweder, sie waren zu faul, oder sie haben am Ende doch gemerkt, dass das eine ziemlich peinliche Nummer geworden wäre. Denn ob das dem „antifaschistischen
Kampf“ wirklich geholfen hätte, wenn ich mein blutverschmiertes Gesicht durchs Internet gejagt hätte, bleibt abzuwarten. Nur der gute Helge „Nazijäger“ aus Hannover droht mir immer noch Prügel
an. Der sollte besser mal zum Psychiater gehen, oder gleich zu Hare Krishna. Vielleicht kriegt er ja so seine Gewaltphantasien besser in den Griff.
Wenn ich die Fotogalerie auf deiner Homepageleiste anschaue, hast du dich ja immens verändert und hattest über die Jahre stets andere extreme Frisuren. Hast du dich immer wieder neu
selbst erfinden, definieren wollen oder bist du einfach experimentierfreudig?
Der Tag, als ich mir zum ersten Mal mit 'ner Punk-Frisur im Spiegel entgegen glotzte, war der erste Tag in meinem Leben, in dem ich mir wirklich gefiel. Als spielfreudiger Mensch habe ich dann
immer mal wieder ein Brikett draufgesetzt, aber Anfang der 90er war dann langsam Schluss. Da begann die Glatze ihren unaufhaltsamen Siegeszug auf meinem Kopf. Habe mir dann nur noch mal als
APPD-Kanzlerkandidat die Haare wachsen lassen, um sie schleimig über die Platte legen zu können. Seit ein paar Monaten bevorzuge ich Kopftücher. Im Rahmen der Islamisierung Deutschlands will ich
da ein leuchtendes Vorbild sein. Also: Auch hier kein großer Plan. . . Dinge passieren einfach, wenn sie anstehen.
Okay, über Äußerlichkeiten brauchen wir gar nicht weiter plaudern. Im Zusammenhang mit deinen Bunkerbriefen fällt mir auf, dass du beim Umzug von Wuppertal nach Hannover festgestellt
hast, dass es eine elitäre Punkerclique gibt, die auf "Fremde“ skeptisch und ablehnend reagiert. Hast du versucht, die festgefahrenen Strukturen aufzuweichen oder war das Verhalten dieser Szene
Cliquen in nahezu jeder Stadt ein Anzeichen für Misstrauen?
Was waren deine Erfahrungen?
Das war manchmal so und ein anderes Mal anders. Natürlich habe ich Dinge mitgemacht, um “dazu zugehören“. Aber dann hat’s eben doch irgendwann so sehr gejuckt, dass ich den Nestbeschmutzer
raushängen ließ. Das fing schon 1983 an und spätestens mit der dritten Ausgabe von HACKFLEISCH hatte ich mir ein paar unversöhnliche Gegner gemacht. Speziell bei den Polit-Betonköppen. Ansonsten
wollte ich eigentlich nie „die Szene ändern“, und auch nie „die Welt“. Es gibt nur einfach Momente, da juckts mich, und dann sage ich Sachen, die ich halt denke. Oder kitzle irgendwelchen Müll
aus wem auch immer raus. Und so was kommt nicht immer nur gut an. Da macht man sich nicht gerade Freunde mit. Aber eigentlich bin ich schon immer ein Einzelgänger gewesen, und mir war schon
schnell klar, dass auch Punk nicht der Weg ist, um zum Liebling der Massen zu werden. Gleich am ersten Tag habe ich auf die Fresse gekriegt. Aber ich habe gelernt, für das, was ich denke,
einzustehen. Stachel im Fleisch mancher Harmonie- wie der Hassfreunde zu sein. Und was kann man schon mehr erwarten? Der Unterschied zu meiner Zeit vor Punk, waren gar nicht mal die Leute um mich
herum. Da habe ich schnell gemerkt, dass auch in der Punk-Szene die gleichen gesellschaftlichen Rituale gelten wie anderswo. Am Ende sind wir eben alle Menschen, mit leider auch vielen
unangenehmen Eigenschaften. Alle wollen liebgehabt werden, alle wollen ficken.
Nein, der Unterschied war einfach ICH SELBST. Mein Verhalten, die Radikalität, mit der ich mich von Ängsten und vom Anpassungsdruck befreit habe. Dafür habe ich dann zur Strafe aber auch weniger
gefickt.
Die Szene war schnell ziemlich egal. Es zählten immer nur Leute, mit denen ich persönlich gut befreundet war. Und mit denen man irgendwelchen Unsinn anstellen konnte.
Okay, Karl. Kommen wir zur Musik. KEIN HASS DA ist ja eine unglaublich perfekte 1:1 Kopie. BAD BRAINS auf deutsch. Wie läuft's? Bleibt es bei einzelnen Auftritten? Es gibt ja fertige
Aufnahmen. Was soll damit passieren?
Hängt gerade alles in der Schwebe. Gerade laufen Verhandlungen mit den BAD BRAINS über eine CD-Veröffentlichung ihrer deutschsprachigen Songs. Wir haben ja mittlerweile schon 28 im Programm. Wenn
alles klappt, gehen wir im März ins Studio. Dabei nehmen wir dann auch gleich ein paar eigene Songs auf. Glaube ansonsten nicht, dass wir je wirklich häufig auftreten werden. Hey, wir sind eine
Band alter Säcke, da hat man meist nicht mehr so viel Zeit für Musik und endloses Touren. Ich kann nur jedem Veranstalter empfehlen, früh genug anzufragen. Auf mehr als ein oder zwei Auftritte im
Monat werden wir wohl nie kommen. Wenn’s gut läuft!
BAD BRAINS sind Ja auch eine homophobe, frauenfeindliche Rastafariband.
Trotzdem preist du deren Showelemente und die Intensität. Ist dir diese Kontroverse egal?
Eigentlich ja. Weil das mal wieder so eine herrliche Vereinfachung ist, eine angenehme Aufteilung in Schwarz und Weiß.
Die Neger sind in diesem Fall praktischerweise schwarz. Ich kenne eigentlich keinen Punk oder ähnliches Gesocks, der nicht immer wieder mal echten Müll redet. Ich erinnere mich gerade an
jemanden, der meinte „Natürlich bin ich gegen die Todesstrafe. Nur nicht bei Nazis, die sollte man ausrotten.“ Und das meinte der auch so. Was tun in so einem Fall? Große Reden schwingen gegen so
einen Unsinn? „Aus der Szene verbannen“? Oder dem Henkerpunk rechtgeben, weil man eben wirklich alle Nazis töten müsste, um zu einer besseren Welt zu gelangen? Nee, am Ende reicht es schon völlig
aus ein paar Jahre abzuwarten, dann hat sich das Thema von selbst erledigt. So auch bei den BAD BRAINS. Neben vielen guten und wichtigen Dingen, die sie unter die Leute gebracht haben, haben sie
eben leider auch Scheiße verzapft. Frag die doch mal heute dazu . . . Und im Gegensatz zu anderen Leuten führe ich keine (geistige) Checkliste mit mir, anhand der ich die Gesinnung der Leute
überprüfe und abhake. Und WEHE, ich kann da nicht überall ein Übereinstimmungskreuzchen machen! Dann sofort auf die Schwarze Liste, oder was? Nee, so was entscheide ich aus dem Bauch. Rate mal,
wie ich reagiere auf Leute, die die angesagten Parolen fehlerlos aufsagen können? Ehrlich gesagt, da sind mit die Verwirrten noch lieber! Selbst der Todesstrafen-Punk. Das war übrigens auch das
Angenehme in der Zeit, als ich Punk wurde. Das wusste ja noch keiner, was „richtig“ oder „falsch“ war. Da herrschten die Nonkonformisten, die Spieler, die Durchgeknallten. Ein herrliches Chaos.
Du wusstest nie, was Dein Gegenüber in der Birne hatte. Keiner wusste, welche schlauen Sprüche an aufzusagen hatte, um sich beliebt zu machen. Also: Es gibt 'ne Menge an den BAD BRAINS zu
kritisieren, aber die Erfahrungen mit ihrer Musik und auch persönliche Begegnungen waren eben positiv. Also kümmere ich mich nicht um irgendwelche Szene-Konversationen. Direkte Erfahrungen sind
mir wichtiger. Ich traue mir selbst!
Karl, ich danke dir für deine ausführlichen Antworten. Leider habe ich nicht gepöbelt, weil ich um eine Verschlechterung deiner Gesundheit fürchte. An welchen Projekten arbeitest du
gerade, was kann der/die autonome AnarchistIn und waschechteR Punk denn von dir in Zukunft so erwarten? Schließlich spielst du ja mit der Erwartungshaltung anderer?
Autonome Anarchisten und waschechte Punks sollen sich gehackt legen und einfach am besten nicht dort sein, wo ich bin. Waschechte Nazis und überarbeitete Buchhalter aber auch. Die verderben alle
nur den Spaß. Alle anderen sind aber herzlich willkommen, besonders die abenteuerhungrigen Hausfrauen ab 40 sowie Kinder jedweder Couleur. Ansonsten habe ich für dieses Jahr und wohl auch danach
wie schon angedeutet keine monströsen Ultrahardcoreaktionen im Sack. Neben einer Überarbeitung meines Punk-Fotoarchivs will ich mein IDIOTENKLAVIER in einer mir noch selbst ziemlich unklaren
Mischung aus Lesung, Geschichtenerzählen, geschmacklosen Klamotten & anderen Peinlichkeiten und viel Live-Musik (Musik vom Player – ich singe dazu!) auf die Bühne bringen. Nix für große
Bühne, mehr für den Direktkontakt.
Da singe ich dann Songs von der Augsburger Puppenkiste, Alexandra, den Sex Pistols, Alice Cooper, den Dead Kennedys, S. Y. P. H., Buttocks, Blut + Eisen, etcpp, ist manchmal nicht ganz einfach,
die entsprechenden Instrumentalversionen dazu aufzutreiben. Wird aber auf jeden Fall keine gemütliche Verhübschung der Vergangenheit. Für so was tauge ich nicht. Ist aber 'ne schöne, schlanke
Sache. Keine Bandkollegen, mit denen ich mich abstimmen muss. Einfach nur ein paar Sachen in den Koffer packen und los gehts.