Antje Schrupp ist Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Philosophin. 1999 promovierte sie über Frauen in der Internationalen Arbeiterassoziation („Erste Internationale“), ist freie Referentin, Publizistin und Bloggerin.
Vom Feminismus „angesteckt“ wurde sie 1994, als sie über Chiara Zamboni1 das Denken der italienischen Feministinnen kennenlernte und entdeckte, dass Feministin zu sein nicht bedeutet, bestimmte Meinungen zu haben oder Programme vertreten zu müssen, sondern frei zu sein, dem eigenen Begehren zu folgen. Und einen Sinn in der Tatsache zu finden, dass ich eine Frau bin. Die Liebe der Frauen zur Freiheit und zur Welt ist es, die sie seither bewegt und inspiriert. Deshalb interessiert sie sich vor allem für frauliche politische Ideengeschichte und ist immer wieder entzückt, welche überraschenden Ideen aus dem gemeinsamen Denken und auch aus Konflikten mit anderen Frauen (ob sie nun heute leben oder früher) entstehen.
„Wir brauchen keine Frauenquote, wir brauchen eine Feministinnenquote. Wir brauchen Frauen mit einer Agenda. Mit einer feministischen Agenda. Was nicht bedeutet, dass sie nur Fraueninteressen vertreten.“
Antje, du hast mit einer Studie von vier Biographien das Verhältnis von Feminismus und Marxismus untersucht. Welche Rolle spielt das Verhältnis für dich?
Ich habe eigentlich das Verhältnis von Feminismus und Sozialismus untersucht, am Beispiel von vier Aktivistinnen, die in der Ersten Internationale (1864-1872) aktiv waren. Nur eine davon,
Elisabeth Dmitrieff, war ausdrücklich Marxistin, zwei andere, André Léo und Virginie Barbet, waren eher Anarchistinnen, und Victoria Woodhull schließlich lässt sich gar keiner solchen Fraktion
zuordnen. Generell bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die klassischen Kategorien – wie eben Marxistin oder Anarchistin – für das politische Denken dieser Frauen nicht passen. Die politische
Ideengeschichte ist historisch eine sehr männliche Disziplin, bis vor wenigen Jahrzehnten interessierte sie sich nur für die politischen Ideen von Männern. Dann kam der Feminismus auf, und man
hat versucht, Frauen in die dabei bereits etablierten Systeme zu integrieren. Aber das funktioniert nicht. Zum Beispiel ist die Auseinandersetzung zwischen „Marxismus“ und „Anarchismus“ zwar
wichtig gewesen, aber nur wenn man sich die Positionen von Männern in der Ersten Internationale anschaut, nicht in Bezug auf die Frauen. Frauen haben untereinander zwar auch gegensätzliche
Ansichten, aber die Konfliktlinien verlaufen anderswo. Um ihre Anliegen und Ideen zu verstehen, brauchen wir andere Kategorien, wird dürfen sie nicht immer auf die Kategorien der Männer beziehen.
Um nach diesem langen Schlenker zu deiner Frage zurückzukommen: Am Verhältnis von Feminismus und Marxismus ist für mich nicht interessant, ob der Feminismus marxistisch ist oder nicht, sondern ob
der Marxismus feministisch ist oder nicht.
Feminismus bezeichnet für dich weniger eine bestimmte politische Position, sondern eher die bewusste Zugehörigkeit zu einer sozialen Bewegung. Was meinst du damit?
Unter Feminismus verstehe ich eine politische Position, die erstens die Geschlechterdifferenz für eine unverzichtbare Analysekategorie hält. Ohne Geschlechterdifferenzen zu berücksichtigen und zu
untersuchen, lässt sich zu keinem Thema der Welt irgendetwas Vernünftiges sagen, einfach, weil es keinen Aspekt der Welt gibt, der nicht von Geschlechterkonstruktionen betroffen wäre. Und
zweitens bedeutet eine feministische Haltung, dass man die Freiheit der Frauen für einen Zweck an sich hält, der nicht zur Disposition gestellt werden kann. Die Freiheit der Frauen ist für
Feministinnen nicht verhandelbar, sie ist nicht an eine bestimmte soziale Position oder ein bestimmtes Wohlverhalten von Frauen gebunden oder daran, dass Frauen irgendeinen gesellschaftlichen
Nutzen erfüllen. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, ist jemand Feminist oder Feministin. Da das rein formale Kriterien sind, sagt das noch nichts über eine bestimmte inhaltliche Position
aus. Zum Beispiel kann eine Feministin Anarchistin oder Marxistin sein, für Quoten oder gegen Quoten, Matriarchatsfeministin oder Queeraktivistin. Feminist_innen erkennt man nicht an ihren
inhaltlichen Positionen, sondern an ihrem Bekenntnis zur Freiheit der Frauen, daran, dass sie sich bewusst mit der Frauenbewegung identifizieren. Was aber beinhalten kann, dass sie sich von
bestimmten feministischen Positionen und Aktionen distanzieren.
Der Feminismus ist zu einem ignoranten, akademischen Diskurs verkommen, den viele Menschen „da draußen“ gar nicht mehr verstehen...
Ja, aber das ist ja eine Krankheit der Linken generell, die vielleicht auch nochmal speziell in Deutschland verbreitet ist. Die Frauenbewegung kommt ja historisch aus der Studentenbewegung und
daher ist ein gewisser sektiererischer Duktus nicht verwunderlich, ich würde sogar sagen, dass der in feministischen Szenen weniger krass ausgeprägt ist als er es zum Beispiel in den klassischen
K-Gruppen war. Das soll keine Rechtfertigung sein, aber es steht eben in einem Kontext. Vielleicht ist ein gewisses Sektierertum auch notwendig zur Herausbildung radikaler Positionen. Das
Entwerfen steiler Thesen, die dann mit Verve gegen einen überwältigend dominierenden Mainstream verbissen verteidigt werden, ist mir sogar in gewisser Weise sympathisch. Ich glaube, diese Debatte
über die „Ignoranz“ des Feminismus, die sich ja nur auf kleine Szenen von Femnistinnen bezieht, zeigt eher, dass wir als Gesellschaft an Frauen und Feministinnen andere Ansprüche haben als an
Männer in Bezug auf ihr politisches Engagement. Wir erwarten von Frauen mehr als von Männern, dass sie ihre Anliegen nett vermitteln und nicht „über das Ziel hinausschießen“. Ich persönlich finde
es aber meistens gut, wenn Frauen über das Ziel hinausschießen, mich inspirieren radikale Positionen. Ich muss mich ihnen ja nicht unterwerfen. Wir reden hier ja auch nicht über Personen in
starken gesellschaftlichen Machtpositionen, sondern in der Regel sind es doch marginalisierte Szenen. Mich überzeugt auch das Argument nicht, Feminismus müsste doch den Mainstream „abholen“ und
„mitnehmen“. Jeder Mensch ist selbst dafür verantwortlich, feministisch zu sein oder nicht, der Feminismus ist doch keine Serviceeinrichtung.
Inwieweit ist Gleichberechtigung im Kapitalismus angekommen?
Formal sehr weit, allerdings ist der Kapitalismus noch nie ein großer Feind der Gleichberechtigung gewesen. Es ist kein Zufall, dass neoliberale Ökonomen wie zum Beispiel John Stuart
Mill2 gleichzeitig überzeugte Frauenrechtler waren: Der Kapitalismus will die weibliche Arbeitskraft ausbeuten, und klassische
patriarchale Vorstellung standen dem historisch entgegen. Gleichberechtigung war für den Kapitalismus nie ein Problem, solange sie sich wirklich auf formale Rechte für Frauen beschränkte. Es
waren eher die männlichen Sozialisten, die sich historisch gegen gleiche Rechte für Frauen aussprachen, weil sie diese eher in der Rolle der dem Ehemann untergeordneten Hausfrau mit „natürlichen
Pflichten“ in der familiären Care-Arbeit sahen. Ansonsten gibt es eben einen großen Unterschied zwischen der Gruppe „die Frauen“ und einer Gruppe etwa wie „die Arbeiter“. Die Arbeiter sind durch
gesellschaftliche Verhältnisse bestimmt, das Proletariat ist ein Produkt des Kapitalismus, in anderen Gesellschaftsformen gibt es das nicht. Daher kann man auch von einem gemeinsamen
Klasseninteresse sprechen. Bei „den Frauen“ stimmt das nicht. Natürlich ist die Situation von Frauen ebenfalls gesellschaftlich geprägt, aber Frauen gibt es auch ohne diese Prägungen. Es gibt sie
in allen Gesellschaften und Kulturen, und auch in allen Schichten und Milieus. Frauen haben als solche keine gemeinsamen Interessen, man kann die Frauenbewegung nicht analog zur Arbeiterbewegung
verstehen. Es gibt in jeder Gesellschaftsform, und auch im Kapitalismus, immer auch Frauen, die von den damit verbundenen Privilegien profitieren. Außerdem bot der Kapitalismus immer auch Chancen
für Frauen, aus patriarchalen Fesseln und Strukturen auszubrechen und „Self Made Women“ zu werden, das heißt, manche Frauen haben durchaus gute Gründe, den Kapitalismus gut zu finden.
Warum ist der Kampf für Frauenbefreiung weiter aktuell?
Weil die Welt noch nicht so ist, wie Frauen sie sich wünschen. Die Existenzberechtigung des Feminismus ist nicht davon abhängig, dass Frauen diskriminiert und unterdrückt werden. Ganz im
Gegenteil: Je emanzipierter Frauen sind und umso mehr Möglichkeiten sie haben, umso wichtiger ist es, dass sie aus einer feministischen Perspektive heraus handeln und nicht einfach nur
„mitspielen“. Früher brauchten wir Feminismus, um gleiche Rechte zu erkämpfen, heute brauchen wir Feminismus, um uns gegen die Assimilation in einer männliche symbolische Ordnung zu wehren.
Wie weit trennt die Unterdrückung der Frauen im modernen Kapitalismus die allgemeine frauliche Befreiung?
Ärger zwischen Kapitalismus und Feminismus gibt es immer dann, wenn Feministinnen sich nicht mit gleichen Rechten für Frauen zufriedengeben, sondern mehr verlangen, nämlich Freiheit und gutes
Leben für alle. Wenn der Feminismus kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen hinterfragt. Momentan ist dabei vor allem die Diskussion über Care-Arbeit zentral. Diese Arbeit
wird von Frauen weitaus mehr als von Männern erwartet, und dass sie getan wird ist grundlegend für das Funktionieren des Kapitalismus. Aber sie wird marginalisiert und unsichtbar gemacht. Auch im
Marxismus und in fast allen anderen linken Theorien war das Thema viel zu lange vernachlässigt worden, eine Folge davon, dass die Geschlechterdifferenz für nebensächlich gehalten wurde.
Care-Arbeit ist ja mehr als Reproduktionsarbeit, ihr Zweck ist es nicht allein, Arbeitskraft wieder herzustellen. Sonst gäbe es ja keinen Grund, etwa für alte Menschen zu sorgen. Es ist nicht
möglich, den Sektor der unbezahlten Arbeit einfach in den der Geldwirtschaft einzugliedern. Auch da brauchen wir wieder ganz andere Kriterien. Feministische Ökonominnen thematisieren das schon
lange. Sie weisen auch darauf hin, dass die Ungerechtigkeiten, die kapitalistische Gesellschaften hervorbringen, in der Praxis nicht „geschlechtsneutral“ sind, auch wenn sie sich so geben, weil
sie eben mit traditionellen patriarchalen Strukturen verwoben sind. Das haben Feministinnen von Anfang an gewusst und thematisiert, heute wird es unter dem Stichwort „Intersektionalität“
diskutiert, was bedeutet, dass verschiedene Diskriminierungsstrukturen miteinander verwoben sind: Rassismus und Sexismus zum Beispiel kann man nicht einfach aufaddieren, sondern eine Schwarze
Frau wird auch als Frau anders behandelt als eine weiße.
Die dominierende Vorstellung ist aber, dass sozialistische oder marxistische Politik nicht genügt, um Unterdrückung zu erklären oder zu untersuchen. Welche Ansicht vertrittst du und sind
Patriarchat und Ausbeutung voneinander getrennt zu erklären?
Das Patriarchat ist als Gesellschaften prägendes Herrschaftsverhältnis ja viel älter als der Kapitalismus, nämlich ungefähr vier- bis fünftausend Jahre, während der Kapitalismus gerade mal ein
paar hundert Jahre alt ist. Patriarchat gibt es in vielen Varianten, und das kapitalistische Patriarchat ist nur eine davon. Der Grundfehler des Marxismus ist meiner Meinung nach, dass er die
Bedeutung der Ökonomie für gesellschaftliche Verhältnisse absolut gesetzt hat. Die Herrschaft von Männern über Frauen hat aber nicht in erster Linie ökonomischen Gründe. Ökonomie ist immer mit
Kultur verknüpft, mit Vorstellungen von Familie und Generationenverhältnissen und so weiter. Das alles muss immer zusammen diskutiert werden, nicht getrennt. So wie es der intersektionale
Feminismus versucht. Manche Marxisten versuchen das inzwischen zwar auch, sind aber, soweit ich es sehe, noch nicht sehr weit gekommen. Und es gibt auch viele, die immer noch am Primat der
Ökonomie festhalten und höchstens mal einen „Frauenaspekt“ einfügen. Aber man muss Herrschaftsverhältnisse immer in ihrer gegenseitigen Verwobenheit sehen, sonst wird man sie nicht
verstehen.
Warum brauchen wir, um Frauenunterdrückung zu beseitigen, einen revolutionären Wandel und welche Grundlagen müssen hierfür geschaffen werden?
Ein Kampf nur gegen Frauenunterdrückung – und nicht gegen Unterdrückung generell – ist meiner Meinung nach sinnlos. Zum Beispiel finde ich die Hoffnung auf eine „Fifty-Fifty“Gesellschaft immer
ein bisschen albern: Ja, es ist ungerecht, dass Frauen viel mehr unbezahlte Care-Arbeit machen als Männer, aber was wäre damit gewonnen, wenn wir das Halbe-Halbe zwischen den Geschlechtern
aufteilen, aber diese Arbeit immer noch abgewertet wird? Oder was würde es helfen, 50 Prozent Frauen in Aufsichtsräten zu haben, wenn die dann aber eine genauso ausbeuterische Unternehmenspolitik
machen? Feminismus, jedenfalls der interessantere Teil davon, hatte immer eine Perspektive auf die Welt, es geht darum, welche Ideen und Vorschläge Frauen für das menschliche Zusammenleben haben,
ausgehend von ihren Erfahrungen und Wünschen. Es geht nicht darum, Lobbyismus für Fraueninteressen zu machen. Oder, wie ein alter Spruch der Frauenbewegung lautete: Wie wollen kein größeres Stück
vom vergifteten Kuchen, wir wollen einen anderen Kuchen.
Ein weiteres wichtiges Thema für dich ist die Verbindung von Anarchismus und Feminismus. Welchen Beitrag zur radikalen feministischen Gesellschaftsanalyse leistest du?
In Deutschland ist der Feminismus – wie die meisten sozialen Bewegungen – traditionell sehr „staatsnah“ organisiert. Viele Frauen denken bei Verbesserungen gesellschaftlicher Umstände gleich an
neue Gesetze oder verstehen unter politischem Engagement eines in Parteien und Institutionen. Und man muss auch sagen, dass es inzwischen viele Feministinnen in den staatlichen Institutionen oder
staatsnahen Organisationen gibt, die tatsächlich einiges manches bewirken. Trotzdem bemühe ich mich, in die feministischen Debatten einen weiteren Horizont einzubringen und darauf hinzuweisen,
dass zu viel Staatsnähe problematisch ist, weil sie unseren Visionen Grenzen setzt. Radikale Gesellschaftskritik kann sich darauf jedenfalls nicht beschränken oder verlassen.
Die radikale feministische Perspektive ist nahezu identisch mit dem Anarchismus. Warum entsprechen und ergänzen sich Anarchismus und Feminismus?
Ich weiß nicht, ob deine These so stimmt, denn es gibt zahlreiche anarchistische Positionen, die ganz ohne Feminismus auskommen, und dabei muss man nicht mal auf einen exzessiven Frauenfeind wie
Proudhon3 zu sprechen kommen. Ich finde ja auch, dass Anarchismus und Feminismus gut zusammenpassen, aber identisch sind sie nicht. Der
gemeinsame Nenner ist natürlich die Herrschaftslosigkeit, aber da fängt es ja schon an: Was ist Herrschaft? Es gibt zum Beispiel eine starke männliche anarchistische Tradition, die unter
Herrschaftslosigkeit die Abwesenheit von Zwängen versteht, aber das ist in der Praxis dann oft das Sich-Ausleben des Stärkeren. Feminismus kritisiert immer auch die unsichtbaren und informellen
Privilegien, die Gesellschaften strukturieren, und die wird man unter Umständen nur los, indem man klare Regeln aufstellt. Es gibt auch eine starke individualistische Strömung im Anarchismus, man
denke etwa an Stirner4, während Feminismus in der Regel eine Politik der Beziehungen verfolgt und die gegenseitige Abhängigkeit der
Menschen voneinander in den Blick nimmt. Da gibt es also vieles zu diskutieren.
Wie sind anarcha-feministische Konzepte in deinem Alltag eingebunden?
Ebenso wie der Feminismus hat auch der Anarchismus keinen bestimmten „Platz“ in meinem Alltag, sondern es ist eher eine Grundhaltung, mit der ich an alles herangehe, was ich tue. Ob ich an
Tagungen teilnehme, Artikel schreibe, Beziehungen pflege, mich ehrenamtlich engagiere – das alles tue ich quasi auf „anarchafeministische Weise“. Ich suche aber in meinem politischen Engagement
immer auch Kontakt außerhalb der eigenen Gruppe hinaus. Ich finde in der Politik die Arbeit der Vermittlung von Ideen wichtiger als die Ausarbeitung von Theorien. Deshalb bin ich in vielen
gemeinsamen Projekten auch mit Nicht-Feministen und mit Nicht-Anarchistinnen.
Wie wichtig ist dir eine Selbst-Reflexion von Geschlecht und der eigenen Einbindung in Machtverhältnisse und wie lässt sich das Gefühl von Solidarität für gemeinsame Kämpfe
herstellen?
Dass das wichtig ist, liegt ja auf der Hand. „Das Private ist politisch“ lautete nicht zufällig ein wichtiges Motto der Frauenbewegung, Politik ist nicht nur die Analyse gesellschaftlicher
Zustände, sondern ein Wechselspiel zwischen dem eigenen Erleben und der Welt, den Anderen. „Von sich selbst ausgehen“ ist daher auch eine wichtige feministische Praxis, also das eigene Erleben
und die eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen und durch die Diskussion mit anderen daraus Schlüsse für das Allgemeine zu ziehen. Das bedeutet auch, zu sehen, dass die eigene Position sich nicht
verallgemeinern lässt, dass sie sich von der anderer Menschen unterscheidet, und dass es deshalb wichtig ist, anderen zuzuhören. „Von sich selbst ausgehen“ heißt eben auch, nicht bei sich selbst
stehen zu bleiben, sondern sich wirklich dafür zu interessieren, was andere leben, was andere erzählen, was andere sich schon gedacht und überlegt haben. Gerade bei vielen linken Männern vermisse
ich allerdings ein solches Interesse zum Beispiel an feministischen Analysen. Sie lesen leider nur selten Bücher von Frauen.
Der europäische politische und gesellschaftliche Rechtsruck und extrem rechte Positionen stärken den Anti-Feminismus. Der Widerstand gegen Vielfalt, Akzeptanz und Gleichberechtigung
scheint größer geworden zu sein. Was mögen deiner Meinung nach die Gründe hierfür sein?
Frauenfeindlichkeit und Antifeminismus sind in der Tat, neben Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, das einigende Band der Rechtspopulisten. Andererseits ist dadurch aber auch die Frauenbewegung
wieder stärker geworden und wenn man sich die großen Demonstrationen in USA, Spanien, Polen oder der Türkei anschaut, ist sie diejenige Plattform, auf der sich gesellschaftlicher Widerstand gegen
den Rechtsruck sammelt. Ich glaube, die neue Aggressivität gegen den Feminismus kommt schon auch daher, dass sich die Geschlechterverhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten durchaus stark
verändert haben. Wenn wir an die 1960er oder gar 1950er Jahre zurückdenken, dann ist es schon enorm, was Frauen erreicht haben, und wie weit wir mit der Vielfalt von Geschlechteridentitäten und
Lebensweisen gekommen sind. Viele dachten, die Emanzipation der Frauen sei etwas eher Nebensächliches, etwas, das nur die Frauen selber betrifft. Aber die Geschlechterverhältnisse strukturieren
eben unsere gesamte Kultur auf einer sehr tiefen Ebene und ist keine Kleinigkeit. Und ein so grundlegender Wandel gefällt eben nicht allen, das fordert alte Gewissheiten, Gewohnheiten und
Privilegien heraus. Ich glaube, das Unbehagen war immer da, aber mit den Rechtspopulisten hat es jetzt ein Sprachrohr gefunden und bricht sich Bahn. Jetzt haben wir den Konflikt und müssen ihn
austragen. Feminismus und Rechtsnationalismus sind zwei Alternativen zum neoliberalen Wirtschaftsegoismus, der die Welt in den vergangenen Jahrzehnten dominiert hat. Linke und bürgerliche Männer
müssen sich jetzt entscheiden verstehen, dass es bei diesen Kämpfen nicht um „Frauenkram“ geht, sondern ums Ganze.
Fußnoten:
1. https://antjeschrupp.com/2009/10/07/es-geht-um-eine-neue-praxis-des-philosophierens/ ↩
2. John Stuart Mill (1806–1873) war ein englischer Philosoph, Soziologe, Journalist, Politiker, Sozialreformer und Ökonom. Beeinflusst vom englischen Empirismus, von Bentham und Comte. Versuchte dem Positivismus ein festes psychologisches, logisches und erkenntnistheoretisches Fundament zu geben. ↩
3. Max Stirner ist das Pseudonym für Johann Caspar Schmidt. Seine wichtigsten Schriften entstanden in den 1840er-Jahren, bekannt ist vor allem sein Werk "Der Einzige und sein Eigentum". Stirner war kein Anarchist, gilt aber als einer der geistigen Ideengeber des "Individualanarchismus", der die Freiheit des/der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft betont. ↩
4. Der französische Ökonom und Soziologe Pierre-Joseph Proudhon eckte mit seinen anarchistischen Thesen bei vielen seiner Zeitgenossen an. Dabei stand er dem Kapitalismus nicht ablehnend gegenüber. Karl Marx befand über ihn nach einem Treffen: „Er ist der lebendige Widerspruch.“ Am 19. Januar 1865 starb Proudhon. ↩