„So gering nun die Ausbeute ist, welche die gleichzeitigen Annalisten an beglaubigten Nachrichten über Wittekind oder Widukind uns überliefert haben“, schrieb nach verschiedenen Quellen Dr. A. Schmidt in einem Aufsatz über Wildeshausen, „so üppig rankt sich die sächsische Stammessage um ihren gepriesenen Helden. Dennoch ist es gelungen, den Stammsitz, die Heimat Wittekinds, aus dem Dunkel der Sage zu enthüllen: Es ist der uralte Ort Wildeshausen, die älteste Stadt des oldenburgischen Landes, 38 km südwestlich von Bremen, am Huntefluss gelegen.“
Wie in anderen Kleinstädten spukte auch in Wildeshausen der braune Geist der N.S.D.A.P. herum und sorgte vor und während des 2. Weltkrieges für die eine oder andere Schlagzeile. Schließlich gab es mit der sogenannten „Löchen-Times“, wie die „Wildeshauser Zeitung“ heute auch nach seinem Begründer, Ludwig Löschen, im modernen Sprech genannt wird, eine Zeitung, die für viele Wildeshauser*innen einen höheren Stellwert hat, als der politische Weltspiegel. „Wer ist gestorben?“, „welches Geschäft baut um oder geht in die Insolvenz?“, sind wichtige Informationen, die selbst in Hitler_Deutschland zu seltsam anmutenden Schlagzeilen führten.
Als Hitler am 01.09. 1939 Polen angreifen ließ, erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Warschau kapitulierte am 27. September 1939. Die polnischen Juden wurden unter
unmenschlichen Bedingungen in Gettos zusammengepfercht.
„Das Schicksal des Einzelnen ist das Schicksal der Gesamtheit. Das Schicksal der Gesamtheit ist das Schicksal des Einzelnen“, berichtet die Wildeshauser Zeitung am 01.09.1939. „In
diesem Führerwort wird uns die innige gegenseitige Verknüpfung von Volksschicksal und Einzelschicksal verdeutlicht, dass keiner ausweichen kann und auch nicht ausweichen soll. Diese Tatsache soll
uns aber nicht nur bewusst sein, sondern sie muss uns erfüllen mit einem Heiligen Gefühl, durch dass unserem eigenen kleinen Ich erst Größe gegeben wird. Diese Empfindung der unbedingten
Volksgemeinschaft soll so in uns gefestigt sein, dass es keiner Worte bedarf denn wo sie echt sit, äußert sie stillschweigend in all unserem Tun, auch in den Kleinigkeiten des
Alltags(…).“
Wie diese Kleinigkeiten aussehen, bekam auch die jüdische Gemeinde in Wildeshausen am eigenen Leib zu spüren. Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 wurden die Kontakte mit den
jüdischen Bewohner*innen schließlich ganz abgebrochen; die NS-Propaganda hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Seit 1935 prangten große Schilder und Transparente an den Ortseingängen, die u.a. mit
„Juden betreten die Stadt auf eigene Gefahr” beschriftet waren.
Am 28.April 1939 erschien in der Lokalzeitung der folgende Artikel:
„Wildeshausen wird frei von Juden. Erst kürzlich hat sich die Familie des Juden Goldstein nach Holland begeben, um dem Deutschen Reich den Rücken zu kehren. Mit großer Freude nehmen wir nun
davon Kenntnis, daß auch der Jude Heinemann und die drei Judenfamilien de Haas Deutschland verlassen wollen. Diese Judenfamilien wandern nach Holland bzw. Shanghai aus. Mit ihrem Auswandern sind
glücklich alle Juden aus Wildeshausen verschwunden.“
Zu Kriegsbeginn wurden noch zehn Juden/Jüdinnen in Wildeshausen gezählt. Bis Mitte Mai 1940 mussten sie im Rahmen der „Evakuierung“ der Juden des Oldenburger Landes die Kleinstadt verlassen; sie
siedelten nach Bremen über, wo sie gemeinsam mit Verwandten aus anderen Ortschaften in „Judenhäusern“ unterkamen; von hier aus erfolgte ihre Deportation nach Minsk. Mindestens elf jüdische
Bewohner aus Wildeshausen fielen dem Holocaust zum Opfer.
Die nach Kriegsende stattgefundene strafrechtliche Verfolgung der am Pogrom in Wildeshausen Beteiligten führte schließlich dazu, dass das Verfahren 1948 eingestellt wurde; denn einige
Hauptbelastete waren inzwischen verstorben, anderen konnte eine aktive Beteiligung nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Nach Kriegsende kehrte nur eine einzige jüdische Familie wieder in ihre Heimatstadt zurück.
Und während in Polen deutsche Soldaten auf verbrecherische Weise polnische Juden/Jüdinnen erschießen und wie Vieh zusammenpferchen ließ, machte sich die Wildeshauser Bauernschaft Gedanken über
Tierquälerei: "Um zu verhindern, dass eine Kuh oder ein Rind aus der Weide ausbricht, treffen viele Bauern und Landwirte die Maßnahme, ein Tier zu fesseln, in dem man mit einem Stock oder
einer Kette den Kopf des Tieres mit dem linken Vorderfuß verbindet. Das Tier wird hierdurch sehr stark in seiner Bewegungsfreiheit behindert. Dies aber nicht allein. Das so gefesselte Tier kann
sich hierdurch noch nicht einmal der quälenden Fliegen wehren, die besonders in erheblichem Maße belästigen. Die Tiere so zu fesseln ist Tierquälerei und wird bestraft.“
Das deutsche Vieh ist heilig. Sollte es falsch behandelt werden, drohen Strafen. Und während in Polen Menschen erschossen werden, sucht der Wildeshauser Bürger sein Heil und Erholung in der
Heidelandschaft. Es wird Kaffee getrunken und Blütenhonig aufs Brot geschmiert...wenn da bloß nicht die Feinde wären, die den „goldenen Saft“ bedrohen:
„Der sonnige Sommer hat auch Einfluss auf die Raupen gehabt. Die Rohfelder in einzelnen Feldmarken sind in diesem Jahr derart von den Raupen befallen, dass es außerordentlich viel Mühe machen
wird, diese Schädlinge zu bekämpfen.“
Und wenn es in der Fremde nach verbranntem Fleisch riecht, steigt dem braven Bürger in der Wildeshauser Heimat der Duft von verbrannten Kartoffelkraut in die Nase. Die Kartoffelernte steht an und
alles steht in Flammen. Aber nicht vom Krieg. „Wohin man auch kommt. Überall riecht es nach verbrannten Kartoffelfeldern. Ein bekannter Schriftsteller hat das Oldenburger Land als eine stets
von Rauch durchzogene Gegend bezeichnet. Von der Landschaft hat er auf der Fahrt eine Weile geschlafen, denn so schlimm ist es nicht. Immerhin wird schon jetzt tüchtig geschmullt.“
Um sich abzulenken, zeigen die Wildeshauser Lichtspiele den Film „Im Schatten...“, ein Film mit Attila Hörbiger. Der Film stellt einen neuen ungemein fesselnden Konflikt in ihren Mittelpunkt: den
inneren Widerstreit eines jungen, verantwortungsvollen Gebirgsjägers, der von dem Mädchen seines Herzens vor die Wahl gestellt wird, entweder auf seine Liebe oder auf seine gefährliche Stellung
als Führer der Bergwacht Verzicht leisten zu müssen.
In Wildeshausen häufen sich Nachrichten vermisster Soldaten. Die bei Stalingrad eingekesselte Armee unter Paulus wurde am 31. Januar bzw. 2 Februar 1943 nach 76-tägiger Kesselschlacht
zur Kapitulation gezwungen. In Wildeshausen trotzt man der historischen Niederlage mit heldenhaften lokalen Nachrichten:
„Ein Riesenkaninchen mit dem Gewicht von 18 Pfund schlachtete dieser Tage ein hiesiger Züchter. Das Tier, eine dreijährige Häsin, ergab drei Pfund reines Fett.“
Dort ein Schuss, hier ein Kuss
Um das Warten auf vermisster Soldaten zu verkürzen, zeigen die Wildeshauser Lichtspiele den Film „Ihr erstes Erlebnis“ mit Ilse Werner: „Mit innerer Leidenschaft und überzeugender Klarheit
zeichnet Ilse Werner ein junges, zum ersten Mal schwärmerisch verliebtes Mädchen, das mit der Unbekümmertheit der Jugend für etwas kämpfen zu müssen glaubt, was es für die Liebe seines Lebens
hält.“
Doch was nutzt all die Romantik und Liebe, wenn sich ihre Kraft nicht auf die deutschen Truppen übertragen lässt. Der U-Boot-Krieg wurde im Mai 1943 eingestellt. Die deutsch-italienischen
Verbände mussten am 13. Mai kapitulieren.
Der natürliche Feind
Nach umfangreichen Vorbereitungen erfolgte am 06. Juni 194 die Großinvasion der Alliierten in der Normandie. In Wildeshausen plagen sich indes landwirtschaftliche Betriebe mit einem ganz anderen Feind herum: der Kartoffelschorf. Nach 1939 ein weiterer natürlicher Feind, der sich auf deutsche Felder breit und sich daran macht, die Ernte vernichtend zu schlagen.
Konnte die Kartoffelernte durch eine Kalkung vor der ersten Hacke noch gerettet werden, war der Zusammenbruch NS-Deutschlands nicht mehr aufzuhalten. Jede*r, der/die in Wildeshausen noch kurz vor
Kriegsende fliehender verreisen wollte, bekam folgenden Ratschlag mit auf den Weg:
„Erst siegen, dann reisen! Wenn Sie aber jetzt eine kriegswichtige Reise durchzuführen haben, dann nehmen Sie zur Vermeidung von Übelkeit in überfüllten Zügen ¼ Stunde vor Fahrtbeginn zwei
Tabletten ‚Bermesin‘ ein.“
Auf einmal scheinen alle mobil und flüchten in fremde Gebiete. Nur gut, dass es seit dem 01.05. 1898 eine Bahnverbindung gibt. Damals konnten die Wildeshauser*innen mit einem Festpoeten jubeln:
„Hurra! Nun sind wir keine Hinterwälder mehr!Das Dampfroß bringt uns in den Weltverkehr!Wir werden reisen, Fremde zu uns kommen.Und dieses Wechselseitige wird uns frommen!“
Hitler hat sich das anders gedacht. Aber in Wildeshausen ticken die Uhren irgendwie anders. Das zeigt auch der Fortsetzungsroman in der Wildeshauser Zeitung, „Hauptmann Holthausen & das
Mädchen Sabine“:
„Sabine sah einen kleinen, schlecht beleuchteten Bahnhof, auf dem es von Menschen, Kisten und Kästen wimmelte und wurde von zwei großen Händen, die nach Tabak rochen, aus dem Abteil geholt
und an eine breite Brust gedrückt(...)Dann stand sie ein wenig schwankend und sehr müde endlich wieder auf festen Boden und eine tiefe Stimme, aus der Geborgenheit und Güte klang, sagte zu ihr:
‚Da hätten wir also das verflogene Vögelchen(…)!‘“
Lasst uns winken mit Fahnen und Taschentüchern. Denn wir sind in Wildeshausen, Widukinds Heimat, eine Stadt, der Feinde zu trotzen und die Heimat zu schätzen weiß:
„Und wer die Höhen erkennt, auf denen in Urväterzeiten im Sonnenstrahl die Waffen der heranziehenden Feinde blitzten, der Feinde, denen ein Wittekind Jahrzehnte hindurch zu trotzen vermochte,
der verspürt den Zauber der Landschaft, der wird sich bewusst: Wo du im Augenblicke stehst, da ist ein Boden, gedüngt bereits mit dem Blute derer, die Wittekinds Zeitgenossen waren. Da ist ein
Boden, der wert ist, dass ihn die Sage verklärt. Da ist Wittekinds Heimat.“
Und heute?
Traditionen und Heimatpflege bestimmt den Alltag in Wildeshausen zu Pfingsten, wenn die „Wildeshauser Schützengilde von 1403“ ihr traditionelles Gildefest feiert. Wo der Spielmannzug den Zapfenstreich spielt und die Gilde „Heil dir o Oldenburg“ und „Das Niedersachsenlied“ intoniert:
„(...)Wie deine Eichen stark, wie frei des Meeres Flut, sei deutscher Männer Kraft dein höchstes Gut.“
(Auszug „Heil dir o Oldenburg“)
„Aus der Väter Blut und Wunden wächst der Söhne Heldenmut.Niedersachsen soll´s bekunden: Für die Freiheit Glut und Blut!Fest wie unsere Eichen halten alle Zeit wir stand,wenn Stürme brausen übers deutsche Vaterland.Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen.Heil Herzog Wittekinds Stamm.“
(4. Strophe aus dem „Niedersachsenlied“)
Es scheint, als habe sich in einigen Verhaltenszügen wenig geändert und die Liebe zur Heimat wird mit Wort, Ehr und in Liedtexten auch mit Blut verteidigt. Der beim Gildefest Wildeshausen vorgeführte „Große Zapfenstreich“ ist ein weiteres Beispiel für die Inszenierung eines Rituals, das auch unter Hitler ein Symbol für deutschen Militarismus und Religionismus verHERRlicht wurde. Durch das „Helm ab zum Gebet“ und „Ruf nach dem Gebet“ wird eine religiöse Praxis, das Beten, in den Rahmen von Befehl und Gehorsam eingepasst.
Der Große Zapfenstreich beim Gildefest in Wildeshausen:
NIE WIEDER FASCHISMUS!
Quellengaben:
Universal Lexikon 2003
Wittekinds Heimat (Dr. phil. Strahlmann)
Wildeshauser Zeitung (Archiv)
Anmerkung:
Dieser Text soll in keinster Weise die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Wehrmacht relativieren. Im Gegenteil. Dieser Text soll verdeutlichen, welche Wertigkeit lokale Heimatgeschichte zur Zeit der NS-Herrschaft hat. Die Gegenüberstellung bekannter historischer Eckdaten mit zeitnahen lokalen Berichterstattungen in der Heimat-Zeitung sind an Zynismus kaum zu übertreffen und belegen, inwieweit durch Propaganda Berichte über natürliche Feinde und ‚Schädlinge‘ – wie die Raupe oder der Kartoffelschorf – NS-Verbrechen an die Menschheit verdrängt und verharmlost.