Krawalle, Riots und Gewalt. In den bis dato schwersten Auseinandersetzungen der bundesdeutschen Nachtkriegsgeschichte, brachte 1995 eine subkulturelle Strömung mit den sogenannten Chaos-Tagen die Ordnungsvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft ins Wanken.
Die Chaostage waren keine Revolution, dennoch brechen sie mit einer monotonen und deterministischen Geschichtsschreibung, um selbst Geschichte zu ‚machen‘. Sie markieren einen Aufruhr, der mithilfe medialer Inszenierungen über die Ereignisse auf der Straße hinausreichte und zum (Medien)Spektakel wurde. Die Ausschreitungen fanden auf der Straße und in der Öffentlichkeit sowie in öffentlichen Diskussionen statt, wobei sich ein Kommentator in der Tagesschau gar dazu hinreißen ließ, Punks das Recht auf blaue Haare abzusprechen, um Gewalt zu verhindern 1.
Ein Vorläufer der Hannoverschen Chaostage fand 1982 an mehreren Samstagen in Wuppertal statt, nachdem die dortige Stadtverwaltung versucht hatte, den dort lebenden Punks zu verbieten, sich in
Gruppen um einen zentralen Brunnen in der Innenstadt zu versammeln. Dieser Versuch bewirkte jedoch, dass sich fortan nicht nur Wuppertaler, sondern auch Punks aus anderen Orten in Wuppertal
trafen. Diese Treffen wurden „Wuppertaler Punk-Treffs“ genannt.
Als ‚erster Chaostag‘ in Hannover kann bereits der 18. Dezember 1982 gelten. Ein seltenes Tondokument belegt, dass Jello Biafra während des legendären Auftritts der Dead
Kennedys zwei Tage zuvor am 16. Dezember 1982 im Kursaal in Bad Honnef ausdrücklich zu „Chaostagen“ aufrief und sich dabei ebenfalls auf die geplante Punkerkartei bezog.
„Wir wollten ein riesiges Punk-Treffen veranstalten, zu dem auch alle »Pseudo-, Mode-, Karnevals-, Pattex- und Disco-Punks« eingeladen waren, auf dass der Polizei-Computer vor lauter ätzender
Punk-Daten explodiere. In den folgenden Wochen ließen wir Unmengen von Flugblättern und Plakaten auf die Menschheit los, auf denen wie im Countdown den »Untergang Hannovers« beschworen wurde.
Enorm half uns die DEAD-KENNEDYS-Tour, die gerade stattfand. Es gelang uns, irgendwie über die Reihen breitschultriger Ordner-Arschlöcher Kontakt mit dem DK-Schlagzeuger aufzunehmen, und kurze
Zeit später war die ganze Band über die Sache informiert. Kurzerhand wurde der Song »Nazi-Punks – Fuck Off!« zu «Chaos Day – Chaos Day« umgetauft, und Wolle wurde auf die Bühne geholt, um die
Werbetrommel für unser Treffen zu rühren. Wolle fuhr dann auch den Rest der Tour mit, um auch in anderen Städten zum CHAOS-TAG einzuladen...2“
„Saufen, kaputtmachen, sich mit den Bullen anlegen“ (Tobias Scheiße, HAMMERHEAD)
Die Chaostage der Neunziger zeichneten sich durch teilweise heftige Auseinandersetzungen der Punks und einheimischer Jugendlicher mit der Polizei aus. So kam es bei den Chaostagen vom 4. bis 6.
August 1995 in der Nordstadt von Hannover es zu Straßenschlachten mit bis zu 3.000 Polizisten und Bundesgrenzschutzbeamten, dabei wurden 179 Polizisten und Chaostage-Besucher*innen verletzt.
Gegen 220 Chaostage-Besucher*innen wurde später Anklage wegen verschiedener Delikte erhoben. Vor allem die Plünderung eines Penny-Supermarktes in der Nordstadt sorgte für Chaos im Straßenverkehr
und Aufruhr bei der Bevölkerung und den Medien, die von bürgerkriegsähnlichen Zuständen sprachen. Am 5. August verlagerte sich das Geschehen in den Stadtteil Hannover-Linden, wo zeitgleich das
Fährmannsfest Hannover, ein alternatives Open-Air-Festival, stattfand. Vielen Punks wurde zuvor in der Innenstadt von der Polizei gesagt, dort fände ein Punktreffen statt. Nachdem am frühen Abend
ein Bierstand mit den Worten „Freibier für alle!“ überfallen wurde, wurde das Fährmannsfest von der Polizei gestürmt.
Da nach Ansicht von Punks die bürgerkriegsähnlichen Zustände zumeist schon im Vorfeld durch die Presse herbeigeredet wurden, kam das Motto auf: „Die Presse befiehlt, wir folgen.“ Die Polizei
setzte bei den Chaostagen nach eigenen Angaben auf eine Deeskalationsstrategie, die aber das Gegenteil bewirkte, sodass sich der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard
Schröder und sein Innenminister Gerhard Glogowski bundesweit Kritik für ihre Strategie gefallen lassen mussten.
Cash from Chaos
Neben dem Film „Kampf der Welten“ gab es weitere mediale Verwertungen. Im Jahr 2007 wurde der Episodenfilm Chaostage von Regisseur Tarek Ehlail gedreht, der 2008 in den Kinos kam. Punks, die auch an den echten Chaostagen beteiligt waren, wirken mit. Die Geschichte an sich bezieht sich jedoch nicht auf die realen Ereignisse, sondern versucht mit einer absurden Verknüpfung von Zufällen die Entstehung des Phänomens auf ironische und satirische Weise zu „erklären“. Wirkte „Kampf der Welten“ noch je nach persönlicher Präferenz entweder bedrohlich, euphorisierend, aber aufgrund der TV-Schnipsel authentisch, ist „Chaostage – we are Punks“ eine Trash-Klamotte mit einer hanebüchenen Klischee-Story und den Interview-Einspielern von Punk-Veteranen, die aus dem Nähkästchen plauderten, bestenfalls Teenager-Unterhaltung und verklärte Revolutions-Romantik. Darüber hinaus haben es die Chaostage noch ins Theater geschafft. Ausgerechnet am Staatstheater in Hannover erlebten die Chaostage eine Neuauflage. Mit dem treffenden Titel, „Chaostage – der Ausverkauf geht weiter“, sind die Chaostage ins Theater eingezogen und damit auch kulturell eingefriedet.
Die Rolle der Medien
Als die Chaos-Tage noch (fast) außerhalb Internet organisiert wurden und die Medienwelt überschaubar war, mussten die Organisatoren nur die richtigen Knöpfe in ein paar Redaktionen drücken. Diese
drückte punk durch „Informationsvergiftung“, wie Mitinitiator Karl Nagel es nannte: Das Punktreffen wurde von vornherein durch die Organisatoren selbst zur Bedrohung biblischen Ausmaßes
stilisiert, was von den Medien gern aufgegriffen wurde. Legendär wurde die Mitteilung diverser Tageszeitungen, dass die Punks die Stadt (Hannover) in 'Schutt und Asche' legen woll(t)en, obwohl es
solche Ankündigung nie gegeben hatte. Die Informationen waren teilweise so offensichtlich überspitzt, dass mensch den satirischen Inhalt, der in einem Flugblatt sogar als „Fälschung“
3 erklärt wurde, auf den ersten Blick erkennen musste, was eifrige Journalist*innen aber nicht davon abhielt, den Flyer für bare Münze
zu nehmen. Solche Meldungen waren der Nährboden und die ultimative Werbung für die Chaos-Tage. Ein derartiges Mobilisierungspotenzial hätte die Punkszene selber mit Flugblättern und
Mundpropaganda nicht leisten können.
Dass die Chaos-Tage ab 1994 im Internet mit Angabe von Termin und Ort angekündigt wurden, ist ein Aspekt, der sie medienkompatibel machte. Die Logistik der Berichterstattung konnte
rechtzeitig in Bewegung gesetzt werden. Dies gelang 1995 noch besser als 1994, weil mensch ja wusste (oder zumindest: zu wissen glaubte), was einen erwarten würde. Die Presse hatte über die
Chaos-Tage 1995 unter dem Aspekt der Gewaltanwendung berichtet. Vor allem die (Sach-)Beschädigungen im öffentlichen Raum wurden bei den Chaostagen von Punks und Medien in Szene gesetzt, um den
Aufruhr als »selbstversicherndes Spektakel« nutzbar zu machen und eine öffentliche Ablehnung hervorzurufen.
In der medialen Berichterstattung zu den Chaos-Tagen 1995 wiederholten sich ständig austauschbare Bilder von brennenden Barrikaden, zerschlagenen Scheiben und Straßenschlachten mit der Polizei.
Augenzeugen wurden zitiert und es wurde von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ gesprochen, von „Feinde[n] der Zivilisation“, von einer „Gewaltorgie“.
Was auf der Straße passierte, konnte und durfte nur im Einklang mit dem gesellschaftlichen Werte- und Norm-Selbstverständnis verstanden werden. Das hieß für die Chaostage, dass sie in der
Öffentlichkeit als stupide, ziellose Unruhe definiert wurden, deren Protagonist*innen als reaktant psycho-pathologisiert wurden. Die subversive Strategie der Punks bestand darin, diese
bürgerlichen Wertvorstellungen zu (zer-)stören. Für 1995 lassen sich deshalb viele Darstellungen von Auseinandersetzungen vor dem »Sprengel«-Gelände und dem Bahnhofsvorplatz finden, weil hier das
Konfliktpotenzial als eine Konstanz der „sensationshaschenden“ Ereignisse vorlag. So suggerierten die medialen Bilder bürgerkriegsähnliche Zustände, wie im Film „Kampf der Welten“ zu sehen. Eine
mediale Inszenierung, die den Begriff »Chaostage« propagandistisch nicht besser verwertet und verbreitet hätte können.
Sicher, heute gibt es mit sogenannten „Fake-News“ immer wieder eine „Informationsvergiftung“ möglich. Aber abgesehen von der Sensationsgeilheit getriebenen Yellow Press in den 80er Jahren, sind heutzutage Schlagzeilen immer nur solange interessant, bis sie von einer anderen Schlagzeile abgelöst werden. Und das beinahe im Minutentakt. Inhalte zählen da weniger. Und der Wahrheitsgehalt leider immer noch nicht unbedingt. #Chaostage? Okay, abgehakt! Die Quoten klassischer Nachrichtensendungen sind rückläufig, die Auflagen der Zeitungen schwinden, die Werbeeinnahmen gehen seit Jahren zurück. Junge Leute nutzen heutzutage vor allen Dingen soziale Netzwerke und erklären uns via Youtube die Welt. Trotzdem gibt es Sit-ins, Flashmobs und soziale Bewegungen wie (immer noch) aktuell Fridays for Future, bei denen viele Menschen auf die Straße gehen.
Chaostage als Relikt
Könnten Aufrufe zu Chaostagen also auch heute noch viele Menschen auf die Straße mobilisieren? Statt Barrikaden zu bauen, kocht mensch lieber veganes Essen am Wochenende mit der KüFa. Punk bleibt
lieber unter sich, in der Szenekneipe, auf dem Bauwagenplatz oder im selbstverwalteten Zentrum. Immerhin findet auch 2020 ein Punx-Picnic 4 statt. Im AJZ Broda in Neubrandenburg gibt es draußen und drinnen Musik, Vorträge und Saufspiele. Chaos gab es 2017 auch. Weil eine Jugendgruppe von etwa 25 Leuten auf das
Gelände wollte, aber durch den Einlassdienst und BesucherInnen des Konzerts nicht eingelassen wurde, kam es den rivalisierenden Gruppen zu einer Schlägerei 5. Und was sagt Karl Nagel dazu? „Eigentlich ist es egal“ meint er. „Dinge, für die kein Bedarf besteht, sterben eben aus.“ Chaostage sind demnach eine aussterbende Kultur,
die von Punk-Dinos am Leben erhalten wurde und mit ihrem Desinteresse an einer Fortführung auch ins künstliche Koma gehalten werden.
Des Weiteren sind Chaos-Tage offenbar ein Relikt der Vergangenheit, vor allem eine Reminiszenz für ältere Punk-Generationen und dienen heute allerhöchstens für eine kulturelle Vorführung einer
angepassten Generation von Punks, denen ein jugendlicher Innovationsschub zu fehlen scheint. Dazu hat sicher beigetragen, dass bislang jede neue Jugendkultur irgendwann vom Kommerz vereinnahmt
wurde und im Mainstream strandete. Vielleicht aber haben sich ja auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert, dass Jugendkulturen zunehmend obsolet werden? Punk ist inzwischen zu
einer unspektakulären Erscheinung geworden. In der Folge führt diese Erkenntnis zu einer zunehmenden Beliebigkeit und Belanglosigkeit. Jugendkulturen wie Punk haben eine westliche Gesellschaft
wie die der Bundesrepublik immer wieder herausgefordert und dadurch letztlich – wider Willen – toleranter und somit auch zu einer beunruhigenden Normalisierung gemacht.
Fußnoten:
1. Quelle: Kampf der Welten – Chaostage 1995. Die Mediencollage, die als restaurierte DVD-Fassung 2006 und durch Streaming größere Verbreitung fand verknüpft Fotos, Dokumentar- und Spielfilmszenen, Nachrichtensendungen und Statements verschiedener Akteur*innen. Der Film entfaltet seine Wirkung aus der De- und Rekontextualisierung der Berichterstattung und zielt so auf bürgerliche Hysterie und Kriegsangst. Der Filmtitel spielt auf H. G. Wells Roman Krieg der Welten an. Eine Alien-Invasion führt dort dazu, dass die Menschheit (beinahe) zugrunde geht und in Apathie, Leid und Elend verfällt. Szenen aus der Verfilmung werden mit Einspielern über die Ereignisse in Hannover unterlegt. Weiterhin werden Anmoderationen mehrerer Fernsehsendungen gezeigt, in denen fragend und ratlos mit dem Phänomen der Chaostage umgegangen, Hannover mit „Beirut oder Belfast“ verglichen wird. ↩
2. https://www.karlnagel.de/der-erste-chaos-tag/ ↩
3. http://www.chaostage.de/downloads/flyer/1995/programm.pdf ↩
4. https://www.facebook.com/punxpicnic2019 ↩
5. https://www.nordkurier.de/neubrandenburg/schlaegerei-am-alternativen-jugendzentrum-broda-2429128206.html ↩