AIB #126
68 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.-
AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
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Der Schwerpunkt beleuchtet die Neonazi-Szene in der Ukraine, ihre Verbindung in die Politik und beschreibt das Land als „Sehnsuchtsort der extremen Rechten“.
Das Erstarken der extremen Rechten in der Ukraine ist wesentlich von der Politik in der Regierung geprägt. Dass sich der Nationalismus in der heutigen Ukraine, die vom Krieg und der ständigen Bedrohung durch Russland geprägt ist, wieder seiner mobilisierenden Funktion bedient und die Symbole des nationalen Befreiungskampfes Teil der staatlichen Propaganda, ja Manipulation werden, dürfte die wenigsten überraschen. Zum einen hat sich das paramilitärische „Regiment Asow“ innerhalb von sechs Jahren von einer neofaschistischen Miliz zur politischen Bewegung gewandelt. Der Kommandeur der Einheit ist der Führer der extrem rechten Sozial-Nationalen Versammlung, Andrij Bilezkyj. Die Miliz wurde zur Drehscheibe im internationalen Netzwerk der militanten extremen Rechten. Ihre Anziehungskraft für Neonazis reicht weit über die ukrainischen Grenzen hinaus. Der Ruf „Ruhm der Ukraine“ und die Antwort „Den Helden Ruhm“ ist zur offiziellen Begrüßungsformel erklärt worden.
Zum anderen begrüßte der ukrainische Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk auf Neonazi-Konzerten das Publikum willkommen. Und immer wieder besuchen deutsche Neonazis und Politiker*innen von Afd bis "Der III. Weg" die Ukraine, um am Gedenkmarsch/Marsch der Nationalisten, der an die Gründung der faschistischen Aufstandsarmee UPA erinnert, teilzunehmen. Die UPA hatte sich im Zweiten Weltkrieg aus desertierten Angehörigen der ukrainischen Hilfspolizei gebildet, die die Nazibesatzer zur Sicherung ihres Hinterlands zugelassen hatten. Seit 1941 begingen sie unter Duldung von Wehrmacht und SS Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Ihr Ziel war eine »unabhängige Ukraine«. Kein Wunder also, dass die Ukraine nicht nur ein 'Sehnsuchtsort' für die extrem Rechte darstellt, sondern hier vielmehr ungeniert und offen agieren können.
Gesamteindruck:
In der Ukraine blüht der Nationalismus. Der ukrainisch-nationalistische Politiker und Anführer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) Stepan Bandera (†15.10.1959) wird zum
Nationalhelden verklärt, das ASOW-Regiment führt unverhohlen faschistische Inszenierungen durch und nutzt NS-Symbole. Der Nationalismus soll die ukrainische Identität stärken, doch er spaltet das
Land. Der ukrainische Nationalismus dürfte in den kommenden Jahren noch für etliche Aufregung in der Erinnerungspolitik sowie Zeitgeschichtsschreibung und in den Außenbeziehungen Kiews sorgen.
Die Nationalkultur ist ein natürliches Resultat der besonders komplizierten Geschichte des Unabhängigkeitsstrebens eines breiten Spektrums national orientierter Ukrainer im Verlauf des letzten
Jahrhunderts. Roma, LGBTI und Frauenrechtlerinnen stehen im Fokus rechter Gewalt. Und die das Hauptproblem, weshalb rechte und nationalistische Gruppen so aktiv sein können, liegt in der
Tatsache begründet, dass sie von der Polizei und Teilen der Politik geduldet und unterstützt werden. Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt kein Interesse, rechte Angriffe auf
Roma und zivilgesellschaftliche Akteure stärker zu verfolgen als sein Vorgänger. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit, das Übergriffe befördert.
Allerdings konnte bis Ende 2019 in der politischen Landschaft der Ukraine kaum etwas beobachtet werden, was auch nur annähernd an die hohen Wahlergebnisse oder jahrelange
Regierungsbeteiligung verschiedener Rechtspopulisten und Ultranationalisten in etlichen anderen europäischen Ländern erinnern würde. Vielmehr stellt sich die Ukraine nach fünf Jahren Krieg als
ein Land dar, dass 2019 mit Wolodymyr Selenskyj nicht nur einen jüdischstämmigen Präsidenten wählte, sondern für ca. drei Monate gleichzeitig auch einen jüdischstämmigen Premierminister hatte –
Wolodymyr Hroisman, der von April 2016 bis August 2019 die ukrainische Regierung führte. Nichtsdestotrotz haben es ultrarechte Gruppen geschafft, staatliche Protektion und Unterstützung für ihre
Aktivitäten zu erhalten, etwa im Rahmen bestimmter Veteranen- und Bildungsprogramme. Je länger der bewaffnete Konflikt mit Russland andauert, desto stärker vermögen es heute selbst Randgruppen
wie die inzwischen weithin bekannte Neonazi-Gruppe S14 (oder C14), in die ukrainische Gesellschaft und in öffentliche Angelegenheiten integriert zu werden. Die Distanz zwischen dem Mainstream und
extremistischer Politik, zwischen ziviler und unziviler Gesellschaft, gemäßigten und radikalen nationalistischen Gruppen, schrumpft nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch kulturell und
mental. Die steigende öffentliche Präsenz unziviler Gruppen im ukrainischen Alltag und zunehmende gesellschaftliche Unterstützung für den historischen wie auch heutigen ukrainischen
Ultranationalismus sind allerdings neue Aufmerksamkeit erfordernde Merkmale der Ukraine nach dem Euromaidan. Vor allem fungiert die Asow-Bewegung als eine dynamische unzivile Assoziation, die
ihre Unterstützung unter Jugendlichen im Inland und ihre Kontakte unter Neonazis im Ausland intensiv ausbaut. Sie ist ein sichtbarer Teil internationaler Netzwerke rechter Aktivisten geworden und
unterhält Verbindungen zu diversen, meist rassistischen Randgruppen im Ausland, unter anderem in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der Russischen Föderation.