Fast 20 Jahre im Geschäft und doch alles neu: Die kanadischen Hardcore-Legenden Cancer Bats mischen auf ihrem siebten Studioalbum die Karten noch einmal durch und gelangen dabei zu einer mitreißenden Platte, die Aufbruchsstimmung vermittelt und dabei trotzdem nicht vergisst, wo sie herkommt.
„Psychic Jailbreak“ ist das erste Werk, das die Band ohne ihren Gitarristen Scott Middleton geschrieben hat. Sie sprüht voller wütender Energie und entwickelt sich zu einem thematisch wie
musikalisch außerordentlich vielgestaltigen Projekt. Der ungestüme Sound von Every Time I Die, der rohe Anarchismus von Clowns, die endlose Kreativität von Underoath – Cancer Bats haben auf ihrer
neuen Platte einen Sound gefunden, der zeigt, was Hardcore im Jahr 2022 alles kann.
Die Vorgeschichte zum neuen Cancer-Bats-Album ist nicht gerade die einfachste. 2021 entschließt sich Gitarrist Scott Middleton, der die Band im Jahr 2004 einst mitgegründet hatte, aus dem Projekt
auszusteigen und sich auf seine Familie und seine Gesundheit zu konzentrieren. Für Cancer Bats bedeutet dieser Abgang eine deutliche Zäsur – schließlich war Middleton bisher am Schreibprozess
jedes einzelnen Albums beteiligt. „Wir wussten, dass diese Platte etwas Besonderes sein musste“, kommentiert Frontmann Liam Cornier die Initialzündung der Platte. „In den 15 Jahren, in denen wir
Alben veröffentlicht haben, haben wir immer zu viert gearbeitet und alle gemeinsam musikalische Ideen entwickelt. Die drei verbliebenen Bats mussten sich auf diesem Album also beweisen. Wir
wollten den Fans zeigen, dass für uns alle eine aufregende Zukunft bevorsteht. Es stand viel auf dem Spiel: Wir alle fühlten eine Mischung aus Aufregung und Nervosität, als wir mit den Aufnahmen
zu den elf Songs begannen, die dieses Album ausmachen sollten.“
Die Aufgabe der Neuorientierung wird für Cancer Bats besonders groß, weil sie sie von einem Höhepunkt ihrer Karriere beginnt. Das bisher letzte Album der Band – das 2018 veröffentlichte „The Spark That Moves“ – war ein großer kommerzieller Erfolg und wurde von Kritikern wie Fans gleichermaßen geliebt. Cancer Bats spielten mit dieser Platte im Gepäck ausverkaufte Shows auf der ganzen Welt und machten Clubs in Kanada, Großbritannien, Europa und sogar Australien voll. Seit Jahren hatte die Band nicht mehr so viele Shows und Festivals gespielt, die Messlatte für „Psychic Jailbreak“ lag auf einem ganz neuen Level. Umgesetzt hat die Gruppe ihr neues Projekt schließlich gemeinsam mit Produzent John Paul Peters aus dem Private Ear Studio in Winnipeg. Peters hat in seiner Karriere schon mit Größen wie Propagandhi oder Comeback Kid zusammengearbeitet und versteht genau, was Hardcore braucht.
„Im Laufe der Wochen sahen wir, wie sich unsere groben Ideen von Garage-Band-Demos zu donnernden Cancer-Bats-Songs zusammenfügten“, erinnert sich Cornier. „Mit großem Erstaunen hörten wir uns an, was wir da gerade aufgenommen hatten. Es übertraf unsere Erwartungen. Jeder Song gewann eine Eigendynamik und wir konnten es kaum erwarten, diese mit der Welt zu teilen.“ Was Cornier hier beschreibt, kann jeder fühlen, der „Psychich Jailbreak“ über sich hereinbrechen lässt. Schon der erbarmungslose Opener „Radiate“ macht keine Gefangenen und donnert mit voller Soundgewalt über die Hörerschaft hinweg. Cancer Bats gelingt dabei der unvergleichliche Spagat, unnachahmlich viel Präzision in der Melodik zu beweisen und gleichzeitig nicht eine Spur an Härte zu verlieren. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet Corniers kraftvoller Gesang, den die Band auch um neue Farben zu ergänzen weiß – etwa in „Hammering On“, in dem die Folk-Songwriterin Brooklyn Doran als Gaststimme zu hören ist.
Cancer Bats gelangen so schließlich zu einem Album, das all die Ungewissheiten der letzten Jahre in sich aufsaugt und in etwas Großartiges, Neues verwandelt. Das zeigt sich auch in den Songtexten, in denen die Band ein breites thematisches Feld aufmacht. „Friday Night“ ist inspiriert von Aktivismus und Demonstrationen, die auf der ganzen Welt stattfinden. „Crocodiles“ wiederum ist weniger weltumspannend und im Gegenteil sehr intim und persönlich. Cancer Bats machen sich hier Gedanken über den Kontaktverlust zu Menschen, die man beim Älterwerden aus den Augen verliert. Alles auf „Psychic Jailbreak“ schreit schließlich aber vor allem danach, wieder auf die Bühne zurückzukehren. Für diese Mission hat die Gruppe den freigewordenen Platz an der Gitarre nicht durch eine, sondern gleich durch zwei Personen ersetzt. Hinzugestoßen sind Nick Sherman, der die Band bereits bei akustischen Neuinterpretationen ihrer Songs begleitet hatte, und Stevis Harrison, der schon bei Fever 333 gespielt hatte. Mit dieser doppelten Gitarrenpower und einem Album wie „Psychic Jailbreak“ im Rücken ist die Stoßrichtung eindeutig: Für Cancer Bats hat ein ganz neues Kapitel begonnen!