Es heißt, dass je älter man wird, eine zunehmende innere Balance sich einstellt und ausgeglichener wird. Hierzu gibt es psychologische Studien/Perspektiven, die belegen, dass sich Menschen auch dessen bewusst werden, dass es in vielen Fällen nicht auf eine besondere Beschaffenheit der Umwelt, auf das Vorhandensein wertvoller Ressourcen ankommt, sondern dass Erfüllung und Wohlbefinden auch durch innere Strategien erreicht werden (können).
Nun, es trifft bei mir zumindest in vielen Situationen zu. Da lächele ich weg, was mich früher „auf die Palme“ brachte. Es kann natürlich auch sein, dass mit vieles egal geworden ist und sich
eine achzelzuckende Gleichgültigkeit eingestellt hat. Eine andere Strategie als die der Suche nach neuen Zielen und Ressourcen in der Umwelt ist eine Umorientierung auf „geistig-seelische“
Ressourcen. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich in Situationen, in denen ich Ungerechtigkeit empfinde, wie das kleine HB-Männchen Bruno aus der Werbung1 an die Decke springe. Ich mache dann meinen Mund auf und konfrontiere mein Umfeld mit Hasstiraden, ironischen Anspielungen, zynischen -kommentaren, kurzum: pädagogische
Maßnahmen...ihr wisst schon. So was wie früher in der Klasse: 4-Augen-Gespräche, Ermahnungen, Klassenbucheinträge, schriftliche Mitteilungen an die Eltern. Bei mir geht es allerdings gleich ins
Eingemachte. Die schriftlichen Mitteilungen an die Eltern fallen ganz weg. Es geht vis-a-vis um ‚verschärfte Maßnahmen‘, die ein nicht zu verleugnendes aggressives Verhalten in Stimme und
körperliches Auftreten meinerseits zeigen. Heute Morgen gab es gleich wieder mehrere solche notwendig gewordenen Verhaltensweisen bzw. Pädagogischen Maßnahmen aus dem breit gefächerten Katalog,
die sich allesamt im ÖPNV zugetragen haben. Mit dem Erwerb des sogenannten „9-Euro-Tickets“ ist ein enormer Zuwachs an Fahrgästen auf der RB 85 zu beobachten, meine „Auf dem Weg zur Arbeit und
nach Hause“-Strecke von Wildeshausen nach Bremen-Neustadt, auf der ich bereits folgende Untugenden beobachten konnte: Zugreisende, die sich in die geöffnete Tür reindrängeln, obwohl noch nicht
alle Fahrgäste ausgestiegen sind; die eine Maske tragen, die wahlweise an einem Ohr, unterm Kinn, auf der Stirn hängt oder gar nicht existiert. Gerade am Wochenende mischen sich diese Untugenden
mit Verhaltensweisen, die mich dazu veranlassen, verbal einzuschreiten. Als ich heute Morgen um 7 Uhr 30 den einfahrenden Zug bestieg, war ich doch ob der Frequentierung sehr überrascht und
musste mir den Weg auf einen freien Sitz durch schon/noch betrunkene und im Gang herumstehende Fahrgäste - die sich freiwillig nicht einen Millimeter von ihrem Recht auf „Mein Platz-mein Revier“
bewegten, um Platz zu machen - bahnen, was einem anspruchsvollen Zirkeltraining als eine effiziente Kombination aus Kraftaufbau und Fettverbrennung mit kurzen Pausen glich. Nach Metern der
Sondierung habe ich neben einem offenbar noch nicht ausgenüchterten Fahrgast, der in den Seilen hing, Platz gefunden, ihn zuvor mit den Worten aufforderte „Tasche weg, Platz machen“ einen Platz
bekommen, um zugleich Zeuge folgender Unterhaltung zu werden:
‚Kevin‘2: „Ohh, nee, dieses Kind“! Der etwa 17-jährige Typ schlug seine Hände vors Gesicht und bezog sich mit der abwertenden Äußerung
auf ein in der sich Nähe befindendes Kind in einem Kinderwagen liegend, das seiner natürlichen und altersgerechten Artikulierung nachkam wie Schnarchen, Grunzen, quietschen im Schlaf und
schnattern. „Ich bin ja kinderlieb, aber…“ (es folgten negative Fremd-Definitionen von gemachten Begegnungen, in denen ‚Kevin‘ genervt von diesen ansonsten recht „niedlichen“, „süßen“ ‚Dingern‘
war. Mit seinen Kommentaren erhielt er sogar Zustimmung von der Sitznachbarin gegenüber gleichen Alters und offenbar Mitreisende einer 4er-Gruppe. Ich blickte ihn mahnend an und äußerte: „Du bist
nicht kinderlieb! Du bist der Erste, der unschuldige Babys gegen die Wand wirft, wenn du von ihren Schreien genervt bist!“ Zack, daraufhin schauten mindestens 16 Augenpaare auf einmal in meine
Richtung. Ich ignorierte das und las weiter in der Zeitung.
Immer wieder gingen Fahrgäste im Gang hin und her und mussten sich einen Weg um einen im Gang stehenden großen Reiserucksack bahnen, der dem Fahrgast vor mir sitzend gehörte. Genervt tippte ich
dem Kollegen auf die Schulter und sagte mit dezent drohendem Unterton: „Passt der oben nicht in die Ablage?“ und stieß demonstrativ mit einem Fuß gegen die Tasche. „Ja, doch“, sagt er kleinlaut
und kam meiner Aufforderung nach, was seinem Kumpel neben ihn sitzend mit einem Kichern kommentierte. Nach einer 30-minütigen anstrengenden Fahrt am Reiseziel angekommen, blockierten 5 Fahrgäste
die Tür, ohne Anstalten zu machen, ihre Position freiwillig aufzugeben. „Kann da vorne mal jemand den Türöffner betätigen und drücken?“ brüllte ich nach vorne, worauf einer der Fahrgäste, ohne
ein Wort zu sagen, meiner Bitte nachkam und sich die Tür öffnete. Ich schob 3 vor mir stehende Fahrgäste mit ausgebreiteten Armen energisch nach draußen, schubste sie noch ein paar Meter vor mir
her, als die Tür sich wieder automatisch verschloss, der Zug sich unmittelbar in Bewegung setze und langsam anfuhr. Ich hörte noch hinter mir ein eindringliches Klopfen gegen die Tür, ein
verzweifeltes Rufen wie „Halt, stehen bleiben!“, was nicht von Erfolg gekrönt war.
Für einige mag mein Verhalten ein gewisses Maß an Spießigkeit, Dreistigkeit oder „oberlehrerhaftes Gehabe“ bedeuten. Für mich ist es die pure Genugtuung, die mir durchaus die eingangs erwähnte Erfüllung und das Wohlbefinden durch innere Strategien gebracht hat.
Fußnoten:
1. Über 400 Spots zwischen 1957 bis 1984 mit ‚Bruno‘ machten die HB zur bekanntesten Zigaretten-Marke Deutschlands und den Slogan „wer wird denn gleich in die Luft gehen“ zu einem geflügelten Wort. ↩
2. Der Typ hieß bestimmt so, kann aber auch meiner Vorstellung eines Kevins entsprechen ↩