Wenngleich am 21. März zum Internationalen Tag gegen Rassismus Demos wegen Covid-19-Pandemie abgesagt werden mussten, ist der solidarische Beitrag nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd groß. Weltweit gingen am Wochenende Zehntausende auf die Straße und protestierten gegen Rassismus. Das ist zunächst ein sehr sehr gutes Signal und lässt darauf hoffen, dass der zunehmende und fest verankerte (Alltags)Rassismus in den Köpfen vieler Menschen etwas entgegengebracht wird, doch anders herum ist und bleibt Rassismus ein Problem, das nicht einfach gelöst werden kann.
Am 23. September 2019 erschien das Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. Aber wissen sollten“ von Alice Hasters. Ihre Kernthese lautet, dass die Hautfarbe nicht egal ist, und dass "Weiße Menschen" so wenig Übung darin haben, mit ihrem eigenen Rassismus konfrontiert zu werden. Sich mit Rassismus auseinanderzusetzen ist anstrengend. Denn das bedeutet, bestehende Denkstrukturen und Handlungen zu hinterfragen. Der Blick verdeutlicht aber auch, dass Rassismus Teil eines Systems ist. Weltweit. Hierauf fußt die Weltordnung, die aufgebaut und ausgebaut wurde. Von Weißen Menschen. Um damit Sklavenhandel, Kolonialisierung, Ausbeutung, Unterdrückung, Folter und Klassenunterschiede zu legitimieren. Vielerorts hat Rassismus Tradition, ist Teil der Kultur (sic!). Damit hängt zusammen, dass Weiße Menschen sich das Recht herausnehmen und nehmen, bestimmte Charaktereigenschaften, kulturelle und soziale Fähigkeiten mit biologischen Merkmalen zu verknüpfen.
Rassismus ist bis in die Institutionen, Ämter, Behörden verankert. Im Denken geht es nicht nur um die Hautfarbe, sondern manchmal auch um bestimmte Personengruppen. Fakt aber ist, dass Rassismus
als Merkmal einer weißen privilegierten Schicht ist. Die Schwarze* Autorin und Aktivistin Noah Sow schreibt in ihrem Buch „Deutschland Schwarz weiß“, dass weiße Menschen das Privileg besitzen,
sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Für Weiße ist der Name oder die vermeintliche Herkunft kein Hindernis bei der Wohnungssuche. Sie werden nicht ständig danach gefragt, wo sie
eigentlich herkommen und sie müssen auch keine Angst haben, beim U-Bahnfahren von der Polizei kontrolliert zu werden (Racial Profiling).
Den Blick auch auf weiße Menschen zu richten hat in der Rassismus-Forschung zu einem Perspektivwechsel geführt. Das Konzept „Critical Whiteness” (dt. „Kritisches Weißsein“) nimmt erstmals
diejenigen in den Fokus, die Rassismus ausüben oder davon profitieren – nämlich weiße Menschen. Hierbei bezieht sich Weißsein nicht auf die Hautfarbe oder äußerliche Merkmale, sondern ist als
politisches und soziales Konstrukt gedacht: Weiße gehören demnach einer Mehrheitsgesellschaft an, die auf individueller, gesellschaftlicher und struktureller Ebene keine rassistischen
Diskriminierungserfahrungen macht, sondern Privilegien und Macht besitzt.
Die jüngsten brutale polizeilichen Übergriffe in den USA spiegeln das wieder.
Dass zigtausende weltweit auf die Straße gegen Rassismus auf die Straße gehen, ist ein gutes, wichtiges Signal. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat sich mit seinem Tweet mehr Sorgen
um die Gesundheit, als um die Folgen von Rassismus betroffene Menschen gemacht: "Der Kampf gegen Rassismus braucht unser gemeinsames Engagement. Jeden Tag. Doch dicht gedrängte Menschenmengen
mitten in der Pandemie besorgen mich." Dabei war er es doch, der sich beim Besuch des Uni-Klinikums in Gießen trotz Corona in einen engen Aufzug mit 10 Personen gezwängt hat und selbst gegen die
Auflagen verstieß. Diesen als „Fahrstuhl-Gate“ von Gießen bezeichnenden Vorfall hat er später entschuldigt. Rassismus indes ist nicht zu entschuldigen. Viel wichtiger ist, dass ich mir als weißer
cis-Mann bewusst mache, dass ich privilegiert bin. People of Color (PoC) sind es nicht. Rassismus zieht sich auf unterschiedlichen Ebenen durch die Gesellschaft bis in die Institutionen. Viele
denken, wenn sie ethnische Zuschreibungen vermeiden, sich bereits klar für „Toleranz“ und gegen Rassismus eingesetzt zu haben. Ein fataler Irrtum. Dieser Ansatz stellt infrage, dass der Rassismus
verschwindet, sobald mensch aufhört, den Begriff „Rasse“ anzuwenden. Oder dass Menschen dadurch gleich werden, indem mensch behauptet, dass sie es sind.
Die Autorin Noah Sow führt das weiße Privileg, als Individuum betrachtet zu werden, mit einem Beispiel plastisch vor:
„Ob [...] Sie oder ich jeweils in kurzen Hosen eine Nobelboutique betreten oder betrunken in einen Plenarsaal laufen, wird von der Umwelt sehr genau beobachtet und recht unterschiedlich eingeordnet.“
Grada Kilomba, Professorin für Postcolonial Studies an der Berliner Humboldt-Universität, sagt:
„[W]eiße Menschen [sind] es gewohnt, sich nur als Mensch zu identifizieren und Weißsein unsichtbar zu machen. Aber es gibt keine machtvollere Position, als sich nur als Mensch zu sehen und die Norm zu bestimmen“.
Rassismus wird (re)produziert. Immer und jeden Tag. Überall auf der Welt. Um das Problem Rassismus zu lösen, muss der weiße privilegierte Mensch anfangen, das Glaubenssystem zu überwinden und aufzugeben. Das betrifft den Glauben an Hierarchien und die Rolle des Dominanten gegenüber Dominierten aufzugeben. Rassismus ist als Dimension sozialer Ungleichheit Diskurse und Praktiken unabhängig vom Willen der Handelnden strukturiert. Der Erfolg sozialer Bewegungen und die neuerlichen weltweite Proteste müssen aufrütteln, aber sie müssen auch Wege aufzeigen, die das wohlverstandene und langfristige Eigeninteresse möglichst breiter Kreise berühren, um strukturverändernde Maßnahmen zu erreichen. Und die müssen maßgeblich Orientierung bieten, um eine extrem weiße Dominanz zu verhindern, damit sich rassistische Morde und Massaker wie in Neuseeland, Halle und Minneapolis nicht wiederholen.