„Wer wir sein wollten“ ist ein Dokumentarfilm über Rollenbilder von Schwarzen1 Jugendlichen in den 1990er Jahren. 4 Protagonist*innen
erzählen von ihren Identifikationsfiguren und Erfahrungen als Schwarze Jugendliche in Deutschland und stellen es in Bezug zur heutigen Zeit. Wer wollte man sein? Wie wurde man gesehen? Was wurde
erwartet und welche Auswirkungen hatten diese Erwartungshaltungen?
Erwartete Rollen an Schwarze Menschen und die Frage nach der eigenen Identität darin.
Hierzulande ist das Bild des „schwarzen Kontinents“ geprägt von kolonialistischen Sehnsüchten (Safaritourismus, unberührte Wildnis, Fernsehtitel wie „die weiße Massai“ oder „Mein Herz in Afrika“) mit einer obszönen Faszination von grausamen Kriegsbildern (Völkermord, Kindersoldaten) und Bildern von traditionell tanzenden „Stämmen“. Das Bild des „Katastrophen-Kontinentes“ erzeugt dabei immer wieder aufs Neue sich reproduzierende Bilder eines von Krisen, Katastrophen, Armut und Hungerkatastrophen gebeutelten Afrikas. Nicht selten sind sie mit faktischen Fehlern und unvollständigen Analysen bestückt. Auch werden Schwarze Menschen oft sexualisiert dargestellt, als Objekte und Unpersonen verzerrt oder auf ihr Schwarzsein reduziert. In den wenigsten Fällen sind sie intellektuell und im Fernsehen nur in Ausnahmefällen als Anwält*innen, Informatiker*innen oder Lehrer*innen zu sehen. Hinzu kommt der Exotismus, als eine Form von Rassismus, der Schwarze Menschen „positiv“ kategorisieren soll: Zum Beispiel damit, dass sie von Natur aus tanzen oder singen könnten, ausgelassen oder temperamentvoll seien.
Tatiana Calasans, geboren in Salvador/Bahia, kam im Alter von 7 Jahren nach Hamburg, wo sie ihr Diplom in Bereich Modedesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und ihren Bachelor im
Bereich Film an der Hochschule für bildende Künste absolvierte. Tatiana Calasans lebt und arbeitet als Künstlerin, Drehbuchautorin und Filmemacherin in Hamburg. In dem Dokufilm sucht Tatiana
zusammen mit Kameramann Jens Herrndorff nach Antworten auf die Fragen nach Lebensrealitäten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Strategien gegen Rassismus, Vor- und Rollenbilder, Folgen für das
spätere Leben, Identität und die Verbindung von struktureller und individueller Ebene. Im Film sprechen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit, mit all ihren Träumen und Hoffnungen, mit all
ihren Gefühlen und Erfahrungen und persönlichen Lebenswegen. Menschen in ihrer ganzen faszinierenden Einzigartigkeit. Dem alltäglichen Rassismus entgegenzuwirken bedeutet daher zwingend,
Ausgrenzungs- und Dsikriminierungsparaktiken zu entlarven, sie aufzubrechen und den Menschen dahinter zu zeigen, ihm einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte zu geben.
Genau das tut dieser Film und formuliert es als stille Aufforderung an seine Zuschauer*innen und uns alle, sich nicht von Vereinfachungen und Pauschalisierungen, und seien sie noch so subtil,
verführen zu lassen, sondern hinter jeder rassistischen Handlung und jeder rassistischen Aussage den betroffenen Menschen zu sehen.
Bei Tatiana Calasans ist das Biografische der Motor ihrer künstlerischen und theoretischen Beschäftigungen mit eben dem Thema dieses Films: Rassismus und Lebensrealitäten von Schwarzen
Menschen in Deutschland.
Neben ihrer Arbeit als Filmemacherin ist sie Mitorganisatorin und Koordinatorin der Black-History-Month-Hamburg Gruppe.1
Tatiana, „das Biografische (ist) der Motor mit dem Thema deines Films“. Wie erlebst du Rassismus und wie gehst du damit um?
Ich möchte keine konkreten Beispiele nennen. Ich kann nur sagen, ich habe meine Strategien gefunden. Manchmal funktionieren sie gut, manchmal nicht.
Hast du Tipps, wie mensch Rassismus im Alltag bekämpfen kann?
Aufmerksam sein, Rassismen erkennen. Das bedeutet auch, sich zu informieren. Fragen stellen. Sich selbst reflektieren und seine Privilegien als Weißer Mensch erkennen.
Wir leben in besonderen Zeiten: Nach George Floyds Tod hat sich eine Bewegung entwickelt. Rassismus ist aber nicht erst seit #BlackLivesMatter ein Thema. Wie bewertest du derzeit die
Sensibilisierung/Anteilnahme/Reflexion zum Thema Rassismus im öffentlichen Leben/in den Medien und wie könnte das genutzt werden, damit Rassismus in allen Bereichen als Problem anerkannt und
sanktioniert wird?
Es ist natürlich gut, dass im Moment das Thema Rassismus im Vordergrund geraten ist. Es ist zutiefst traurig, dass die Welt erst minutenlang zusehen musste, wie ein Mensch
umgebracht wird, damit das geschieht. Für Menschen, die sich mit dem Thema schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten auseinandersetzen und versuchen auf Rassismus in Deutschland aufmerksam zu
machen, hoffe ich, dass sich mehr Möglichkeiten ergeben, Unterstützung für ihre Arbeit zu bekommen.
Rassismus im Alltag bleibt oft im Verborgenen. Die Betroffenen schweigen über die Geschehnisse. Trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Viele Menschen gehen so davon aus, dass es immer
weniger rassistische Diskriminierungen gibt. Hast du das mit deinem Film ändern wollen?
Ich empfinde nicht, dass die Geschehnisse im Verborgenen bleiben. Ich glaube eher, dass es bisher wenig Raum und Interesse für die Perspektiven und Erfahrungen von Rassismus
betroffener Menschen gab. Und dies kann auch bei einigen Menschen dazu führen, dass sie nicht darüber reden, weil sie weder auf Verständnis noch auf offenen Ohren gestoßen sind.
Ich wollte mit meinem Film eine Auswahl von Schwarzen Perspektiven und Lebensrealitäten in Deutschland aufzeigen. Die natürlich nicht für alle Schwarzen Menschen repräsentativ sind.
Für den Film hast du ausgewählte Biografien präsentiert und die Lebensrealität von Schwarzen* in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Das erachte ich als umso wirksamer, weil von der
expliziten rassistischen Verfolgung im „Dritten Reich“ zu Formen von Rassismus in der Bundesrepublik eine Kontinuität festzustellen ist, die Zeitzeugen aus der NS-Zeit aber vermehrt wegfallen.
Soll dein Film also auch ein Diskurs sein, gesellschaftliche Machtverhältnisse, in die wir alle verstrickt sind, sichtbar zu machen?
Man kann von rassistischen Strukturen auch schon vor der NZ-Zeit sprechen. Sichtbar zum Beispiel in der deutschen Kolonialgeschichte und in der Weimarer Republik.
Machtverhältnisse und Privilegien sind unter anderem Themen, die im Film behandelt werden.
Zusammen mit Kameramann Jens Herrndorff habt ihr im Frühjahr 2019 die vier Protagonisten*innen, Cindy, Esaih, Steve und Shannan in ihren Heimatorten in verschiedenen Gegenden Deutschlands besucht
und interviewt. Was war denn für die Auswahl dieser Protagonisten*innen ausschlaggebend?
Ich würde eher von Gesprächen anstelle von Interviews sprechen.
Alle Gespräche waren sehr persönlich und ich bin für jedes einzelne Gespräch und jede Begegnung dankbar. Letztendlich muss ich als Filmemacherin eine Entscheidung treffen.
Wie lautet denn dein persönliches Fazit zum Film?
Ich habe den Film gemacht, den ich machen wollte. Und ich bin dankbar für das entgegengebrachte Vertrauen und den Protagonisten.
Tatiana, du bis auch Mit-Organisatorin der Black-History-Month-Hamburg Gruppe. Dein Film und die Veranstaltungsreihe ähneln einem Bedürfnis nach einem selbstbewussteren Bekenntnis zur
eigenen Identität und einem stärkeren Gemeinschaftsgefühl. Geht es dir persönlich auch darum, deine eigenen kulturellen Wurzeln und historischen Hintergründe zu kennen und zu
fördern?
Ich finde, es ist immer wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. Das stärkt das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis. Wissen gibt Selbstvertrauen. Und es ist wichtig,
nicht nur Weiße Geschichtsschreibung zu kennen und sich Weißes Wissen anzueignen.
Fußnoten:
1. „Schwarz“ ist kein Adjektiv und bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern ist eine Selbstbezeichnung. Das großgeschriebene „S“ wird bewusst gesetzt, um eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung zu markieren und gilt als Symbol einer emanzipatorischen Widerständigkeitspraxis. ↩
2. Die Tradition des Black History Month geht bis ins Jahr 1926 zurück, als der Historiker Carter G. Woodson die Negro History Week initiierte, um über Errungenschaften Schwarzer Geschichte zu informieren. ↩