Der G20-Gipfel in Hamburg war das für Wochen beherrschende Thema in den Print- und Online-Medien. Am 7. und 8. Juli 2017 trafen sich die FührerInnen der EU und die 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer der Erde in Hamburg. Innensenator Andy Grote kündigte das G20-Treffen als „Festival der Demokratie“ an. Über 30.000 PolizistInnen waren in der Stadt um das Treffen zu schützen, 100.000 Menschen kamen, um dagegen zu demonstrieren.
Der Gipfel versetzte eine Stadt, die Politik und auch die Medien in den Ausnahmezustand. Am Ende drehte sich die mediale Debatte zuvorderst darum, ob der Staat seine BürgerInnen bei Krawallen
Autonomer noch schützen kann.
Auch wenn die Medien vor allem die Bilder von den Krawallen zeigten und die Politik sich hauptsächlich mit der Gewaltfrage beschäftigte, die G20-Proteste in Hamburg waren ein großer Erfolg:
Zehntausende widersetzten sich dem Ausnahmezustand, verteidigten das Recht auf Versammlungsfreiheit und sendeten ein unüberhörbares Signal gegen die Politik der G20.
Eine Welle des Widerstands schwappte durch die Hafenstadt, den Lars* Kollros1und Alexandra Zaitseva mit ihren Kameras begleitet
haben.
„Festival der Demokratie“ lautet ihr Dokumentarfilm, der über Crowdfunding von über 200 SpenderInnen finanziert und ermöglicht wurde.
«Im Grunde erlebten wir im kleinen die Simulation dessen, wie ein Polizeistaat funktioniert.»
Der Dokumentarfilm arbeitet die Proteste und die Handlungen der Polizei kritisch auf. Welche Kernthese stellt der Dokufilm auf?
Lars*: Nun, die Kernthese ist wohl, dass G20 eben nicht die Ausschreitungen des Freitags war, die im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben sind. Vielmehr zeichneten sich die
Tage und Wochen vor dem Gipfel durch eine lange Serie der Grundrechtsverletzungen vonseiten der Polizei aus. Die Polizei erhob sich immer mehr zu einem eigenständigen politischen Akteur, während
sich mit dem Näherrücken des Gipfels die eigentlichen legislativen Akteure immer weiter zurückzogen. Im Grunde erlebten wir im kleinen die Simulation dessen, wie ein Polizeistaat
funktioniert.
„Statt Konflikte lösen - eskalieren“ lautet meine Zusammenfassung als Beobachter. Ist der G20-Gipfel in Hamburg ein Modell, dass die Rechtsordnung nicht mehr als sicherheitsspendenden
Rahmen durch das Resultat eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses akzeptiert wird?
Lars*: Naja, der Rechtsstaat wurde ja eben von der Polizei außer Kraft gesetzt. Ein Gerichtsurteil wurde ignoriert, das Gericht knickte im Nachhinein ein – das war schon ein
unfassbarer Zustand. Inzwischen wissen wir, dass vermummte Polizist*innen im schwarzen Block der „Welcome to Hell“-Demonstration mitmarschiert sind – und zwar in zivil, schwarz und vermummt.
Diese Polizist*innen haben also im Dienst genau diese Straftaten – nämlich Vermummung – begangen, die von der Polizei als Begründung für die Zerschlagung der Demonstration genannt wurden. Und das
ist nur einer von vielen Skandalen rund um die Gipfelproteste. Und das geht ja mit den Prozessen, unfassbaren Urteilen, der Öffentlichkeitsfahndung, derzeit ca. 3500 Verfahren im G20-Komplex
weiter. Einen funktionierenden Rechtsstaat kann ich derzeit in Hamburg nicht erkennen.
Der Gipfel endete im Desaster. Welche Vorzeichen bzw. persönliche Erfahrungen gab es für dich, dass sich das bewahrheiten sollte?
Lars*: Sagen wir mal so: Dass Hamburg der wohl ungeeignetste Ort in Deutschland für G20 ist, war ja klar. In Hamburg knallt es ja alle paar Monate mal in der Schanze. Auch wenn
es die letzten Jahre deutlich ruhiger wurde und auch Schanzenfeste oder der 1. Mai mal ohne Ausschreitungen ablaufen. Jedenfalls sind Ausschreitungen in Hamburg nichts Neues. Dass der damalige
Oberbürgermeister und jetzige Vizekanzler Olaf Scholz den Gipfel nach Hamburg holt und denkt, dass das alles klappt, lässt schon auf eine gehörige Portion Weltfremdheit, Selbstüberschätzung und
Arroganz schließen. Ich persönlich war während der Proteste eher überrascht, wie viel sich die Protestierenden gefallen haben lassen. Du hast richtig gespürt, dass die Leute ein wichtigeres Ziel
vor Augen hatten und deswegen nicht auf Provokationen seitens der Polizei eingegangen sind.
Bestes Beispiel ist ja der Wasserwerfer-Einsatz beim Cornern am Dienstag. Schon da versuchte die Polizei massiv zu eskalieren und wollte Bilder produzieren, die das harte und restriktive Vorgehen
rechtfertigen. Geschafft haben sie das erst am Freitag.
Zu welchem Zeitpunkt war dir bewusst, die Ereignisse filmisch dokumentieren zu wollen?
Lars*: Dass ich das irgendwie mit der Kamera festhalten wollte war früh klar. Es war sozusagen mein Beitrag zu den G20-Protesten. Ich hatte aber eher direkte Berichterstattung
oder im Nachgang evtl. einen Kurzfilm im Auge. Direkte Berichterstattung haben wir am Freitag aufgegeben, weil klar war, dass die Polizei die Teilnahme an Demonstrationen kriminalisiert. Damit
würden wir mit unseren Bildern Demonstrierende gefährden. Im Film haben wir ja alle Demonstrierenden unkenntlich gemacht, aber das war extrem aufwendig. Das wäre während der Gipfeltage nicht
machbar gewesen. Wir haben dann aber weiter gefilmt und uns war auch klar, dass wir gerade historisches dokumentieren. Im Nachgang haben wir dann angefangen die Interviews zu drehen und da war
dann auch schnell klar, dass das ein Langfilm werden muss.
Der Blick durch die Kamera ergibt immer noch ein mal eine ganz andere Perspektive.
Was und wie war deine Bildgestaltung bzw. auf was hast du besonders geachtet?
Lars*: Das ist eine gute Frage, weil wir ja zu zweit gefilmt haben. Während ich eher einen journalistischen Fokus hatte, hat die Künstlerin Alexandra Zaitseva, mit der ich
zusammen gearbeitet habe, ganz anders und auch viel künstlerischer und ästhetischer gefilmt. Das merkst du auch am Film, weil immer wieder ruhige und eher künstlerische Szenen vorkommen, die
meines Erachtens auch sehr wichtig für den Film sind. Klar hat auch sie dokumentarisch gearbeitet und jetzt nicht völlig andere Sachen gefilmt, aber du merkst bei ihren Aufnahmen einfach, dass
sie seit bald 20 Jahren Künstlerin ist.
FilmemacherInnen können mit der Art und Weise, wie sie Bilder gestalten, die Blicke der ZuschauerInnen lenken und dadurch auch ganz gezielt Wirkungen erzeugen. Inwiefern hat diese Methode
in „Festival der Demokratie“ eine Rolle gespielt?
Lars*: Natürlich lenkt man durch den Schnitt den Blick der betrachtenden Person. Es ging mir darum, einen chronologischen Überblick zu geben. Es hatte aber nicht den Anspruch
einen superneutralen Film zu machen. Also es sollte schon eine Art Gegenöffentlichkeit geschaffen werden. Ich habe schon einen linken Film gemacht.
Der öffentliche Diskurs war bestimmt von den Straftaten der DemonstrantInnen, Einzelpersonen und sogenannten TrittbrettfahrerInnen. Plünderungen, Brandstiftungen, Angriffe auf die
Polizei. Deine Filmdoku erzählt eine andere Geschichte. Welche Signalwirkung hat dein Film?
Lars*: Wie gesagt, ich möchte eine Gegenöffentlichkeit schaffen. Es ging eben darum, weg von den Ausschreitungsbildern des Freitags zu kommen, die im kollektiven Gedächtnis
hängen geblieben sind. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Bilder der brennenden Autos am Freitagmorgen und der Ausschreitungen am Freitagabend zumindest nicht ungelegen kamen, um
die restriktiven Ereignisse und die Grundrechtsverletzungen im Nachhinein zu legitimieren und in den Hintergrund zu drängen. Und ich wollte sie wieder ans Licht der Öffentlichkeit zerren.
Was sind für dich die stärksten Szenen der Doku?
Lars*: Die stärkste Szene ist wohl die abgeknickte Stockrose. Also da steht eine Stockrose am Straßenrand und daneben ziehen Polizeiketten auf. Ein Polizist bleibt stehen,
sieht sie und knickt sie ab. Diese Szene ist sehr sinnbildlich für die G20-Tage.
In der post-medialen Nachbearbeitung und Aufarbeitung der „G20-Krawalle“ soll es keine Versagungsgründe an einer Aufklärung seitens der Polizei geben. Was sind die Gründe
dafür?
Lars*: Das ist eine gute Frage. Früher hätte es sicher den einen oder anderen Rücktritt gegeben nach einem solchen Desaster. Die stellen sich aber hin und behaupten, sie haben
alles richtig gemacht – und werden auch noch befördert dafür. Es darf keinen Zweifel an der Version der Polizei geben, auch wenn diese inzwischen in weiten Teilen nicht mehr haltbar ist. Das ist
eine sehr beängstigende Entwicklung.
Welche Rolle spielte die sogenannte Hamburger Linie der Polizei - also der Verzicht auf Deeskalation und besondere Härte im Einsatz und wie hast du diese während des Filmens
wahrgenommen?
Lars*: Naja, das war schon von Anfang an spürbar. Also jede Demonstration wurde mit einem riesigen Polizeiaufgebot begleitet. Ein ordnungsgemäß abgestellter ehemaliger
Wasserwerfer wurde von der Polizei abgeschleppt und beschlagnahmt, weil er vor dem Haus des Innensenators parkte. Überall waren schon vor dem Gipfel Polizeikontrollen. Es gab im Vorfeld
Hausdurchsuchungen, Menschen wurden und werden immer noch auf den Internetseiten des Hamburger Verfassungsschutzes an den Pranger gestellt, weil sie Gegenproteste organisierten. Und dann
natürlich die gesamte Polizeitaktik, die eben auch im Film beschrieben ist...
Zu welchem Zeitpunkt hattest du das Gefühl, das ist hier jetzt nicht mehr unter Kontrolle?
Lars*: Ich denke, am Freitag hatte die Polizei schon sehr schnell die Kontrolle über die Situation verloren – und das, obwohl sie personell vermutlich eine 1:1-Betreuung
geschafft hätten. Also, wir kamen beispielweise zu einer angekündigten Blockadeaktion Freitagmorgens an den Fischmarkt – die Aktion stand vorab in der Zeitung – und da standen 200 Polizist*innen
2-3000 Demonstrierenden gegenüber. Da war ich dann doch sehr überrascht. Die waren null in der Lage ihre blaue Demoverbotszone zu halten. Die haben sich einzig auf die Protokollstrecken
beschränkt. Das sieht man ja auch an der Aktion in der Elbchausee, wo morgens eine organisierte Gruppe ein Auto nach dem anderen angezündet hatte und die Polizei brauchte ‚ne halbe Stunde um da
hin zu kommen. Selbst einer der unzähligen Hubschrauber war erst nach 25 Minuten vor Ort. Wobei diese Aktion ohnehin sehr seltsam ist, weil es angeblich keinerlei Erkenntnisse, auch nicht
vonseiten der Geheimdienste, dazu gab.
Am Abend des 7. Juli zieht sich die Polizei komplett aus dem Schanzenviertel zurück. Möglicherweise war sie der Schlagkraft der Autonomen nicht gewachsen. War das ein paramilitärischer
Sieg der Militanten?
Lars*: Tja, ich bin mir nicht sicher, ob sie der Sache nicht gewachsen waren, oder ob es ihnen nicht vielmehr ganz recht war, dass es da knallt, statt vor der Elbphilharmonie.
Also die hatten so viele Kräfte da, haben alle Straßen abgeriegelt, außer der Zufahrt zur Schanze? Was für ‚ne Polizeitaktik soll das denn sein?
Es ergibt aber eben Sinn, wenn die einfachen Bürger in der Schanze nicht so wichtig sind, wie das Konzert in der Elbphilharmonie. Die Betrachtungsweise wäre dann: Es wurden die Ausschreitungen an
diesem Ort gehalten und dadurch ein ungestörter Ablauf des Konzertes gewährleistet. Es waren ja genügend Zivilpolizist*innen in der Schanze, um zu sehen, was da los ist.
Und interessanterweise wurde das SEK ja auch erst wenige Minuten, nachdem die letzte Kolonne die Elbphilharmonie verlassen hatte, in der Schanze eingesetzt.
Die „Soko Schwarzer Block“ im Hamburger Polizeipräsidium führt über 3400 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel. Anfang Dezember 2017 wurden zeitgleich 24 Objekte -
Wohnungen und linke Stadtteilzentren - in acht Bundesländern durchsucht. Es gab zum Teil drastische Strafen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel. Polizeibeamte standen nicht vor Gericht. Bis auf
DIE LINKE gab es keine parlamentarische Kraft, irgendwie kritisch was zu hinterfragen. Wundert dich das?
Lars*: Nicht wirklich. SPD und Grüne sind für das alles ja verantwortlich und CDU und FDP haben kein Interesse daran, die Polizei schlecht dastehen zu lassen...
Was waren die Kriterien für die Wahl deiner InterviewpartnerInnen?
Lars*: Nun, Christiane Schneider sitzt im Sonderuntersuchungsausschuss und hat daher einen sehr guten politischen Einblick. Sie ist ja auch innenpolitische Sprecherin der
Linken. Lino Peters ist Anwalt und hatte auch während der Proteste in der Gefangenensammelstelle gearbeitet. Thomas Wüppesahl ist Bundessprecher der kritischen Polizist*innen und hat
dementsprechend einen recht guten Einblick in die Polizeibehörde. Frank Gerber war für die IL an der Organisation der Proteste beteiligt. Und Mirco Wiegert bringt dem Ganzen eine bürgerliche
Sichtweise, die ich für den Film sehr wichtig finde.
Wichtiges Kriterium für die Auswahl war, dass die Leute sich nicht selbst gefährden, also wissen, was sie sagen (dürfen). Ich konnte also nicht während der Proteste irgendwelche Leute auf der
Straße interviewen.
Du hast Thomas Wüppesahl interviewt, der eine umstrittene persönlichkeit mit bewegter Vergangenheit2 ist. Warst du mit der
Biographie vertraut und war er der ideale Gesprächspartner, um die These der polizeilichen Regelverletzungen zu stützen?
Lars*: Stimmt, seine Geschichte ist an sich schon einen Film wert. Aber ich bin durch ein anderen Interview, das er Ficko3 gegeben hat, auf ihn aufmerksam geworden, und was er sagt, hatte eben Hand und Fuß. Seine Biographie – ich denke mal, du spielst auf seinen Gefängnisaufenthalt an – war für
den G20-Komplex unerheblich.
Du hast Anwalt Lino Peters interviewt, der resümiert das harte, übergriffige Vorgehen der Polizei gegenüber DemonstrantInnen als Willkür, als Machtspiele. Das Rechtssystem wurde außer
Kraft gesetzt und autoritäre Willkür hat den ultima Ratio bestimmt...hat diese Methode und das polizeiliche Vorgehen deiner Meinung nach Auswirkungen auf zukünftige linke
Protestaktionen?
Lars*: Auf jeden Fall. Hat es ja schon. Kurz nach G20 war das SEK bei einer Anti-Nazi-Demo anwesend. Wir haben bundesweit neue Polizeigesetze, die die Polizei zu viel mehr
Macht verhelfen sollen und ihr auch die Möglichkeit geben, eine Strafe vorweg zu geben. Also sie können dich erst mal wegsperren. Wenn nach 3 Monaten ein Gericht sagt, dass du wieder raus darfst,
warst du trotzdem erst mal 3 Monate im Knast.
Im Anschluss des Filmes gab es Diskussionen im Publikum. Worüber wurde am meisten diskutiert?
Lars*: Im Grunde sind es die Fragen, die Du auch gestellt hast. Ein bisschen zum Film und seiner Entstehung, aber viel zu aktuellen Entwicklungen.
Fußnoten:
1. Lars* definiert sich selbst als genderqueer und bevorzugt das Pronomen „they“. ↩
2. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/raubmord-urteil-wueppesahl-muss-fuer-viereinhalb-jahre-in-haft-a-364190.html ↩
3. http://ficko-magazin.de/interview-mit-thomas-wueppesahl-zum-polizeieinsatz-bei-g20/ ↩