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Psychiatrie – Geschichte mit Nebenwirkungen

Im 19. Jahrhundert wurden psychiatrische Kliniken abwertend als Irrenanstalt, vor allem umgangssprachlich auch als Irrenhaus bezeichnet. Psychisch Kranke durchlitten einen dreifachen Korridor der Diskriminierung, Ausgrenzung, Folter, bis hin zum Tod. Sie wurden von der eigenen Familie versteckt, verstoßen, wurden von der Gesellschaft als andersartig wahrgenommen und als „irre“ stigmatisiert. Sie waren aber auch in einer totalen Institution hilflos den Ärzt*innen ausgeliefert und wurden durch Zwangsmaßnahmen entmenschlicht, gefoltert, traumatisiert oder sind gestorben.

1816 beschrieb der französische Psychiater, Jean Esquirol, das patriarchale Leitungsprinzip in der Psychiatrie: „In einer Irrenanstalt muss von dem Vorsteher alles abhängen(...)Die Diener müssen ein Beispiel der Willfährigkeit und des Gehorsams gegen das Reglement und den Chef geben. Durch ihre Anzahl zeigen sie eine große Macht(...); sie überzeugen dadurch den widerspenstigen Kranken, dass jeder Widerstand eitel sein würde (…).“

Zwangsmaßnahmen

Die Zwangsmaßnahmen begannen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Bürgertums, wo psychische Krankheiten als medizinische Probleme betrachten wurden. In der Pionierzeit der Anstalten für psychisch kranke Menschen steht die Verwahrung der geistig Verwirrten im Vordergrund: Zwangsjacken, Gürtel und Fesselungsvorrichtungen prägen das Bild – aber auch spezielle Geräte wie das sogenannte Deckelbad, eine Badewanne mit abschließbarem Deckel, aus dem nur noch der Kopf herausragte. Aufgebrachte Patienten wurden darin bis zu 14 Stunden lang im Wasser liegend eingesperrt.
Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen die sogenannten Kuren. Mit Insulin oder Malaria-Erregern lösen die Ärzte bei den Patienten Fieberschübe aus, damit die Patienten bettlägerig werden – und damit leichter zu behandeln sind. Diese Schlafkuren kamen in den 1920er Jahren groß in Mode: Meist schizophrene Patient*innen wurden mit 5 bis 10-tägigen Schlafkuren behandelt, hervorgerufen durch Barbiturate1 wie Somnifen – eine Art künstliche Dauernarkose. Die Behandlung war sehr aufwendig, und es kam auch zu Todesfällen.
In den 30er-Jahren ersinnen die Therapeuten auch Schockkuren mit Stromschlägen oder Behandlung mit Cardiazol, einem Mittel, das den Kreislauf stimuliert. Diesen Verfahren liegt die Idee zugrunde, dass ein künstlich hervorgerufener Schock die Selbstheilungskräfte im Körper mobilisiert. Zudem ist damals die Meinung verbreitet, dass sich Epilepsie und psychische Krankheiten wie Psychosen ausschließen; deshalb wurde versucht, solche Krämpfe künstlich herbeizuführen – die Anfälle sollten also die Psychose «bekämpfen».
Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen die ersten Psychopharmaka auf den Markt. Das führte zu einem weitreichenden Umbruch in der Behandlung psychischer Krankheiten: Im Laufe vieler Jahre wurden die körperlichen Kuren durch Medikamente abgelöst – und auch fragwürdige Hirnoperationen wie die Lobotomie: die operative Durchtrennung des Gewebes zwischen Frontallappen und Thalamus, um emotionale Ausbrüche dauerhaft zu unterbinden.
 1936 hatte Walter J. Freeman als hoch angesehener Neurologe an der Klinik der George Washington University in der US-amerikanischen Hauptstadt, die erste frontale Lobotomie durchgeführt. Auf der Suche nach einer Therapie für Manische, Depressive oder einfach Auffällige, war er auf eine Arbeit des Portugiesen Egas Moniz gestoßen. Moniz vertrat die These, dass man mit der Durchtrennung von Nerven, die vom Stirnlappen zum Thalamus verlaufen, seelische Krankheiten heilen könne. Moniz wurde für diese „Innovation“ 1949 der Nobelpreis verliehen.

Freeman und andere von der Lobotomie überzeugte Neurochirurgen verwiesen – ohne je eine kontrollierte Studie vorzustellen – auf die „Erfolge“: Viele der vorher in den Anstalten äußerst unruhigen Patienten wurde postoperativ apathisch, geradezu pflegeleicht. Freemans Werbeslogan:

„Lobotomie bringt sie nach Hause“.

Erst nach dem Tod einer Patientin bei der dritten Operation 1967 wurde ihm die Lizenz zur operativen Tätigkeit entzogen. Freeman starb 1972, ohne etwas bereut zu haben.

Psychiatrie im Nationalsozialismus

250.000 Menschen fielen dem sogenannten Euthanasieprogramm in NS-Deutschland zum Opfer. Psychiater*innen waren maßgeblich an der Zwangssterilisierung von bis zu 400.000 Menschen beteiligt.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts diskutierten Ärzte und Gesundheitspolitiker – nicht nur in Deutschland – über mögliche Maßnahmen zur Gesundung des „Volkskörpers“, über „Rassenhygiene“ und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen sowie der „Gnadentod“ unheilbar Kranker standen bereits im Raum.

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Zwangssterilisation

Die Nationalsozialisten griffen denn auch mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 auf einen preußischen Gesetzesentwurf aus der Weimarer Zeit zurück. Der Zwangscharakter des Gesetzes und die Radikalität seiner Umsetzung machten jedoch neben den ökonomischen Motiven die „rassenpolitische“ Dimension, die die neuen Machthaber damit verfolgten, deutlich. Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Über die Sterilisation entschieden die zu diesem Zweck neu eingerichteten „Erbgesundheitsgerichte“ bzw. als Berufungsinstanz die „Erbgesundheitsobergerichte“, deren Mitglieder unter dem Aspekt ihrer ideologischen Nähe zum Regime ausgewählt wurden. Voraussetzung war die Einreichung eines Antrags auf Unfruchtbarmachung entweder durch den Betroffenen, den gesetzlichen Vertreter, einen Anstaltsleiter oder einen Amtsarzt. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden bis zu 400.000 Menschen sterilisiert.

Die „Aktion T4“ – der Krankenmord

Seit 1939 plante das Hauptamt II (unter Leitung von Viktor Brack) der „Kanzlei des Führers“ (unter Reichsleiter Philipp Bouhler) die euphemistisch „Euthanasie“ genannte Mordaktion an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Ärztlicher „Euthanasie-Beauftragter“ wurde Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt. Der Würzburger Psychiater und Neurologe Prof. Werner Heyde übernahm die medizinische Leitung des Tötungsprogramms; zu seinem Stellvertreter wurde Prof. Hermann Paul Nitsche, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, ernannt. „Legalisiert“ wurde der Mord durch ein Ermächtigungsschreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert wurde.

Von der Berliner Zentraldienststelle aus (seit April 1940 in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 residierend, woher das Kürzel „T4“ rührt) wurden an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich und in die angegliederten Gebieten Meldebogen versandt, die die mit der Patientenbehandlung betrauten Psychiater*innen vor Ort ausfüllten und schließlich etwa 40 von der Zentrale bestimmte Ärzte begutachteten. Sie entschieden über Leben und Tod, ohne die Kranken persönlich gesehen zu haben. Mit den zum Symbol für die „Euthanasie-Aktion“ gewordenen „Grauen Bussen“ wurden die durch ein rotes Plus-Zeichen auf ihrem Meldebogen zur Ermordung bestimmten, mehr als 70 000 Patient*innen aus den Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in „Zwischenanstalten“ in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hadamar im Gas erstickt.
In etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ wurden mindestens 5000 physisch und psychisch kranke Kinder und Jugendliche ermordet. Die Tötungen blieben nicht auf das Gebiet des Deutschen Reiches beschränkt. SS und Einsatzgruppen ermordeten bereits im Herbst 1939 im besetzten Polen Patienten psychiatrischer Anstalten.
Tausende verhungerten oder wurden mithilfe von Medikamenten in Pflegeheimen und psychiatrischen Einrichtungen bis Kriegsende getötet. Um Kapazitäten für Reserve- und Ersatzkrankenhäuser für Luftkriegsopfer zur Verfügung zu haben, wurden seit 1943 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten in bombengefährdete Regionen verlegt („Aktion Brandt“) und in den Aufnahmeanstalten mit Luminal oder durch gezielte Vernachlässigung (Hungerkost) ermordet. Die Auswahl trafen nicht mehr die „T4-Gutachter“, sondern Ärzte und Anstaltsleiter vor Ort. Die bekanntesten Tötungsanstalten dieser „dezentralen Euthanasie“ waren „Am Steinhof“ in Wien, Eglfing-Haar, Eichberg, Großschweidnitz, Hadamar, Irsee bei Kaufbeuren, Meseritz-Obrawalde und Tiegenhof. Insgesamt fielen der „Euthanasie“-Aktion 250 000 bis 300 000 Menschen zum Opfer.

Das bei der Tötung in den „Euthanasieanstalten“ eingesetzte Personal und die verantwortliche Abteilung der „Kanzlei des Führers“ stellten ihre Dienste weiterhin in die mörderische NS-Rassenpolitik: Unter der Tarnbezeichnung „Aktion 14 f 13“ führten sie in Himmlers SS-Imperium – den Konzentrationslagern – Selektionen durch, um Tausende kranke, aber auch jüdische und andere in Misskredit geratene Häftlinge auszusondern und sie in den Tötungsanstalten Bernburg, Hartheim und Sonnenstein-Pirna zu ermorden. Zudem bildeten sie den personellen Kern der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ auf polnischem Boden, dem Schauplatz des Völkermords an den europäischen Juden 1942/43.

Nach Kriegsende

Im Nürnberger Ärzteprozess vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947, dem ersten der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, mussten sich Karl Brandt, Hitlers ärztlicher „Euthanasie“-Beauftragter, und Viktor Brack, Organisator in der „Kanzlei des Führers“, vor Gericht für ihre Verbrechen verantworten. Beide wurden zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg am Lech gehängt. Viele Ärzte und am Krankenmord beteiligtes Personal wurden für ihre Taten jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen oder vergleichsweise milde bestraft.

Von Beginn an stellten sich Psychiater*innen in den Dienst der NS-Politik. Ob der Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie Ernst Rüdin den Kommentar zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Juli 1933 mitverfasste, Ärzt*innen die „Erbkranken“ bei den Behörden zur Sterilisation anzeigten, Prof. Werner Heyde die „Aktion T4“ leitete, Psychiater die Meldebogen ausfüllten – wohlwissend was die Konsequenz für die ihnen anvertrauten Patienten war –, medizinische Experimente durchgeführt wurden, jüdische Fachkolleg*innen aus den Standesorganisationen ausgeschlossen wurden oder die Verbrechen nach Kriegsende geleugnet und verharmlost wurden – ohne Initiative und Unterstützung von Psychiatern und anderen Ärzten hätte das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm nicht in die Tat umgesetzt werden können.

NS-Täter, Aufarbeitung und Dokumentation

Am 26. November 2010 bat DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.)-Präsident Frank Schneider beim Kongress in Berlin die Opfer um Verzeihung für das Leid, das ihnen in der NSZeit von den Psychiater*innen zugefügt worden war.
Frank Schneider bat „die Opfer und deren Angehörige um Verzeihung für das Leid und das Unrecht, das Ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus im Namen der deutschen Psychiatrie und von deutschen Psychiaterinnen und Psychiatern angetan wurde, und für das viel zu lange Schweigen, Verharmlosen und Verdrängen in der Zeit danach“.
Psychiater*innen, die in der NS-Zeit zu den Tätern gehörten, traten nach dem Krieg als Sachverständige zur Wiedergutmachung auf und rechtfertigten die Zwangssterilisationen als wissenschaftlich begründet. Prof. Dr. med. Helmut Ehrhardt (Marburg) versicherte bei einer Anhörung zum Bundesentschädigungsgesetz im Deutschen Bundestag noch 1961, das Erbgesundheitsgesetz sei kein NS-Unrecht gewesen und entspreche „auch der heutigen wissenschaftlichen Überzeugung“. Erhardt war von 1970 bis 1972 Präsident der Fachgesellschaft. Ebenfalls 1961 lehnte Werner Villinger, der zu den Gutachtern von T4 zählte, im Bundestag die Entschädigung von Zwangssterilisierten mit der fachmännisch klingenden Begründung ab, es könnten „neurotische Beschwerden und Leiden auftreten“, die nicht nur „das bisherige Wohlbefinden“, dieser Menschen, „sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen“.
Die wenigen frühen Kritiker*innen liefen ins Leere. Erst Anfang der 1980er Jahre hat die kritische Erforschung der Psychiatrie in der NS-Zeit eingesetzt.
Die DGPPN organisierte zudem eine Wanderausstellung (2014 - 2020). Sie nahm die Frage nach dem Wert des Lebens als Leitlinie und beschäftigt sich mit den gedanklichen und institutionellen Voraussetzungen der Morde, sie fasste das Geschehen von Ausgrenzung und Zwangssterilisationen bis hin zur Massenvernichtung zusammen, beschäftigte sich mit exemplarischen Opfern, Tätern, Tatbeteiligten und Opponenten und fragt schließlich nach der Auseinandersetzung mit dem Geschehen von 1945 bis heute.
Wirklich anerkannt sind diese Opfer auch heute noch nicht, das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 schließt die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation weiter aus. Die Grüne Bundestagsfraktion will das nun ändern und hat im April dieses Jahres einen entsprechenden Antrag2 im Bundestag gestellt.
Die Anerkennung käme nun 76 Jahre nach Kriegsende reichlich spät. 2019 starb etwa mit Dorothea Buck eine selbst zwangssterilisierte Psychiatrie-Aktivistin im Alter von 102 Jahren. Doch die jüngsten Entwicklungen stimmen optimistisch: Im letzten Jahr wurden die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer des NS-Regimes offiziell anerkannt.
Oft sind noch nicht mal die Gräber der Opfer bekannt und Krankenakten schon während der Nazijahre spurlos verschwunden.


Fußnoten:

1. Barbiturate wirken sedativ (beruhigend), hypnotisch (schlafanstoßend und -fördernd) sowie antikonvulsiv (krampflösend). Aus diesen charakteristischen Wirkungen leiten sich auch die Indikationen für diese Mittel als Beruhigungs- und Schlafmittel sowie als Mittel gegen Krampfleiden (z. B. gegen Epilepsie) ab.  

2. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/288/1928824.pdf


Mediathek

Ohne Gnade: Euthanasie im Nationalsozialismus

Online bis 19.01.2022, 17:35 Uh

Inhalt:

Anhand von drei Opferbiografien zeichnet "Ohne Gnade" das perfide System der Euthanasie im Nationalsozialismus nach und begleitet Angehörige auf ihrer Suche nach der Wahrheit.
Auch gut 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs gibt es immer noch keine genauen Zahlen über die Opfer der sogenannten NS-Euthanasie. Offiziell spricht man von 200.000 bis 300.000 Menschen, die im Rahmen der Aktion T4 und der späteren wilden Euthanasie in den Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1939 und 1945 starben. Nach Berechnung von Experten hat jeder achte Deutsche einen ermordeten Verwandten unter seinen Vorfahren. Die Krankenmorde der Nazis sind ein blinder Fleck in der Aufarbeitung.
Gleichzeitig beeinflussen sie bis heute unsere Gesellschaft in der Diskussion über Inklusion, den Umgang mit Behinderten und Randgruppen. Die Krankenmorde haben aber auch in den Familien, in denen das Schicksal der Opfer aus Scham totgeschwiegen wurde, ein Trauma hinterlassen.
Viele Nachkommen machen sich erst jetzt auf Spurensuche. Sie brechen das Schweigen, erforschen und erzählen das Schicksal ihrer ermordeten Angehörigen. Sie rühren damit an alte Wunden – und heilen sie zugleich.
Anhand von drei Opferbiographien zeichnet „Ohne Gnade“ das perfide System der Euthanasie im Nationalsozialismus nach und begleitet Angehörige auf ihrer Suche nach der Wahrheit.