Ich lernte Fred W. im Jott-Zett, dem örtlichen Jugendzentrum in Wildeshausen, kennen. Dieser Ort war zumeist meine erste Anlaufstelle, wenn ich vom elterlichen Hort mit dem Fahrrad vom Katenbäker Berg gen Stadt fuhr, um in der Zeit nach der Schule, später nach dem Frühdienst während meiner Zivildiensttätigkeit in den Diakonischen Werken Himmelsthür e.V. Wildeshausen, Abenteuer zu suchen. Manchmal fuhr ich auch zu Roland, der ebenfalls nicht weit entfernt vom Jott-Zett wohnte.
Wobei die Abenteuer meist in schleichende Besäufnis-Zeremonien endeten. Eine Zeitlang gab es direkt gegenüber vom Jott-Zett eine WG. Ein altes Haus, das vorübergehend für Zivildienstleistende der Sozialstation Wildeshausen bereitgestellt wurde. Meine Tante war dort die Leitung. So lernte ich Christoph kennen, der aus Sögel nach Wildeshausen zog, um hier seinen Zivildienst zu leisten. Er hatte das Haus meist für sich alleine, weil die beiden anderen Zivis lieber täglich nach Hause fuhren. Christoph war oft zu Hause, weil meine Tante nicht so recht wusste, wobei die Zivis helfen sollten. Christoph musste manchmal für einige Stunden in der Woche Möbel transportieren. Das Möbellager war um die Ecke des Hauses. Ansonsten gab es kaum etwas für die Zivis zu tun. Wir haben im Sommer auf der Dachterrasse gesessen, Bier getrunken, Gras geraucht und über die Dächer von Wildeshausen geschaut. Christoph war so der Typ Frank Zappa, mit wildem krausen Haar. Bei ihm habe ich Musik kennengelernt, die ich vorher niemals zuvor gehört hatte: Den „Tankerkönig 1 und 2“ von Hannes Wader etwa.
Oder Krautrock wie CAN! Ein paar Jahre später wurde das in den 60er Jahren gebaute Haus abgerissen. Beim Abriss wurde ein alter historischer Brunnen freigelegt und ein gepflasterter öffentlicher
Park um den wieder freigelegten und hergestellten Brunnen gebaut.
Nach dem kurzen Check-In im „Jott-Zett“ zog ich meist weiter auf den nicht weit entfernten Burgberg. Davor versorgte ich mich im alten ALDI-Markt in der Stadt mit „Karlsquell“, je nach Geldquelle
zwischen 10 und 12 Dosen, die ich in einen Jute-Beutel, gekauft aus dem sogenannten 3. Welt-Laden bei der Kirche, aufbewahrte.
Der Burgberg war ein geeigneter Ort, um in Gedankenwelten Pläne zu schmieden und mit zunehmenden Alkoholspiegel auch übermütig zu werden. Unterhalb des Burgbergs gibt es einen Park mit vielen
Bänken auf denen sich die „Alkis“ um Stanley trafen, dem „Stadtindianer“. Stanley war ein großer, schlanker Typ, der immer in Jeans-Klamotten rumlief. Den Spitznamen hatte er vermutlich wegen der
langen schwarzen Haare, seiner großen markanten Nase und dem braunen Teint. Es ging auch das Gerücht um, er hätte einen krummen Penis.
Fred W. kam auch gelegentlich auf den Burgberg, wo zum späten Nachmittag immer mehr Kumpels, Spontis und Punkis auftauchten. Roland, Häfky, manchmal Kralle, Rüssel, Pose...ich blieb selten
alleine auf der Bank am Burgberg. Keiner nannte ihn Fred. Bei uns war er unter den Spitznamen „Flying Fred“ bekannt. Diesen Beinamen hatte er bekommen, weil er auf einem Trip hängen geblieben
ist. Flying Fred tauchte oft sporadisch auf, plötzlich war er da und blieb niemals lange. Er hatte die Angewohnheit, sich ständig zu räuspern. Flying Fred war ein bärtiger, knuffeliger Typ, trug
immer einen Batik-Schal und Overalls. Er rauchte selbst gedrehte Zigaretten und sprach in leiser Tonart. Fred hatte mir selbst davon berichtet, dass er auf einem LSD-Trip hängen geblieben ist.
Ich konnte mit der Aussage wenig anfangen, merkte aber an seinem Verhalten einige Auffälligkeiten: neben dem ständigen Räuspern zitterte Fred und hatte einige Gedankensprünge. Manchmal lachte er
einfach so vor sich hin. Nicht laut, eher wie ein Brummen. Irgendwann war er nicht mehr da. Nicht, dass ich ihn vermisst hätte. Es war eher so, dass du das Gefühl hast, dich umdrehen zu müssen,
weil da noch jemensch im Raum steht, der eben noch nicht da war. Und dann machte die Geschichte die Runde, dass sich Flying Fred umgebracht hatte. Es hieß, er sei mit seinem Roller zur Tankstelle
gefahren, hatte einen Kanister mit Benzin aufgefüllt und ist weiter auf der Bundesstraße gen Ahlhorn gefahren. In einer kleinen Parknische soll er sich mit Benzin übergossen und sich dann selbst
angezündet haben. Es hieß, danach wäre er brennend auf dem Roller auf einen keinen Bauernhof in der Nähe gefahren, wo er an der Haustür geklingelt hat, um nach einem Glas Wasser zu fragen. Das
klingt erst einmal sehr sonderbar, unglaublich und absurd. Aber meine damalige Gruppenleitung in der Zivi-Zeit, Gerda, kannte die Geschichte auch, weil es der Hof ihrer Schwägerin war, wo Flying
Fred – in Flammen stehend – an der Haustür nach einem Glas Wasser gefragt hatte. Vielleicht war das Grund, warum ich niemals chemische Drogen genommen hatte, kein Speed, kein Koks, kein LSD.
Damals habe ich mich oft gefragt, warum Flying Fred so verzweifelt war, sich auf dieser grausamen Art und Weise das Leben zu nehmen. Ich kann es nicht beantworten, denke aber, dass es mit den
Psychosen und den Halluzinationen nicht mehr klarkam und er keinen anderen Ausweg mehr sah. Er hatte nie versucht sich auszuschließen, aber er kam auch niemals mehr so richtig rein. Und wie muss
sich ein Mensch fühlen, der immer noch den „kalten Atem“ spürt, der aus ihm heraustritt, paranoide Gedanke hat und über Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Schlafprobleme klagt. Ein
Leben zwischen Wahn(vorstellungen), Ängsten und Hilflosigkeit. „Flying Fred“ hat den Frieden gefunden, den er zeitlebens nicht mehr hatte.