Die Welt könnte ein Paradies sein - Mit Ideenreichtum und Engagement gegen die Lebensmittelverschwendung
Valentin Thurn ist ein kritischer Journalist und Filmemacher und hat 2011 mit dem Dokumentar-Film „Taste the Waste“1 gezeigt, warum die
Hälfte aller Lebensmittel im Müll landen und wer dafür verantwortlich ist. Der Film wurde 2011 auf der Berlinale prämiert und gewann u. a. den Umwelt-Medienpreis der Deutschen Umwelthilfe.
Im Jahr 2013 gründete er mit „Foodsharing“2 eine foodsharing-Online-Community, eine Initiative, die bereits über 4,5 Millionen Kilo
Lebensmittel gerettet hat.
2014 gründete er den Verein „Taste of Heimat“3, eine Plattform für Anbieter*innen und Verbraucher*innen sowie für Bildungs- und
Öffentlichkeitsarbeit zu Ernährungsthemen. Der Verein will u. a. „regionale Lebensmittel zugänglicher machen und in die Mitte der Gesellschaft bringen, insbesondere solche, die
ressourcenschonend produziert wurden(...)sowie eine tierfreundliche Landwirtschaft stärken und so die Wertschöpfungskette für Mensch, Tier & Natur in der Region fair und nachhaltig
mitgestalten.“ Ebenso will er über die Zusammenhänge zwischen unserem Konsumverhalten und den Problemen bei der Welternährung aufklären.
Ein weiteres Ziel von Taste of Heimat ist bereits erreicht. Am 7. März 2016 wurde der Ernährungsrat Köln4 und Umgebung gegründet. „Ein
Ernährungsrat ist ein beratendes Gremium, das eng mit der Kölner Stadtverwaltung zusammenarbeitet. In Ausschüssen zu verschiedenen stadtrelevanten Ernährungsthemen erarbeiten Experten und
engagierte Bürger Programme und Projekte, die jedem einzelnen Kölner eine gesunde und nachhaltige Ernährung ermöglichen sollen.“
2014 brachte er als Co-Autor das Buch „Harte Kost - Wie unser Essen produziert wird – Auf der Suche nach Lösungen für die Ernährung der Welt“5 heraus und 2015 kam seine erfolgreiche Dokumentation zur Welternährung „10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?“6 in die Kinos.
Valentin Thurn beweist durch seine Aktivitäten, dass es möglich und lohnenswert ist, sich für unseren Planeten einzusetzen.
Valentin, was hat dich dazu angeregt und motiviert, einen internationalen Dokumentarfilm über Lebensmittelverschwendung zu machen?
Valentin: Eine Reportage über „Mülltaucher“. Es war eine kleine Zeitungsmeldung, die mich sehr interessiert hat. Dabei ging es um eine Protesthaltung gegen die
Überflussgesellschaft. Das fand ich spannend, obwohl das mehr eine Sozialreportage war. Mit dem Blick auf eine mit Lebensmittel gefüllte Tonne wurden mir die Augen geöffnet. Aber ich hatte auch
das Gefühl von Zorn, als ich gesehen habe, was an noch verwertbaren Lebensmitteln weggeschmissen wird. Die Reportage lief auf einem Sonntagnachmittag im Fernsehe und ich denke, dass es keine
politische Klientel war, die diese Reportage gesehen hat, aber vielleicht auch die gleiche Reaktion hervorgerufen hat. Mir wurde schnell klar, dass dahinter ein großes Thema mit Potenzial steckt,
sowohl aus ökonomischer wie auch ökologischer Sicht. Aufgrund eigener Recherche war ich doch sehr überrascht, dass mir zu diesem Zeitpunkt keine Person, keine Universität, kein Amt zum Thema
Lebensmittelverschwendung Angaben machen und Auskünfte geben konnte.
Deine Aussagen stärken die Annahme, dass sich in der kapitalistischen Verwertungslogik und auf struktureller Ebene nichts ändern wird, demgegenüber sehr wohl ein gesellschaftliches
Interesse an Aufklärung und Weiterbildung zum Thema Lebensmittelrettung besteht.
Valentin: Wir unterschätzen die Menge der Lebensmittel, die wir in Privathaushalten wegwerfen, wollen das aber nicht wahrhaben und verdrängen das. Und was individuell passiert,
geschieht auch gesamtgesellschaftlich. Aber bei Unternehmen ist das eine ganz andere Sache. Die brauchen einen ökonomischen Rahmen. Für die Unternehmen lohnt es sich, Lebensmittel wegzuwerfen.
Wenn in einem Netz Orangen eine faul ist, wird das ganze Netz weggeworfen, weil die Arbeitszeit so teuer ist: Ein*e Mitarbeiter*in, die das Netz aufschneidet, die faule Orange herausholt, neu
etikettiert würde mehr kosten. Lebensmittelverschwendung ist in diesem Fall eine betriebswirtschaftliche Maßnahme. Aus volkswirtschaftlicher Sicht, aus Umwelt- und Klimaschutzgründen ist diese
Maßnahme eine Katastrophe. Solange die Preise unehrlich sind, die Rohstoffe zu billig, die Arbeitszeit künstlich verteuert wird, läuft das perfide System Lebensmittelverschwendung weiter. Und
diejenigen, die Umweltschäden verursachen, werden nicht verantwortlich gemacht, sondern die Allgemeinheit zahlt dafür den Preis.
Ging es dir nach dem von dir geschilderten Zorn in der Spurensuche nach Verantwortlichen, um die Schuldfrage zu klären?
Valentin: Mehr um das Verstehen, wer an der Lebensmittelverschwendung beteiligt ist. Ich bin mehr an einer Erkenntnistheorie interessiert. Das Gefühl, die Wut auf dem Handel
wich schnell die Erkenntnis, dass nicht nur der Handel allein schuld daran ist, sondern die ganze Produktionskette, in der wir Verbraucher*innen auch involviert sind. Sicherlich hat der Handel
eine zentrale Rolle, nicht nur zu verantworten, was in die Tonnen fliegt, sondern die Märkte schieben den Bauern vor, was für Standards sie wollen. Aber anders herum, machen sie das ja auch nur,
weil wir Verbraucher*innen mehr kaufen, wenn die Lebensmitte perfekt aussehen. Das zeigt die Komplexität des Themas, wo eine einfache Verordnung nicht möglich ist.
Es ist also nicht möglich, einzelne Akteure in die Pflicht zu nehmen?
Valentin: Wenn wir das innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems lösen wollen, dann wäre das doch logisch, dass wer die Umweltschäden zu verantworten hat, dafür auch
aufkommt. Lebensmittel, die weggeworfen werden und die Umwelt belasten, kosten das Unternehmen etwas. Mit der Konsequenz, dass Bio-Lebensmittel plötzlich genauso günstig oder anders herum,
konventionelle Lebensmittel genauso teuer wie Bio-Lebensmittel sein werden.
Bio-Lebensmittel werden im Handel bislang nicht reduziert, auch nicht nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums.
Valentin: Dem Handel geht es in der Preisgestaltung primär um Gewinnmaximierung. Das Haltbarkeitsdatum selbst hat nichts mit der Haltbarkeit des Lebensmittels zu tun. So sind
auf der gleichen Charge Joghurtbecher unterschiedliche Daten drauf. Abhängig vom Zeitpunkt des Regalbefüllens schreibt der Supermarkt unterschiedliche Daten auf Produkten vor, damit es für die
Kund*innen nicht so aussieht, als handle es sich bei den Produkten nach dem Wiederauffüllen im Regal um alte Ware, sondern um neue. Natürlich hat der Handel nach hinten raus eine Begrenzung,
d. h. die Daten sind auf viele Wochen kürzer, als die Produkte eigentlich haltbar wären. Das ist bewusstes Kalkül und Marketingprinzip des Handels.
Es gibt Länder wie Russland, in denen steht auf den Produkten das Produktionsdatum. Das verlangt dem/der Konsument*n allerdings Fantasie ab, wie lange könne das Produkt halten. Aber vor allem ist
der/die Verbraucher*in in der Lage und Verantwortung, das selbst abzuwägen. Und im Prinzip muss man nur unterscheiden und das macht unser Gesetz ja, zwischen Produkten, die gesundheitsgefährdend
sind oder nicht. Es gibt sogar unterschiedliche Daten: „mindestens haltbar bis...“ bedeutet keine Gesundheitsgefahr; „zu verbrauchen bis...“ bedeutet, dass das betreffende Produkt nach Ablauf des
angegebenen Datums nicht mehr verkauft werden darf, nicht mehr gegessen werden sollte, weil eine Gesundheitsgefährdung dann nicht mehr auszuschließen ist. Nur, der/die Verbraucher*innen
verwechseln das oft, die Beschriftungen sehen aber auch zum Verwechseln ähnlich aus.
Das Einfachste in dieser Hinsicht wäre, für eine klare, einfache Unterscheidbarkeit zu sorgen. Das wird aber nicht gemacht, denn, wenn wir weniger wegwerfen, dann verkauft der Handel weniger. Die
Lobby hat das verhindert.
Info:
In Deutschland ist seit mehr als 30 Jahren das Mindesthaltbarkeitsdatum gesetzlich vorgeschrieben. Es gibt an, bis zu welchem Datum mindestens das ungeöffnete und richtig gelagerte Lebensmittel seine spezifischen Eigenschaften wie Geschmack, Geruch, Farbe, Konsistenz und Nährwert behält. Es ist also kein Verfallsdatum, sondern lediglich die Garantie des Herstellers für bestimmte Qualitätseigenschaften. Für dauerhaft haltbare Mittel wie Zucker und Salz muss schon heute nur noch das Herstellungsdatum auf die Verpackung gedruckt werden.
Wo wir wieder beim Kernfrage angelangt sind. Die Hälfte dessen, was an Lebensmitteln produziert wird, wird ungenutzt weggeworfen, obwohl es noch genießbar wäre. Warum ist das
so?
Valentin: Es sind eine Reihe von Gründen, weil Verschwendung entlang der Wertschöpfungskette passiert. Wir haben, als der Film 2011 in die Kinos kam, viele Reaktionen
ausgelöst. Die damalige „Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz“, Ilse Aigner, trat vor die Presse und sagte sinngemäß, „wir wissen ja gar nicht, was in Deutschland
alles an Lebensmittel weggeworfen wird. Das müssen wir erst einmal ermitteln, wir machen eine Studie.“ Das klang toll und hat mich zunächst sehr gefreut. In Wirklichkeit aber konnte ich hinter
die Kulissen blicken und die wahren Absichten kennenlernen. Ich saß in dem Parlamentsausschuss als „Experte“ neben Wissenschaftlern und Lobbyisten aus Handel und der Industrie und war erstaunt,
dass die Studie bereits fertig war, dass das Ministerium aber Monate brauchte, um die Pressemitteilung dafür zu schreiben. Ich fragte mich natürlich, ‚was ist da los, wie geht das‘. Wenn man sich
die Studie dann anschaut, mit dem Ergebnis, dass zu 61 % der Verbraucher schuld an der Lebensmittelverschwendung sein soll, weiß man, aus welcher Ecke das Ergebnis kommt. Kein Journalist hat
sich die Mühe gemacht, die Studie genau zu hinterfragen, sondern hat die Ergebnisse so in der Berichterstattung übernommen, ganz im Sinne der Lobbyisten. Die Studie hat mit Absicht den
Landwirtschaftsbereich ausgeklammert, die aber auch in der Verantwortung steht7. Dadurch ist die Studie hinfällig geworden und war ein
abgesprochenes Spiel. In diesem Ausschuss haben die Märkte, die Lebensmittel -und Ernährungsindustrie unisono darauf verwiesen, dass die Studie eindeutig den Verbraucher als Schuldigen ausweist.
Das Ministerium hat im Anschluss mit einer Maßnahme zur Lebensmittelrettung öffentlichkeitswirksam die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ entworfen8.
Auch die Studien aus anderen EU-Ländern geben Zahlen aus, dass die Anteile der Verschwendung beim Verbraucher bei 40 %, maximal 45 % liegen, weil diese Studien eben die ganze Wertschöpfungskette
berücksichtigen. Und dann kann man das auch ganz anders herum formulieren: Die meisten Lebensmittel werden weggeworfen, bevor diese uns Verbraucher erreicht.
Die Erwartungen der KonsumentInnen führen uns zu einem anderen wesentlichen Grund für Lebensmittelverschwendung: die perfektionistischen Ansprüche der VerbraucherInnen haben dazu geführt,
dass es für jedes Produkt ein Ideal und für das Ideal häufig sogar Richtlinien und Verordnungen gibt, wie etwa die Krümmung der Gurke, die Farbe von Tomaten und den Durchmesser von Äpfeln. Was
macht es so schwer, sich von diesem Idealbild zu verabschieden?
Valentin: Wir wissen gar nicht mehr, was gut oder was schlecht ist. Kaum eine*r wächst in der Landwirtschaft auf und hat täglich damit zu tun, andere müssen sich das Wissen
mühsam erwerben. Wer unsicher ist, vertraut auf dem, was er/sie kennt: das Mindesthaltbarkeitsdatum, aber auch an das perfekte Aussehen von Obst/Gemüse. Betriebsstudien haben bspw. ergeben, dass
die Leute mehr kaufen, wenn die Regale voll befüllt sind. Wenn die Regale leerer sind, ist der Reiz weg, zuzugreifen. Das Konsum- und Kaufverhalten ist also abhängig von einem idealisierten
Schönheitsbild der Lebensmittel, aber auch vom psychologischen Effekt. Hierzu gibt es viele Artikel und Studien über die Verkaufspsychologie im Supermarkt und wie Kund*innen in ihrem
Konsumverhalten manipuliert werden. Wenn der/die Kund*in den Lieblingsjogurt abends nicht mehr im Regal findet, geht er/sie enttäuscht zur Konkurrenz. Also werden die Regale bis Ladenschluss mit
deinem Lieblingsjogurt bestückt. Das ist marktstrategisches Kalkül.
Wir als KonsumentInnen werden unfreiwillig „Motor“ dieses verschwenderischen Systems. Welche Voraussetzungen auf der moralischen, politischen und strukturellen Ebene wären notwendig,
Lebensmittelverschwendung zu reduzieren/vermeiden?
Valentin: In dem Moment, wo wir ein Bewusstsein und eine Wertschätzung zu unseren Lebensmitteln entwickeln, schmeißen wir nicht mehr so viel weg. Zum Beispiel, weil wir den
Bauern kennen, der Kartoffeln anbaut, erntet, wir direkt dort, also beim Erzeuger, die Kartoffeln im Hofladen einkaufen. Das schafft ein Vertrauensverhältnis. Ein anderer Aspekt ist der
Selbstanbau von Obst/Gemüse/Kräutern etc. Ob in der Stadt auf dem Balkon, in Gemeinschaftsgärten (Urban Gardening und Essbares Stadtviertel) oder auf dem Land. Der begleitende, mitgestaltete
Prozess von Aussaat/Bepflanzung, Wachstum, Pflege und Ernte, bewirkt einen bewussten Umgang und bereichert auch die Sinne: wie riecht etwas, wie schmeckt etwas. Dazu gehört auch ein gutes
Selbstmanagement und Planung: was ist noch da im Kühlschrank, was können wir verwerten? Das sind gute Ansätze, um etwas in Bewegung zu setzen.
Apropos bewegen. Du hast ja nach dem Dokumentarfilm zusammen mit Stefan Kreutzberger „Die Essensvernichter“ auch klargestellt, dass „unser Konsum politisch ist“. Was war für dich
persönlich ausschlaggebend, eine Onlineplattform zu initiieren, um Lebensmittel zu teilen und zu verschenken?
Valentin: Früher war das auf dem Land üblich: Wenn du was übrig hast, dann wurde getauscht und geteilt. Manchmal hast du mehr Äpfel auf deinem Apfelbaum, als du selbst
benötigst, verschenkst dann Äpfel und bekommst dafür im Gegenzug vielleicht einen Apfelkuchen zurück. Bei uns zu Hause war es auch so: der Apfelbaum war übervoll, vieles lässt sich nicht lagern.
Die Nachbarn haben schon abgewunken und meine Kinder konnten auch kein Apfelmus mehr sehen. Durch die Gründung der Plattform „Foodsharing“9 habe ich gemerkt, dass das Prinzip „Wer gibt, dem wird gegeben“ sehr gut funktioniert. Aber das ist keine Bedingung. Die ursprüngliche Idee war, dass du Lebensmittel von
privat an privat weitergeben kannst.
Als „Taste the Waste“ in den Kinos lief, kamen bspw. E-Mail-Anfragen von Bäckern, die nach Ladenschluss Brot und Brötchen übrig hatten und fragten, ob ich eine Idee hätte, wie diese weiter zu
verteilen werden könnten. Die Idee dahinter ist also auch ein persönlicher Beweggrund, den viele so auch kennen werden: der Kühlschrank ist voll Lebensmittel und morgen geht es für längere Zeit
in Urlaub. Wohin mit den Sachen? Oder: nach der Party sind zu viel eingekaufte Getränke übrig...es gibt zig Gelegenheiten, wo du vor der Frage stehst: wegschmeißen oder verschenken?
Erst mit Raphael Fellmer10 und den Lebensmittel-Rettern aus Berlin kam die Idee auf, ein System zu integrieren, das es Händlern
ermöglicht, online Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, die umsonst bei ihnen abgeholt werden können. Die Plattform ist eine Community mit rund 40.000 Foodsavern bundesweit. In der Hauptsache
geht es verstärkt um Abholung/Verteilung von Lebensmittel aus dem Supermarkt, als die Verteilung privater Essenskörbe.
Valentin, im April 2019 bist du u.a. in Bremen eingeladen, um über den Ernährungsrat zu referieren. Was hat es damit auf sich?
Valentin: Der Ernährungsrat11 für Köln und Umgebung wurde im März 2016 gegründet und ist ein Projekt des
gemeinnützigen Vereins „Taste of Heimat“. Die ursprüngliche Idee war eine Plattform für Regionalvermarktung zu entwickeln. Bei der Arbeit daran ist zum einen die fehlende Vernetzung der Akteure
aufgefallen. Bürger*innen sind längst nicht mehr nur Konsument*innen, sondern über Gemeinschaftsgärten, als Essensretter*innen, Tafelunterstützer*innen oder Slow-Food-Aktivist*innen wichtige
Akteure im Ernährungssystem. Diese Akteure sind gleichberechtigte Partner*innen zwischen den vielfältigen Mitgliedern eines Ernährungsrats. Im Ernährungsrat kooperieren Akteure von
Landwirtschaft, Gastronomie bis Entsorgung. So sammelt sich im Ernährungsrat das Wissen der unterschiedlichsten Bereiche des Ernährungssystems. Da gibt es für alle Seiten etwas dazu zu lernen!
Ein Ernährungsrat sucht nach Lösungen für Probleme, identifiziert Chancen und entwickelt eine Vision für das lokale Ernährungssystem. Ich bin also auch als Botschafter unterwegs, als möglicher
Impulsgeber. Die Idee stammt aber nicht von uns, sondern kam aus den USA und nennt sich „Food Policy Councils“, eine seit fast 20 Jahren relativ erfolgreiche Kampagne, weil dort das Thema
„Ernährungssystem“ zentralisierter ist und ein Zusammenschluss verschiedener Akteure hierauf Einfluss nehmen kann: Förderung von urbaner Landwirtschaft, die Einrichtung und Förderung von
Gemeinschaftsküchen, die Förderung regionaler Ernährungssysteme, die Bekämpfung sozialer Benachteiligung im Ernährungsbereich, die Optimierung der Gemeinschaftsverpflegung und die Veranstaltung
von Konferenzen und anderen Events.
Die ganzen Beispiele lösungsorientierte Praxisansätze müssen dich doch mit Blick auf die Zukunft optimistisch stimmen?
Valentin: Nun, es sind tatsächlich viele Sachen praxisorientiert, wobei ich denke, dass die Zivilgesellschaft Lebensmittelrettung alleine nicht regeln kann. Insofern ist eine
Beteiligung aller Akteure notwendig: vom Erzeuger über den Konsumenten bis in die Politik. Wichtig ist mir, nicht nur zu kritisieren, sondern handlungsorientierte Maßnahmen zu ergreifen, ein
Netzwerk zu schaffen, Wissen über Lebensmittel und Lebensmittelverschwendung zu vermitteln und das Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu fördern. Einen diskursiven, kontroversen Austausch
zwischen Zivilgesellschaft und Politik anzuregen, ein Bewusstsein für das Thema Lebensmittelverschwendung/-rettung zu bekommen, das eigene Konsumverhalten zu überdenken, die Verschwendung der
kostbaren Ressourcen auf der Erde zu verringern und vielleicht dahingehend hinzuwirken, noch mehr Gelegenheit und Motivation zu bekommen, sich für die Gesellschaft zu engagieren und weiter
hungrig nach innovativen Ideen zu sein.
Fußnoten:
1. http://www.tastethewaste.com/ ↩
3. https://ueberall-und-sowieso.de/sowieso/taste-of-heimat/ ↩
4. http://www.ernaehrungsrat-koeln.de/ ↩
6. http://www.10milliarden-derfilm.de/ ↩
7. Die Studie des Instituts für Siedlungswasserbau, Wassergüte und Abfallwirtschaft (ISWA) der Universität Stuttgart wurde 2011 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) in Auftrag gegeben und im März 2012 veröffentlicht wurde. Demnach werden in Deutschland jährlich 11 Mio. Tonnen Lebensmittelabfälle erzeugt. Den größten Anteil der Lebensmittelabfälle verursachen mit 60 % die privaten Haushalte. 17 % der Lebensmittelabfälle entstehen in der Lebensmittelindustrie, 5 % im Handel und 17 % der Lebensmittelabfälle bei den Großverbrauchern (Kantinen und Gastronomie). Der Bereich der landwirtschaftlichen Produktion wurde bei den Untersuchungen nicht berücksichtigt. In der Studie des WWF aus dem Jahr 2015 wurde die Landwirtschaft mit einbezogen. Hier wird das Aufkommen an Lebensmittelabfällen entlang der gesamten Wertschöpfungsstufe auf 18 Mio. Tonnen beziffert. Davon erzeugen die Endverbraucher etwa 39 % der Lebensmittelabfälle. Die Lebensmittelverluste der Großverbraucher werden mit 19 % beziffert, während Verteilungsverluste im Groß- und Einzelhandel als auch Prozess- bzw. Ernteverluste bei der Lebensmittelverarbeitung und in der Landwirtschaft bei jeweils 14 % liegen. Die Verschwendung von Lebensmitteln ist ein ökologisches, ökonomisches und ethisches Problem. Entlang der Wertschöpfungskette von Lebensmitteln, die von der landwirtschaftlichen Produktion über die Herstellung und Verarbeitung bis zum Verbraucher reicht, werden natürliche Ressourcen beansprucht und in hohem Maße verbraucht. Daraus ergeben sich negative Auswirkungen auf die Umwelt, z. B. Wasser- und Flächenverbrauch, sowie eine unnötige Belastung des Klimas, vor allem durch den Ausstoß von Kohlendioxid (CO 2 ). Die Umweltauswirkungen sind bei der Produktion verschiedener Lebensmittel unterschiedlich hoch. Sie fallen aber auch für Lebensmittel an, die später als Abfall entsorgt werden. Ökonomisch gesehen entsorgt jeder Bürger Lebensmittel im Wert von 235 Euro im Jahr. ↩
8. Im Frühjahr 2012 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ins Leben gerufen, bündelt die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ (https://www.zugutfuerdietonne.de/) eine Vielfalt unterschiedlicher Maßnahmen mit dem Ziel, das Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise für die Wertschätzung von Lebensmitteln zu schärfen und zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen beizutragen. ↩
9. Die Idee hinter Foodsharing: https://youtu.be/IUVi2-pCMi4 ↩
10. Raphael Fellmer gehörte 2012 zu den Mitgründern von Foodsharing und hat sich mit dem Ingenieur Martin Schott sowie dem Unternehmer Alexander Piutti zusammengetan und SirPlus gegründet. SIRPLUS ist ein deutschlandweit agierendes Social Impact StartUp, welches sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt und überschüssige Lebensmittel durch den Verkauf in den eigenen Rettermärkten als auch dem Onlineshop zurück in den Kreislauf bringt. https://sirplus.de/ ↩