Berlin 3: Flirrende Stadt
v. Jason Lutes
176 Seiten (14,60 x 21,00cm); €14,00
ISBN: 978-3-551-76677-9
www.carlsen.de
Inhalt: Mit "Berlin" gelingt dem amerikanischen Comic-Autor Jason Lutes ein kunstvoller historischer Roman in Bildern, dessen exakt recherchierte Stadtansichten und Milieustudien
ein beeindruckendes Zeitpanorama entfalten. Nun erscheint der Abschlussband der Trilogie, deren Handlung im September 1928 einsetzt und im Januar 1933 endet.
Zum Autoren: JASON LUTES wurde 1967 in New Jersey, USA geboren. Nach einem Design-Studium debütierte er 1992 im Stadtmagazin von Seattle, „The Stranger”, mit seiner
melancholischen Graphic Novel „Narren” (auf Deutsch im Carlsen Verlag erschienen). Inspiration für seine Arbeit fand Jason Lutes auf grafischer Seite vor allem bei frankobelgischen
Comic-Zeichnern wie Hergé („Tim und Struppi”) oder Edgar Pierre Jacobs („Blake und Mortimer”), in der Erzählstruktur jedoch zeigen sich Anleihen bei den Kommunikationstheorien von Scott McClouds
„Comics richtig lesen”. McCloud seinerseits war von Lutes' Arbeiten derart beeindruckt, dass er „Narren” in seinem Band „Comics neu erfinden” gleich mehrfach zitiert. Nach dem in den USA
preisgekrönten „Narren” legte Lutes Mitte der 90er Jahre gemeinsam mit dem Autor Ed Brubaker den Vorstadt-Thriller „Herbstfall” vor (Reprodukt). Für den Zeichner Nick Bertozzi schrieb Lutes den
2007 veröffentlichten biografischen Comic „Houdini – Der König der Handschellen“ (ebenfalls Carlsen).
Seit 1996 arbeitet Lutes an der Serie „Berlin”, in der er die Schicksale verschiedener Menschen vor der Kulisse der untergehenden Weimarer Republik erzählt.
Gesamteindruck:
Jason hat mit der Trilogie zum Einen einen zeithistorischen Abriss einer der dunkelsten Epoche der menschlichen Zeitgeschichte skizziert und zum Anderen eine persönliche Weiterbildung zu den Hintergründen des schleichenden Prozesses weg von der Demokratie hin zur Diktatur in Deutschland betrieben. Es klingt schon zynisch und gleichzeitig naiv, wie der Bauer in den anfänglichen Panels die vorbeifahrende Eisenbahn als "Klang des Fortschritts" beschreibt, während die LeserInnen wissen, dass sich darin Adolf Hitler und Joseph Goebbels befinden, die nach Berlin reisen. Jason greift im Lauf der Geschichte immer wieder zu dem bekannten Mittel von Abwehrmechanismen, die die den Zweck haben, miteinander in Konflikt stehende psychische Tendenzen mental so zu bewältigen, dass die resultierende seelische Verfassung konfliktfreier ist. Das erklärt wiederum das soziale Verhalten im Umgang mit dem zunehmenden offenen Rassismus, der Anfang der 30er Jahre in Berlin zu Diskriminierungen, Vertreibungen, Gewalt und Tod von Sozialisten, Kommunisten, Juden, Schwule/Lesben führte. Jason greift hierfür das Schicksal der jüdischen Großfamilie Schwartz auf, die letztendlich aus der Stadt flieht, sowie das prominente Beispiel des Verlegers Carl von Ossietzky, der als Herausgeber der Zeitschrift "Die Weltbühne" mit einem Artikel, der die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufdeckte, wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Hierzu hat Jason Lutes gut recherchiert und übernimmt in Teilen Carl von Ossietzkys "Rechenschaft"-Rede (Die Weltbühne, 10. Mai 1932, S. 690) im Kontext des historischen Fotos, welches Carl mit Freunden und Begleiter bei dem Antritt der Haftstrafe am 10.05.1932 vor der Strafanstalt in Berlin-Tegel zeigt.
Des Weiteren hat er seine Hauptfiguren Karl Severing und Martha Müller mit sehr negativen Eigenschaften ausgestattet, die verstärken, dass die Blütezeit, die Euphorie der goldenen 20er Jahre in Berlin endgültig vorbei sind. Karl Severing ist desillusioniert, kraftlos, resignierend und Martha flieht letztendlich aus der Stadt und ist dennoch hin- und hergerissen zwischen ihrer sexuellen Vorliebe, zwischen Visionen, Träume und Ernüchterung. Lediglich das Einzelschicksal der jungen Silvia Braun macht Mut. Jason stellt sie als Kämpferin dar, als einsame Wölfin, die den Faschisten den Kampf ansagt und zu allem Entschlossen ist. Darüber hinaus stellt Jason die 2 Extreme dar: der Kampf der Kommunisten, den Kampf der Nationalsozialisten. Dabei fungiert die Hauptfigur Karl Severing eher als unbeteiligter Beobachter, der beide Lager aufsucht ohne die politischen Kämpfe zu bewerten. Dafür sprechen die Bilder und die Dialoge eine ganz andere Sprache, die verdeutlicht, dass zwischen Aufruhr und Gewalt, kein Platz für Liebe oder eine zwischenmenschliche Beziehung bleibt. Alles geht in die Brüche. Während also die politische Lage auf der Straße eskaliert, stellt Hindenburgs Unterschrift unter das Kanzlerdokument den symbolischen Abschluss der Demokratie und mit der Übergabe der Reichs-Kanzlerschaft an Hitler am 30. Januar 1933 der Beginn der Diktatur dar.
Und so hat Jason ganz bewusst einzelne historisch wesentlich wichtige Momente in die Panels eingefügt, die - verbunden mit den Einzelschicksalen - den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in Berlin von September 1928 bis Januar 1933 nachzeichnen. Das Mammutprojekt verknüpft Zeitgeschichte mit realen und fiktiven Personen im Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Scheitern. Dafür greift Jason Lutes auf eine analytische Perspektive zurück und lässt die LeserInnen sich mit der ethisch-moralischen Frage über das bedrohte Menschsein auseinandersetzen, die durch die zeitgeschichtlichen Lebensumstände Flucht, Vertreibung, Terror und Tod als Ursache hat. Insofern ein brandaktuelles Thema, dem wir uns umso-dringender stellen sollten.