Am 18. Mai 1980 hatte der Joy Division-Sänger Ian Curtis Selbstmord begangen. Zwei Tage, bevor die Gruppe zur ersten US- Tournee aufbrechen wollte. Bestürzt meldet BBC-DJ John Peel den Tod von Ian Curtis. Jon Savage hat dieser Band zum 40. Todestag von Ian Curtis im letzten Jahr ein bemerkenswertes Buch-Projekt gewidmet.
Sengendes Licht, die Sonne und alles andere
Die Geschichte von Joy Division
Biografie
Buch. Hardcover
2020
382 S.
Heyne Verlag. ISBN 978-3-453-27251-4
Format (B x L): 13.4 x 21.5 cm
Sengendes Licht, die Sonne und alles andere erzählt vom Mythos von Joy Division als Oral History: Savage kuratiert die Stimmen von Zeitzeugen, komponiert die Erinnerungen von Kollegen, Freunden,
Musikjournalisten, die aufs Unterhaltsamste durcheinanderreden, sich mal ergänzen, mal widersprechen, zu einer ingeniösen Montage, die selber ein bisschen wirkt wie ein
Joy-Division-Song.
Erzählt wird die Geschichte vor allem über Manchester, das in den 70er-Jahren eine Ruinenstadt war, zwischen deren nie
weggeräumten Weltkriegstrümmern buchstäblich kein Gras mehr wuchs,sondern lediglich die rußigen Fabrikschlote in den Himmel ragten. Bernard Sumner musste neun Jahre alt werden,
um den ersten Baum zu sehen.
„Irrenhäuser mit weit geöffneten Türen, wo die Leute dafür bezahlt hatten, hineinzusehen. Zur Unterhaltung sehen sie zu, wie sein Körper sich windet Hinter seinen
Augen sagt er: ‚Ich existiere noch.‘ Das ist der Weg, treten Sie ein.“
A T R O C I T Y E X H I B I T I O N
Songwriter: Bernard Sumner / Ian Kevin Curtis / Peter Hook / Stephen Paul David Morris
Vom Polizisten-Sohn zum Punk
Aufgewachsen sind die Gruppenmitglieder in Manchester. In den 70er-Jahren war diese Stadt das ausgebrannte Herz der britischen Industrie. In
den trostlosen, heruntergekommenen Stadtvierteln gab es nichts, für das es sich zu begeistern lohnte, bis die Sex Pistols mit einem Auftritt in der Town Hall für Befreiung
sorgten. Mache selbst Musik, lautete ihre Message. Unter Manchesters Punkfans der ersten Stunde waren Peter Hook und Bernard Sumner, Arbeiterkinder, die sich wenig später mit dem Polizisten-Sohn
Ian Curtis zusammentaten. Es dauerte etwas, bis Schlagzeuger Stephen Morris zu der Post-Punk-Band stieß. Ab Januar 1978 nannten sie sich Joy Division, ein Begriff aus dem Zweiten Weltkrieg: Die
Nazis nannten angeblich Bordelle und Zwangs-Prostitutionen in Konzentrationslagern „Abteilung Freude“, englisch „Joy Divisions“. Überschwänglich erklärt US-Punk-Veteran Henry Rollins:
„Unknown Pleasures, das Debüt-Album der Gruppe zum Meisterwerk. Unbestritten ist es eines der wichtigsten Alben der Rockmusik. Joy-Division-Songs entstanden
gleichberechtigt, im Kollektiv. Die Band spielte vor sich hin, bis Curtis unterbrach und auf einen Teil hinwies, der sich gut mit einem anderen kombinieren ließe.“
Unknown Pleasures
Mit ihrem am 15. Juni 1979 veröffentlichten Debüt legten Ian Curtis, Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris ein dystopisches Album vor, dessen Stellenwert für die gesamte Alternative-Welt unermesslich war und ist. Das Cover wurde erschaffen von Peter Saville, dem Factory-Records-Designer, und stellt ein Abbild der Radiowellen des 1967 entdeckten Neutronensterns CP 1919 dar. Saville, damals gerade mal 22, entdeckte dieses Bild in der Cambridge Encyclopaedia of Astronomy, die sie laut Wikipedia aus der Doktorarbeit von Harold Craft Jr. aus dem Jahr 1970 nachdruckte. Saville stellte das Bild von schwarz auf weißem Grund einfach mal auf weiß auf schwarzem Grund um, obwohl die Band eigentlich das Original bevorzugte. „Ich hatte Sorge, dass es sonst etwas billig aussehen könnte“, sagte er gegenüber der Washington Post. „Ich war überzeugt davon, dass es in Schwarz sexier aussehen würde.“
Nach einem Londoner Konzert im Dezember 1978 erlitt der Sänger, der bereits verheiratet und Vater einer Tochter war, seinen ersten Epilepsie-Anfall. Band und Management waren hoffnungslos
überfordert mit der Krankheit des Sängers, zudem standen die Aufnahmen für die erste LP an und zwar für ein neues, unabhängiges Label namens Factory. Als Produzent fungierte Martin Hannett. Er
sorgte für ein kaltes, halliges Klangbild, das sich wesentlich unterschied vom harten, ungeschönten Live-Sound der Gruppe.
Joy Division zogen derweil bei Live-Auftritten mehr und mehr Fans an. Hohen Anteil daran hatten die düster-poetischen Texte von Ian Curtis, in denen er Dystopien und Zivilisationskritik von
Sciencefiction-Autoren wie Philipp K. Dick, von Franz Kafka und William S. Burroughs verarbeitete.
Annik Honoré, Tochter eines belgischen Polizeipräsidenten, lernte Joy Division bei einem Interview kennen. Die gebildete, aparte, junge Frau wurde Curtis‘ Muse, der somit zwischen zwei Frauen
stand. Curtis, von bürgerlichen Idealen geprägt, war im Grunde konfliktscheu. Sich zwischen der Ehe-Frau und der Geliebten entscheiden zu müssen, hat dem empfindsamen Künstler schwer
zugesetzt.
Bassist Peter Hook, auf dessen Riffs die Musik von Joy Division aufbaut, spielt die Schuld der Bandmitglieder hinsichtlich des Selbstmords herunter. Tatsächlich lässt sich in Savages
Dokumentation nachlesen, wie unfassbar nachlässig die jungen Musiker und das Management mit Curtis‘ Erkrankung umgingen. Als der Sänger durch schwere Anfälle unfähig war, einen Auftritt
durchzustehen, engagierte man kurzerhand Ersatzsänger. Zwei ruhige Nummern muteten ihm die Rüpel zu, ansonsten durfte er dem künstlerischen Verrat vom Bühnenrand beiwohnen.
Angesichts der extrem zunehmenden Anfälle, zum Teil auf der Bühne erlitten, und der Rücksichtslosigkeit der sogenannten Freunde, sah Ian Curtis offenbar keine andere Möglichkeit, als sich dem
Leben durch Suizid zu entziehen.
Closer
Das 2. Album „Closer“ erschien exakt zwei Monate nach Curtis' Tod und wurde gemeinhin wie ein später Abschiedsbrief wahrgenommen.
Für das Cover hatte Curtis sich passenderweise das schwarz-weiße Bild einer Totenwache ausgesucht. „Heute scheint es natürlich offensichtlich zu sein, warum er dieses Bild auf dem Cover haben
wollte“, sagt Schlagzeuger Stephen Morris im Interview, das im Beibuch der Neuauflage von „Closer“ abgedruckt ist. „Aber damals war die Auswahl des Bildes für uns bloß ein technisches Detail.“
Während der Closer-Sessions ging Produzent Martin Hannett mit seiner Arbeit noch weiter und verfeinerte Curtis' Gesang, indem er getrennt vom Rest der Band separat mit Ian im Studio arbeitete.
Dies führte die Musik stilistisch in etwas Düsteres, Subtileres, dessen lyrischer Inhalt im Nachhinein ein Hinweis auf das war, was zwei Monate später eintreten sollte. Es waren nicht nur die
während dieser Sessions eingefangenen Vocals, die Closer zu einem Meisterwerk machen, sondern auch die weitere Integration der eindringlich- atmosphärischen Synthesizer von Bernard Sumner bei
Tracks wie „Decades“ und „Isolation“, die meisterhaften Basslinien von Peter Hook bei Tracks wie „24 Hours“, Stephen Morris' kraftvolle und beunruhigende Percussion in Tracks wie „Decades“ und
„The Eternal“, die zusammen mit der noch düstereren und atmosphärischen Produktion von Martin Hannett letztendlich dazu führten, dass Closer als Gothic-Meisterwerk gepriesen wurde und Unknown
Pleasures, das im Jahr zuvor erschien, übertraf.
Sogar der einzige eklatante Fehler der Produktion – ein Missgeschick mit einem Rasiermesser bei der Bearbeitung des Endes von „Isolation“ – trägt zur Schönheit dieses makellosen Albums bei.
Closer wurde später, am 18. Juli 1980, posthum über Factory Records veröffentlicht, nachdem Leadsänger Ian Curtis zwei Monate zuvor, am 18. Mai 1980, Selbstmord begangen hatte. Das Cover-Artwork
wurde sowohl von Martyn Atkins als auch von Peter Saville entworfen. Das Foto auf dem Cover wurde von Bernard Pierre Wolff aufgenommen und ist ein Bild von Jesus und Maria aus dem Familiengrab
der Appiani im Cimitero Monumentale di Staglieno in Genua, Italien.
Die Band wurde vom Selbstmord ihres Sängers sozusagen kalt erwischt. „Wir haben uns auch nie mit seinen Songtexten auseinandergesetzt“, sagt Bernard Sumner.
„Ich finde das im Nachhinein extrem bizarr, aber er schrieb sie und wir dachten, die Wörter klingen gut, und haben uns ansonsten lieber auf unsere Instrumente konzentriert.“
Dabei ließ bereits „Atrocity Exhibition“, dem Eröffnungssong von „Closer“, kaum Fragen zum Gemütszustand ihres Sängers offen. Curtis hatte in den letzten zwei Jahren seines Lebens eine Epilepsie
entwickelt. Die Anfälle ereilten ihn immer häufiger auf offener Bühne, was beim Publikum mächtigen Eindruck hinterließ. Kaum verklausuliert singt er in dem Stück: „Zum Vergnügen sehen sie seinen
Körper sich verdrehen. / Hinter seinen Augen sagt er: ,Noch existiere ich'.“ (Im Original: „For entertainment they watch his body twist, Behind his eyes he says, ,I still exist'.“).
We fought for good, stood side by side Our friendship never died
On stranger waves, the lows and highs Our vision touched the sky Immortalists with points to prove
I put my trust in you!
A M E A N S T O A N E N D