· 

Ist linksradikal gleich rechtsradikal oder was leistet das Hufeisenmodell der Extremismustheorie?

Nicht erst seit dem Rechtsruck in Gestalt der AfD gibt es die Extremismustheorie. Rechtsradikale und linksradikale politische Programme und Praktiken seien sehr ähnlich und daher irgendwie schon fast dasselbe. Als Bild für das politische Spektrum dient dabei das Hufeisen: In der Mitte sind die normalen Demokrat*innen angesiedelt und auch da wird zwischen rechts (z.B. CDU) und links (z.B. Bündnis90/Die Grünen) unterschieden, die im Bild mit ihren Programmen ebenfalls nah beieinander liegen. Dann steigen aber an den Rändern die Linien derart an, dass die rechten und linken Enden viel näher zueinander stehen als die demokratische Mitte zu irgendeinem dieser Enden.

Einerseits – und das ist kein Geheimnis – ist die Extremismustheorie seit 1974 schlicht ein Arbeitsbegriff der Verfassungsschutzbehörden.1Deren Job ist es diejenigen zu beobachten, die darauf aus sind, die Staatsräson zu ändern. Links-, Rechts- und ausländische Extremisten sind dann Arbeitsbegriffe, die kennzeichnen, dass die Spektren die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) nicht als absoluten Maßstab ihrer politischen Ziele anerkennen. Andererseits soll in der öffentlichen Diskussion mit dem Hufeisen schon mehr gesagt sein. Extremist*innen stünden inhaltlich näher beieinander und zusammen weit von den Demokrat*innen entfernt.
Die Begründungen für diese These beinhalten mehrere Fehler. Einer lässt sich ganz formal festhalten: Extremismus ist - wie beim Verfassungsschutz - nur negativ zur Demokratie gefasst. Über die NPD, AfD, Teile der Partei DIE LINKE, DKP, IS und Al Quaida weiß man dann nur, was sie an einer Ecke nicht sind: Treu zur FDGO. Genauso erhellend wäre die Bezeichnung „Nicht-Anarchismus“ für die Organisationen NPD, FDP und katholische Kirche. Dabei wird diese Logik nicht erst bei der Gleichsetzung von linken und rechten Gruppierungen falsch. Schon die Zusammenfassung von Anarchist*innen, Stalinist*innen, konsequenten Sozialdemokrat*innen unter die Rubrik „Linksextremismus“ ist durch ihren Bezug auf das, was sie nicht sind, aberwitzig.

Viele Fehler sind in den Versuchen enthalten, an positiven Merkmalen der „extremistischen“ Organisationen etwas ihnen Gemeinsames festzuhalten, was sie von der demokratischen „Mitte“ unterscheiden soll. Drei Beispiele aus der Extremismustheorie, die auch an der Uni gelehrt wird:
Urteil 1: „Extremisten zeichnen sich durch ein messianisches Glücksversprechen aus.“2
Da kann man sagen, dass das leider bei manchen linken Organisationen anzutreffen ist. Wer kennt nicht den Song von Ton Steine Scherben „Schritt für Schritt ins Paradies“? Der „pursuit of happiness“ der freien Grundordnung verspricht aber auch jedem, dass er in ihr das Glück am besten verfolgen könne. Man könnte einwenden, dass damit nur das Recht, nach Glück streben zu dürfen, angesprochen ist, was tatsächlich etwas anderes ist als ein Glücksversprechen. Ebenso deutlich ist aber, dass Bürger*innen das mit einem Glücksversprechen verwechseln. Und bürgerliche Politiker*innen gehen damit auch manchmal genauso agitieren: Stichwort „blühende Landschaften“ in der Übernahmekampagne der DDR durch die BRD. Nazis haben zwar auch ein tausendjähriges Reich versprochen und nehmen damit Bezug auf die Bibel. Der Inhalt dieses Reiches besteht dann aber doch wohl eher nur in ewigem Rassenkampf und Unterordnung. Kurzum: In Sachen Glücksversprechen überhaupt lässt sich gar kein Unterschied zwischen den „Extremen“ und der „Mitte“ festmachen, der Inhalt des Glücksversprechens unterscheidet sich dann bei allen deutlich.
Urteil 2: „Extremisten sind gewaltbereit“.3
Schaut man sich die Gesellschaft oberflächlich an, kann man feststellen: Nazis bringen Menschen um, die sie für ausländisch oder links halten. Es gibt Linke, die bereit sind, Nazis aufs Maul zu hauen. Es gibt Linke, die bereit sind, als Maßnahme gegen Gentrifizierung, Autos anzuzünden. Es gibt gewählte Parteien, die Knäste organisieren, eine Bundeswehr betreiben und Menschen abschieben. Gewaltbereitschaft findet sich also im gesamten politischen Spektrum.

Gemeint ist mit der obigen Aussage natürlich, dass einige als „Extremisten“ gekennzeichnete politische Organisationen oder Menschen kein Problem damit haben, staatlich nicht-legitimierte Gewalt auszuführen. Damit wäre man wieder bei der oben kritisierten Logik angekommen. Die Gemeinsamkeit der Gewaltanwendung ergibt sich aus der Abgrenzung gegenüber derjenigen Gewalt, die sie nicht ist. Sie ist staatlicherseits nicht erlaubt. Nebenbei: Damit ist man weit weg davon, die Gründe der Gewalt zu analysieren und ggf. zu kritisieren. Aber auch abgesehen von den Gründen, kann man ja auch an der Konsequenz der Gewalt für das Leid der Menschen einen Unterschied festhalten: Menschen töten oder Sachbeschädigung. Darüber setzen sich die Extremismustheoretiker*innen locker hinweg, wenn sie bei Rechten und Linken gleichermaßen nur einen Bruch mit der Rechtsordnung konstatieren.
Urteil 3: „Extremisten haben eine Überzeugung, die sie nicht als Meinung relativieren, sondern verbreiten und durchsetzen wollen.“4
Die katholische Kirche gilt in Deutschland nicht als extremistisch. Einen Wahrheitsanspruch hat sie aber. Sie erhält Schulungszentren und verlangt von ihren Anhängern Unterordnung. Mit der Durchsetzung hat sie aber mit dem hiesigen Staat ihren Frieden geschlossen. Sie und daher auch die Gläubigen leisten sich den Widerspruch, die göttliche Lehre als das Höchste zu betrachten und zugleich in der Praxis alles zu unterlassen, was daraus als Konflikt mit dem staatlichen Recht erwachsen könnte. Sie verhalten sich also zu ihrem Glauben, also zu ihrer Wahrheit, wie zu einer Meinung. Linksradikale oder Rechtsradikale sind also nicht die einzigen Gruppierungen in der Gesellschaft, die auf Wahrheit pochen. Der entscheidende Unterschied besteht mal wieder in dem Verhältnis zu dem, was erlaubt ist und was nicht.
Dass hier wieder die Rechtsordnung den Kompass der Extremismus-Einordnung abgibt und nicht die inhaltliche Auseinandersetzung, kann man natürlich auch leicht an den Praktiker*innen der Extremismustheorie selber erkennen. Ihre Überzeugung, nach der die hiesige Rechtsordnung das Beste sei, relativieren sie an keiner Stelle, verbreiten diesen Gedanken mit allerlei Aufwand und setzen diese Rechtsordnung mit viel Überwachung, Kontrolle und Gewalt durch. Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll nicht gesagt werden, dass der demokratische Staat ja selber extremistisch sei. Hier soll nur gesagt werden, dass diese angeblich positive Bestimmung des Extremismus – eine Überzeugung, die sie verbreiten und durchsetzen wollen – in Abgrenzung zur demokratischen Mitte nichts taugt.

Fazit:

An allen Punkten, wo die Extremismustheorie versucht, einen positiven Inhalt der sogenannten Extremist*innen zu benennen, taugen entweder die gemeinsamen Bestimmungen nichts; und/oder schafft sie es nicht eine Unterscheidung gegenüber den bürgerlichen Parteien zu liefern; und/oder zeigt sich, dass die Logik des „ist nicht-Rechtsstaatskompatibel“ der ganze Gehalt der angeblich positiven Bestimmung ist: also lauter Pseudo-Gemeinsamkeiten. Man lernt so also nichts über die politischen Gruppierungen. Die Frage, ob sich die politischen Extreme berühren, kann man also weder bejahen noch verneinen. Vielmehr muss man das Hufeisen der Extremismustheorie schlicht als interessengeleiteten Unfug kritisieren. Das ist aber kein harmloser Unfug:
Das Interesse, das diese Theorie hervorgebracht hat, oder der politische Zweck der Theorie, zielt darauf ab, einen bestimmten Blick auf die politischen Strömungen in der Gesellschaft zu propagieren: Ob eine politische Strömung nicht FDGO-treu ist, soll man als das wesentliche Kriterium begreifen, also als das, was einem als Grundübel zuerst in Auge springen soll.

So sollen sich alle ganz allgemein vor Augen führen, dass Rechtsradikale in erster Linie ein Problem für Deutschland darstellen. Das Schlimme z.B. an dem NSU sind nicht die toten Menschen und die Verunsicherung, die die rechtsradikalen Taten bei einem bestimmten Bevölkerungsanteil auslöst, sondern der Schaden für die Demokratie bzw. für Deutschland. Die Extremismustheorie propagiert also Nationalismus, eine Parteinahme für eine bestimmte Staatsraison.
Die Extremismustheorie ist aber vor allem ein Kampfmittel gegen linke Gesellschaftskritiken. Die in der Schule gelernte moralische Abscheu gegenüber den Nationalsozialismus soll richtig verstanden werden: Die richtige Lehre aus dem deutschen Faschismus könne nur die Parteinahme für die FDGO der BRD sein. In diesem Sinne soll die Abscheu gegen rechts produktiv gewendet werden für eine Abscheu gegen linke Ideen: „Es ist ein Zeichen des Wandels, dass seit dem großen Epochenwechsel von 1989/1990 nicht mehr ‚rechtsʻ oder ‚linksʻ, nicht ‚kapitalistischʻ oder ‚sozialistischʻ die Alternativen unserer Zeit sind, sondern demokratisch oder antidemokratisch. Der Kampf gegen Rechts, den derzeit doch einige Menschen in der Gesellschaft für wichtig erachten, soll also geistig nicht ausrutschen, sondern zu einem richtigen Nationalismus gegen den falschen Nationalismus und linke Ideen führen.

Ein Text von den Gruppen gegen Kapital und Nation – www.gegner.in

Fußnoten:

1. Richard Stöss, 'Alter Wein in neuen Schläuchen'? Oder: Wie extremistisch ist die Partei DIE LINKE?, in: Linksextremismus – Die unterschätzte Gefahr? Extremismus-Symposium des Niedersächsischen Verfassungsschutzes am 28.05.2009 in Hannover, S. 57.

2. Alle Urteile sind eigene Zusammenfassungen der Definitionen von diversen Autoren; hier: Hans-Gerd Jaschke, Politischer Extremismus – Lehrbuch, Wiesbaden 2006, S. 35. Von einem „quasireligiösen Glücksversprechen“ spricht Backes, referiert bei Carmen Everts, Politischer Extremismus – Theorie und Analyse am Beispiel der Parteien REP und PDS, Berlin 2000, S. 80.

3. „Wer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ausübt, ist ein Extremist;“ - Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus, in Extremismus in Deutschland – Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin 2004, S. 16. Ähnliche Definitionen bei Jaschke, S. 34 und Everts S. 61f.

4. Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Einführung, Wiesbaden 2004, S. 21f.; Jesse, S. 11.