Für mich war Punk immer stets verknüpft mit einer klaren Anti-Haltung. Als ich 1984 Punk(musik) für mich entdeckte, radikalisierte sich meine Einstellung zusehends. Mit dem Wissen aus Punk-Fanzines und Textbeilagen von Punkbands vollzog ich – ähnlich der Metamorphose einer Kaulquappe zum Frosch – eine Einstellung, die im Wesentlichen mit „Dagegen sein“ geprägt war:
Gegen Bullen, Staat, Krieg, Raketen, Dosenbierpfand und Nazis. Dabei waren mir Slogans und Parolen wichtig – insbesondere diese von Punkbands und Agit-Pop Bands wie SLIME, DAILY TERROR, TON
STEINE SCHERBEN – die sich auf selbst gestalteten T_Shirts, Jacken wiederfanden.
Ich denke, diese ANTI-Haltung schlummerte schon länger in mir, wurde nun gefüttert und wuchs, je mehr Punkmusik ich hörte, je mehr Fanzines ich las und je mehr ich mich auch optisch von dem Rest
der Gesellschaft abhob.
Ein Iro, kaputte und selbst genähte Hosen, Sprüche, Patches auf der Nieten-Lederjacke und immer böse gucken. Ein Image, das lange Zeit gepflegt worden ist und nicht immer Zuspruch fand.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie ich mich im Alter von 8 Jahren übergeben musste, als ich während der Hochzeitsfeier meines Onkels und meiner Tante erfuhr, dass das, was ich gerade mit
dem Löffel aus der schicken Kristallschale aß, Krabbencocktail war, und sich ein Schwall unverdautes umgehend aufs Büfett und umstehende Personen ergoss. Von diesem Tage an habe ich kein Fisch
und keine Schalentiere mehr gegessen.
In diesem Alter war ich mit dem Nachbarsjungen Christian befreundet, dessen Vater auch Jäger war. Die Vorderseite des Hauses war übersät mit Jagdtrophäen. Direkt über der Haustür „begrüßte“ ein
12-Ender die Besucher*innen. Christians Vater hatte den alten Hirsch nach eigener Angabe in der
Johannisburger Heide in Polen geschossen. Es war insgesamt nicht nur ein gruseliger Anblick, es machte mir auch angst.
Eines Tages fuhren er, Christian und ich mit dem Jeep zu einem Hof, um im Stall Puten einzufangen und zu „beringen“. Ich hatte keinerlei Vorstellung, was das bedeutet, sondern genoss die Fahrt im
Jeep und war auch immer froh, wenn es auf Reisen ging und ich vermeintlich neue Abenteuer außerhalb meines Kosmos erleben durfte. Als wir dann auf dem Hof ankamen und Christian und ich mithalfen,
im Stall die ängstlichen Tiere einzufangen und festzuhalten versuchten, bekam ich einen Schreck, weil ich unmittelbar mit der Ausweglosigkeit der Tiere konfrontiert war. Die Puten waren
verängstigt, aufgeregt bis panisch. Es stank nach Kot und unterdefinierbaren. Als das eine oder andere Tier eingefangen war und sich immer noch wehrte, hatte Christians Vater ein Lötgerät in der
Hand und begann, die Schnäbel zu verlöten, wobei mir der Geruch vom abgebrannten Horn noch gut in Erinnerung geblieben ist. Diese Art der Schnabelverkürzung ist heute verboten. Diese schmerzvolle
und unter Zwang angewandte Technik galt präventiv als gängiges Mittel um Federpicken, dem Kannibalismus und/oder das Picken auf den Kopf zu vermeiden. Für mich war der Anblick damals ein Schock,
weil ich spürte, wie sehr die Tiere qualvoll unter Zwang Schmerzen erleiden mussten. Von diesem Tage an habe ich aufgehört, Fleisch zu essen.
Aufgrund meines jugendlichen Alters kam es aufgrund meiner konsequenten Verweigerungshaltung zu Hause bei Essensfragen und der Nahrungsaufnahme desöfteren zu konfliktreichen Situationen,
insbesondere bei der Wahl der Speisen und wie diese zubereitet wurden. Eines Abends beim gemeinsamen Abendbrot musste ich fluchtartig den Tisch und das Haus verlassen, weil ich meinen Vater als
„Kannibalen“ bezichtigte, der gerade Schweinekopfsülze aufs Brot legte, daraufhin aufstand, um mir Gewalt (Schläge) anzutun.
Wer immer nur gegen etwas ist, zeigt sich auch manchmal (solidarisch) für etwas. Gegen Fleischkonsum, aber für das Ende von Tierleid. Ein solidarisches Miteinander aufgrund einer konsequenten
Anti-Haltung. Das passt gut zusammen. Und ein klar formuliertes „Nein“ war fortan ein Ausdrucksmittel, um meine Abneigung und Ablehnung einleitend zu begründen.
BUT ALIVE - Unser Nein
Los schlag die Zeitung auf und es ist alles so gelogen,
Diesen Schwachsinn zu ertragen, dazu wurden wir erzogen.
Hast du wirklich mal gedacht sie wären daran interessiert,
uns einmal klar zu sagen, was in Wirklichkeit passiert.
Wenn Meeresspiegel steigen, müssen Regierungen nun mal fallen,
Es ist halt nicht genug, wenn wir nur die Fäuste ballen.
Und wir Hippies, Freaks, Punks, Ökos und Emanzen,
Unser Nein ist das Ja zum Nichts des Ganzen.
Und wir sind gar nicht mal so wenige, ich bin doch nicht blind,
Doch wir alle müssen zeigen wie eitel wir sind.
Wir sind so zersplittert und in Teile zersprengt,
Ideale zerplatzen bevor es eigentlich anfängt.
Und die Wissenschaftler liegen nachts noch wach
und denken laut über ihre Fehler nach,
Ein paar mutige Kläger gehen durch alle Instanzen
Unser Nein ist das Ja zum Nichts des Ganzen.
Glaubst du auch, dass alles sinnlos ist?
Dass sich jeder selbst der Nächste ist?
Wir sind geboren um nur zu nehmen?
Dann geh aus meinem Leben.
Und sie reden auf dich ein, beginn zuerst einmal bei dir.
Das ist nur der erste Schritt, wir sind nicht alleine hier.
Jeder fühlt sich schuldig und keiner muss bezahlen
Und die Spießer raten jedem: "Wartet bis zu den Wahlen".
Und alle suchen eifrig, wo der blaue "Teufel" steckt,
Hausfrauen werden zu Helden, diese Welt sie verreckt
Wie können wir alle schlafen, unsere Betten stehen in Flammen,
Jeder für sich und in den Abgrund zusammen.
Diese Welt allein zu retten, hat noch niemand hier geschafft,
In den Vorstandsetagen wird weiter gerafft.
Und wir schreien gegen Mauern, das dürfen wir nicht,
Wenn aus allen unseren Worten Verzweiflung spricht.
Wenn Meeresspiegel steigen, müssen Regierungen nun mal fallen,
Es ist halt nicht genug, wenn wir nur die Fäuste ballen.
Und wir Hippies, Freaks, Punks, Ökos und Emanzen,
Unser Nein ist das Ja zum Nichts des Ganzen
Glaubst du auch, dass alles sinnlos ist?
Dass sich jeder selbst der Nächste ist?
Wir sind geboren um nur zu nehmen?
Dann geh aus meinem Leben.
Dann geh, geh, geh, geh aus meinem Leben!
Dann geh, geh, geh, geh aus meinem Leben!
Verpiss dich, verpiss dich!
Nicht alles mitmachen und nicht mit der Masse mitmarschieren, nur, weil es von dir erwartet wird. Nicht in den Spielmannszug eintreten und nicht zur Bundeswehr wie mein großer Bruder, weil ich es wie Alfred Einstein halte:
„Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“
In einer Kleinstadt wie Wildeshausen, wo Tradition und Heimatpflege (sic!) großgeschrieben wird, wo die Teilnahme und Mitgliedschaft beim Schützenfest und Spielmannszug Grundvoraussetzung
gesellschaftlicher Teilhabe und Akzeptanz ist, war mir dieses Treiben immer schon suspekt. Bereits als Jugendlicher wurde mir als Zaungast der Eindruck vermittelt, dass zumeist männliche
Sauftrupps für einige Tage ihre Berechtigung zum Saufen und Kotzen in der Öffentlichkeit bekommen. Einen Freifahrtschein für einen hemmungslosen Alkoholkonsum, der – verknüpft an Tradition und
Heimatpflege – seit Jahrhunderten schon in der Agenda der Volksfeste (sic!) festgeschrieben ist:
„Die fünfte Jahreszeit ruft zum Gildefest in Wildeshausen auf den Marktplatz. Das Fest wird dank seiner alten und geliebten Tradition wieder tausende Besucher in seinen Bann ziehen. Festzelt
und Marktplatz füllen sich mehrere Tage mit Leben und lassen mit Musik, Getränken und Gaumenschmaus das Gildefest zum Highlight des Jahres in Wildeshausen werden. Auch Fanfarenzüge und Paraden
dürfen bei einer solchen Veranstaltung nicht fehlen. Sie huldigen dem neugewählten König. Ein Fest ganz nach Motto der Stadt: ‚Ein Wildeshauser hat immer eine Tagesration Tradition im
Rucksack‘.“ (© FuM)
Diese Tradition schließt Frauen* aus, denn in Wildeshausen sind und dürfen nur Männer in der sogenannten Schützengilde Mitglied sein und werden. Frauen* dürfen allenthalben die sogenannten Kompanien bewirten oder haben als des Schützenkönigs Frau keinerlei Rechte, außer die Repräsentations-Aufgabe, sich an die Seite des Mannes zu stellen, zu winken und zu lächeln. Darüber hinaus kann in Wildeshausen auch niemals eine Frau Bürgermeisterin werden, weil der Bürgermeister auch zugleich der General der Gilde ist, wo Frauen* ausgeschlossenen sind.
In den Statuten zur Wildeshauer Schützengilde heißt es:
„Neben dem Gildefest verbindet Gilde und Stadt aber auch eine weitere traditionelle Veranstaltung, das Schaffermahl. Hierbei handelt es sich um ein Heringsessen mit anschließendem Tabakskollegium, welches seit 1978 - nach über dreieinhalb Jahrhunderten – wieder jährlich veranstaltet wird. Ständige Teilnehmer dieses Ereignisses sind die Mitglieder des Rates der Stadt sowie die Mitglieder des Offizierskorps. Hinzu kommen jährlich wechselnde Gäste aus dem öffentlichen Leben, Wirtschaft und Gilde. Die Einladung zum Schaffermahl spricht der ‚Chef des Protokolls‘ nach Absprache mit dem Oberst und dem Bürgermeister, der Kraft Amtes gleichzeitig auch General der Gilde ist, aus.“ Was hier nicht erwähnt wird, dass Frauen von alledem ausgeschlossen sind und immer noch werden, ihnen also die Teilhabe am Schaffermahl, in der Gilde und die Bürgermeisterei aberkannt wird. 1981 hat es tatsächlich eine Wildeshausener Bürgerin gewagt, sich für die Bürgermeisterei zu bewerben, was ein hitzige öffentliche Debatte auslöste. In der Lokalzeitung vom 31. Mai 2013 hieß es: „Linken-Ratsfrau Kreszentia Flauger hat ihn noch gut in Erinnerung, den ersten und bislang einzigen Versuch einer Frau – Hildegard Bohnes – 1981 in Wildeshausen Bürgermeisterin zu werden(...)Bislang war nämlich stets der Bürgermeister zugleich Gildegeneral. Deshalb stellte Flauger in der Sitzung des Ausschusses für Stadtplanung, Bau und Umwelt den Antrag, der Rat möge ausdrücklich Frauen ermuntern, sich im kommenden Jahr für das Bürgermeisteramt zu bewerben. Damit stieß sie jedoch bei den anwesenden Ratsherren auf totales Unverständnis. Von „populistisch“ (Heiner Spille) über „völlig überflüssig“ (Christoph Wach, Wolfgang Sasse), bis zu „eine Beleidigung für alle Frauen“ (Thomas Harms) reichten die Kommentare. Es sei im Kommunalverfassungsgesetz ganz klar geregelt, dass Frauen und Männer sich gleichermaßen für das Bürgermeisteramt bewerben könnten. Werde eine Frau in Wildeshausen Bürgermeister, müsste man eben einen ihrer Vertreter zum General ernennen.“
Nun soll es hier nicht um Wildeshauser Traditionspflege gehen, sondern um meine angeeignete und erlernte Anti-Haltung, die aber auch aufgrund dieser Traditionen zustande gekommen ist. So war mir relativ früh klar, dass ich den Kriegsdienst verweigern und einen Zivildienst machen würde. Hieran warn auch Songtexte diverser Punkbands hilfreich und verantwortlich:
SLIME – Bundeswehr
Du hast 'ne hübsche grüne Uniform
Du tust nichts außerhalb der Norm
Du hast dich ganz gut angepasst
Denn sonst gehst du auch gleich in'n Knast
Du sollst töten lernen für's Vaterland
Doch Vaterland ist abgebrannt
Bevor du einen abknallen kannst
Hat der Feind es schon zerstört
Links 2 3 Links 2 3
Marschiert, Soldaten, marschiert
Ob ihr da seid oder nicht
Euer Scheiß-Vaterland ist als erstes im Arsch
Wenn der Krieg ausbricht
Eine eigene Meinung hast du nicht
Du tust am liebsten deine Pflicht
Das Hirn voll Scheiße, in der Hand das Gewehr
Ja, das ist die Bundeswehr
Ein frühes klares „Nein“ um nicht in „gesellige“ Traditionsvereine Mitglied zu werden.
„Wer schreit wieder nach alten Traditionen? Zapfenstreich im Fackellicht. Sie sind so geil auf Traditionen, denn deutsch ist gut und Pflicht ist Pflicht(…)“; Middle Class Fantasies
Und eine klare Anti-Haltung gegen Männer- oder Herrentage, die am sogenannten „Vatertag“ in Gruppen saufend, grölend umherziehen. Hierbei werden Geschlechterrollenklischees aufrechterhalten und Männlichkeitsideale über alle moralischen Grenzen hinweg bis zu sexistischen und sexuellen Übergriffen zelebriert. Eine dieser Übergriffe erlebte ich als Fahrgast der Nordwestbahn zur Zeit des sogenannten „Stoppelmarkts“, ein Volksfest in Vechta, das als eines der ältesten Jahrmärkte Deutschlands gilt. Bereits beim Einsteigen des 20 Uhr-Zuges gen Bremen-Neustadt stieg mir ein Geruch aus Schnaps, Bier und Zigaretten in die Nase, als die ersten desorientierten männlichen Gäste ausgestiegen waren, die die vermutlich dieses Volksfest besucht hatten. Ich zwängte mich vorbei an herumstehenden Gestalten, die sichtlich betrunken und nicht mehr imstande waren, deutlich zu artikulieren, sich eher grölend, prustend und grunzend „unterhielten“. Als ich einen freien Platz auf einem 2er-Sitz ergatterte, hörte ich bereits 2 Reihen vor mir einige junge Männer lauthals sexistisch anzügliche Sprüche von sich geben.
Ich hatte mich gerade hingesetzt, als ich umgehend schon wieder aufstand und im Stehen erkannte, dass die sexistischen Sprüche und Sätze hauptsächlich von einem jungen Mann kamen, während seine
Kumpels diese abwechselnd lauthals lachend und feixend kommentierten. Ich erkannte beim Aufstehen zudem, dass der Mann seinen Kopf in Richtung einer verschüchterten jungen Frau drehte, die im
Gang neben ihm auf einen voll belegten 4er-Sitz saß und die Sprüche ihr galten. Ich erkannte auch aus dem Augenwinkel heraus, dass mit mir ein weiterer Mann sich auf den Sitz erhob und mich
augenscheinlich begleitete, sich zuvor wohl nicht traute, nun aber bereit war, mich dabei zu unterstützen, sich einzumischen. Ich stand nun über den Typen gebeugt und es folgte eine Ansage,
umgehend mit dem sexistischen Scheiß aufzuhören, und damit, die Frau zu belästigen, andernfalls würde ich ihn an der nächsten Haltestation aus dem Abteil nach draußen befördern. Er war sehr
beeindruckt und kleinlaut, wurde bei jedem weiteren Versuch, mich zu attackieren von seinen Kumpels zu zurückgehalten. Ich fragte die junge Frau, die in Begleitung von 2 Bekannten war, ob es in
Ordnung sei, wenn ich hier im Gang stehenbleiben und notfalls eingreifen würde, sollte der Typ sie nochmals belästigen, was sie bejahte. Der Mann hinter mir, der mich begleitet und moralisch
unterstützt hatte, ging daraufhin wieder auf seinen Platz zurück. Beim übernächsten Halt ist die Frau mit ihren männlichen Begleitern ausgestiegen und hat sich im Vorbeigehen bedankt. Ich kann
mir gar nicht vorstellen, wie bedrohlich die Situation für die Frau sein musste, Umringt von betrunken Männern belästigt und sexistisch beleidigt worden zu sein. Ich kann mir aber sehr wohl
vorstellen, wie ohnmächtig sie sich gefühlt haben muss, im Wissen, dass sich keine*r einmischt und dem Treiben ein Ende zu setzen. Situationen wie diese habe ich noch des Öfteren während der
Zugfahrt erlebt, aber niemals geduldet.
Ein solidarisches „Nein!“ gegen Gewalt an Frauen und von Sexismus betroffenen Frauen* war und ist in diesen Situationen eine klare Verurteilung der Gewalt und eine solidarische Haltung
zugleich.
Meine Anti-Haltung ist also auch ein Stück weit Unterstützung und nicht länger nur ein allgemeingültiger Slogan, sondern ein alltagstauglicher widerständiger Akt, Gewalt gegen Menschen und andere
Tiere zu erkennen und sich einzumischen. Täter*innen tragen die alleinige Verantwortung, nicht die von Gewalt betroffenen.
Und so bin ich heute aufmerksamer und reagiere sensibler und solidarischer denn je.