Tierbefreiung #101
88 DIN-A-4-Seiten; €4,00.-
die tierbefreier e.V., Postfach 160132, 40564 Düsseldorf
https://tierbefreier.org/
Der Fokus in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung liegt darauf, die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die nichtmenschlichen Tieren angetan wird, zu beenden.
Mirjam Rebhan wurde für das Titelthema inspiriert durch die Bilder des Leipziger Künstlers Hartmut Kiewert, der in dieser Ausgaben einen Text und einige Bilder
beisteuert. Neben Hartmut schildern verschiedene redaktionelle MitarbeiterInnen ihre Utopien, erstrebenswerte und wünschenswerte Visionen in einer idealen Mensch-Tier-Beziehung. Wie sieht es aus
in einer befreiten Gesellschaft? Wie lassen sich Befreiung erreichen und Herrschaft überwinden? Und wie funktioniert eine Gesellschaft, welche auf Solidarität und Gemeinschaft basiert?
Für Daniel Lau müssten die angeblichen zivilisatorischen Errungenschaften aufgegeben werden, "um zu den Ursprüngen zurückzukehren". Um diese Theorie zu untermauern holt er weit aus und skizziert
die Entwicklung der Humangesellschaft , plädiert für einen bedingungslose Grundversorgung, eine rein vegane Lebensweise, eine bio-vegane Landwirtschaft, Abschaffung aller Nutz- und
Haustiere, Sterilisation aller Tiere, die menschliche Hilfe bedürfen, Rückbau/Umwandlung der Schlachthöfe, Lebenshöfe, Labore, Zoos; Regulierung der Zugänge zu den Städten, weitgehender Verzicht
auf motorisierte Fahrzeuge. Die Ziele sollen erreicht werden durch einen Stopp der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, eigenes Vorleben, Alternativen zum Kapitalismus.
Ulrike Schwerdtner entwirft eine Perspektive für ein gutes Leben für alle. In dieser brauchen "wir" Konzepte/Werkzeuge mit "einem Bewusstsein für Individuen, Gesellschaft und Natur,
Menschen und nichtmenschliche Tiere gleichermaßen, die auf Solidarität, Gegenseitigkeit, Komplementarität und Harmonie basieren". Um diese zu verwirklichen verweist Ulrike auf das konkrete
Konzept von Ralf Otterpohl, der in seinem Buch "Das neue Dorf-Vielfalt leben..." eine kreative Synthese der Vorteile von Stadt und Land, Alternativen zum anonymen Leben
in den Großstädten und der Entfremdung lohnabhängiger Arbeit aufzeigt. Auch Ulrike fordert als Grundvoraussetzung die Abschaffung des kapitalistischen Systems, welches geprägt ist von
Ausbeutungsmechanismen, Profitorientierung.
Raffaela Görings Utopie knüpft in etwa an Daniel Laus Vision an, besitzt jedoch einen radikaleren Ansatz. Sie plädiert für Euthanasie und wäre bereit, zum Wohl der Art Hund selbst auf
das "Vergnügen" zu verzichten, Haustiere zu halten. Für eine Welt ohne Nutz- und Haustiere wäre für sie vorstellbar, alle "Nutztiere" zu töten, die Züchtung der "Haustiere" einzustellen und sie
sich selbst zu überlassen, bis sie ausgestorben wären. Für Raffaela wäre eine Welt, wo Mensch und Tier gleichberechtigt zusammenleben, nicht möglich. Alle nichtmenschlichen Tiere würden
aussterben, bis auf die, die "ohne uns klarkommen".
Markus Kurth greift auf die Theorie von Sue Donaldson und Will Kymlicka zurück, die in ihrem Buch "Zoopolis" Tieren bestimmte
staatsbürgerliche Rechte verleihen. Das heißt konkret: volle Staatsbürgerschaft für domestizierte Tiere, Souveränität für Gemeinschaften von Wildtieren sowie Einwohnerstatus für jene, die zwar
nicht domestiziert sind, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu uns leben.
Josefine Paul und Sylvie Müller skizzieren einen Entwirf, in dem ein Zusammenleben von Tier und Mensch in der Stadt möglich ist und verweisen in der Umsetzung ihrer Ideen auf
das Forschungsprojekt "Animal-Aided Design: Bauen für Mensch und Tier" von Dr. Thomas E. Hauck und Prof. Wolfgang W. Weisser, in dem städtebauliche
Anforderungen und Bedürfnisse gedacht und entworfen werden.
Gesamteindruck:
In der vorgestellten Agenda für das künftige Zusammenleben mit nichtmenschlichen Lebewesen geht es um moralische, ethische, philosophische und politische Ansätze. Welche Verpflichtung haben Menschen Tieren gegenüber? Inwiefern hat der Mensch moralische Verpflichtungen gegenüber lebenden Organismen? Nicht-menschliche Lebewesen verdienen moralische Berücksichtigung höchstens vermittelt durch menschliche Interessen an diesen Lebewesen. Und diese sind in Gesellschaften zumeist geprägt von Ausbeutungs- und Tötungsmechanismen. Es geht nicht nur um Gleichheit für die Tiere, sondern um die Vorstellung, wie Fremdbestimmung aufhören kann und welche Voraussetzungen dafür notwendig sein werden (Raffaelas Utopie). In der utopischen Ordnung und Gesellschaft skizzieren die AutorInnen eine radikale Neubewertung unseres menschlichen Umgangs mit Tieren ein, in der nicht immer ein integratives Konzept erarbeitet wird, Nachhaltigkeitsziele zugunsten von einer naturbedingten "Survival of the fittest"-Methode abhängig gemacht werden. Das bedeutet, dass ein Was und Wie wiederum menschgemachtes Eingreifen und Regelnkriterien voraussetzt und die Erfüllung einer befreiten Gesellschaft sehr wohl von speziellen Mindestanforderungen abhängig ist. Welche Potenziale und Folgewirkungen haben diese für Mensch, Natur und nichtmenschliche Lebewesen? Auch hier werden verschiedene alternative Entwicklungspfade in Form von Handlungsoptionen oder Szenarien aufgezeigt und analysiert. Einige der formulierten Ziele könnten sofort umgesetzt werden und basieren bereits auf wissenschaftliche Ergebnisse, die an handlungsorientierte Ebenen anknüpfen ("Das neue Dorf..."). Die AutorInnen sind sich bewusst, dass manche Aussagen noch ausführlicherer Begründung und inhaltlicher Vertiefung, möglicherweise auch der Korrektur bedürfen, aber erst einmal werden von ihnen die eigenen Utopien für eine befreite Gesellschaft formuliert, die zum einen diskursiv und offen diskutiert werden können und sollten, zum anderen Anregung sind, selbst Utopien zukünftiger, als ideal und erstrebenswert empfundene Zustände zu formulieren.