OX #147
148 DIN-A-4-Seiten; € 5,90.- + CD
OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664 Solingen
www.ox-fanzine.de
Kalle Stille skizziert Konzertgänger*innen und kategorisiert diese nach Kräfte/Fähigkeiten, wer sind ihre natürlichen Feinde und wie hoch ist der Nervfaktor. Angelehnt an das klassische Quartett
ist auch die mittlerweile sechste Runde eine bissige soziologische Milieustudie und die aufkeimende Frage: Wozu gehörst du?
Joachim beweist Stil und trug Docs, bekommt aber Krätze, wenn er heutzutage offen statt geschnürte Docs zu Gesicht bekommt. Stillosigkeit beweist auch Tom van Laak, der aus dem Tagebuch berichtet
und wie gewohnt psychotische und neurotische Alltagsnotizen wie in einer Therapiesitzung offenlegt. TURBOSTAAT sinnieren über musikalische Entwicklung und Punk, ROGERS suchen neue Vibes und THE
OFFENDERS sind von der sozialen Richtung abgewichen und mehr in die politische Richtung gegangen.
Max Kirstein schreibt einen Artikel über die BDS-Kampagne ("Boycott, Divestment and Sanctions") und diskreditiert diese als anti-semitisch. Die Art und Weise seiner Argumentation folgt einer
anti-deutschen Logik, die er mit einigen Beispielen verstärkt. Nun ist BDS keine homogene Bewegung und vereint als transnationales Phänomen Personen, die aus unterschiedlichen Gründen glauben,
die Isolierung des Staates Israel sei ein legitimes Mittel des politischen Engagements. Die Kampagne ist nicht per se anti-antisemtisch, es gibt aber ausgerufene Ziele, die darauf abzielen,
Israel als Apartheidsregime und Jüd*innen rassistisch zu brandmarken. Ein weiterer kontroverser Artikel thematisiert Punk und Doppelmoral. Roman Eisner benennt Fallbeispiele und ordnet diese nach
Kategorien. Wer sich die Mühe macht, die Historie von Punk zu erfassen, wird feststellen, dass Punk von der Geburtsstunde an immer widersprüchlich, provokativ war. Ob NS-Symbole/-Ästhetik,
Sexismus, Gewalt und pazifistisch...Das Phänomen ist nicht neu, sondern immer schon ein Teil in der Populärkultur. Provokation fungiert als Mittel der Selbstvergewisserung, der Aufklärung, der
Aufmerksamkeitsakquise und ist als solche unverzichtbar und auch gefährlich. Provokation kann eine starke Orientierung geben und kanalisiert den jugendtypischen Handlungsdrang in eine Richtung:
Missionieren und ideologisch aufheizen. Welche Motive finden sich im Punk als Ausdruck von Doppelmoral und wo ist Toleranz angebracht und wo nicht...und wer darf das überhaupt entscheiden? Fakt
ist, dass innerhalb einer Gruppennorm Verhaltensregeln aufgestellt werden, dass Gruppen untereinander konkurrieren und andere sanktionieren, ausschließen, diskriminieren. Biografische Prozesse
beeinflussen die Wertigkeit. Koma-Trinken vs. Straight Edge, Sexismus vs Feminismus. Im Punk und HC sind Diversität, Dogmatismus ebenso impliziert wie die Funktion einer Parallelgesellschaft, die
sich jegliche Einflussnahme von Außen verbietet. Und gerade hier liegt das journalistische und kreative Potenzial, die Vielheit und Vielfalt herauszuarbeiten, die Widersprüche und die
(Selbst)Lügen aufzudecken.
Gesamteindruck:
OX bewegt sich. Politische Artikel, die laut Joachim nicht den "Anspruch von Deutungshoheit besitzen", aber als "Denkanstöße" taugen. Das ist ein löblicher Ansatz, der die standardisierten Inhalte in einen Prozess gibt, um diese zu optimieren und erweitern. Denn sich immer nur auf aktuelle musikalische Settings zu konzentrieren, läuft Gefahr, sich in Beliebigkeit und Oberflächlichkeit zu verlieren. Zum Glück gibt es auch dieses Mal lebensweltliche Erfahrungen und Biografisches (Dieter Meier/YELLO, FLIPPER, THE RESIDENTS, ÄNI(X)VÄX), die den Informationswert steigern und belegen, dass Punk mehr als nur ein Produkt ist, sondern ein subjektives Glaubensbekenntnis.