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Cripple Punk

Tyler Trewhella
Tyler Trewhella

Cripple Punk, wörtlich „Krüppelpunk“, ist eine soziale Bewegung, die ins Leben gerufen wurde, um unterschiedliche Darstellungen von Menschen mit Behinderungen sichtbar zu machen, die sich nicht nur auf ihrer Beeinträchtigung beziehen.

    Als Tyler Trewhella 2014 ein Profil auf Tumblr eröffnete und ein Foto von sich vor einem Diner postete, hatte sie keine Ahnung, dass dieses Bild ihr Vermächtnis werden würde. Das Foto zeigt sie mit einem Stock in der Hand und einer Zigarette im Mund, bekleidet mit Boots, einer Jeansjacke mit Buttons/Patches und einem Hut mit Ohrenklappen. Auf einem kleinen Banner über dem Bild sollte ursprünglich „Diner Punk“ stehen, aber sie beschloss, es in„Krüppel-Punk“ zu ändern.

Mit einem Augenzwinkern betitelte sie den Beitrag mit „I'm starting a movement“.
Das Posting zog eine Flut von Hassmails nach sich. Die Reaktionen der zumeist nichtbehinderten Nutzer*innen waren ein perfektes Beispiel für Behindertenfeindlichkeit. Die anonymen Kommentator*innen waren der Ansicht, sie hätten das Recht, Tylers Rauchen mit der Behinderung in Verbindung zu bringen und verurteilten sie entsprechend. So erhielt Tyler eine Reihe von Nachrichten, in denen behauptet wurde, dass, wenn Tyler „nicht rauchen würde, [sie] den Geh-Stock nicht brauchen würde“; dass eine Behinderung nichts sei, worauf man stolz sein könne, oder dass eine Bewegung, die „gesunde Menschen ausschließt“, kein Punk sei. Trewhella machte Screenshots von den Nachrichten, fügte sie dem Beitrag hinzu und schrieb: „Deshalb brauchen wir Cripple Punk“. Andere Menschen mit Behinderungen begannen, den Beitrag zu rebloggen, ihre eigenen Selfies hinzuzufügen und die Beiträge mit Cripple Punk zu markieren. Zu Trewhellas Überraschung war plötzlich eine Bewegung geboren.
Als Tyler erkannte, dass sie die Leitfigur dieser neuen Bewegung war, stellte sie ein paar Regeln und Grundsätze auf:


„Krüppelpunk ist ausschließlich von körperlich Behinderten für körperlich Behinderte“, schrieb sie. „Krüppelpunk lehnt den Mythos vom ‚guten Krüppel‘ ab. Krüppelpunk ist für den verbitterten Krüppel, den uninspirierten Krüppel, den rauchenden Krüppel, den trinkenden Krüppel, den süchtigen Krüppel, den Krüppel, der/die nicht ‚alles ausprobiert‘ hat [...] Krüppelpunk ist kein*e Bittsteller*in für die Nichtbehinderten.“


Im Gegensatz zu den üblichen inspirierenden Darstellungen von Behinderung erlaubte diese Etikette behinderten Menschen, bitter, chaotisch und ehrlich zu sein.
Die Fragebox in Tyler Trewhellas Blog wurde zu einem öffentlichen Forum, in dem die Menschen ebenso oft Witze machten, wie sie Rat suchten.
Tyler starb 2017, ein Verlust sowohl für alle selbsternannte Cripple Punks als auch für die Behinderten-Community. Aber die Bewegung/Community ist immer noch lebendig. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass einige Menschen immer noch stolz den Namen Cripple Punk tragen, sondern auch aufgrund der Art und Weise, wie Menschen mit Behinderungen in den Jahren seither online über sich selbst gesprochen haben.
Auch das Recht, Mobilitätshilfen ohne Scham zu benutzen und sie als Teil des Selbst und der eigenen Identität zu betrachten, wird betont. Cripple Punk bekämpft den verinnerlichten Validismus und unterstützt voll und ganz diejenigen, die damit für ihre Rechte einstehen und für diese Rechte kämpfen.

Cripple Punk entstand als natürlicher Nebeneffekt der jahrzehntelangen Behindertenarbeit und des Behindertenaktivismus. Das Ethos des Cripple Punk ist jedem/jeder vertraut, der/die die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung verfolgt hat oder mit der Arbeit von „Krüppeltheoretiker*innen“ in Berührung gekommen ist.
Auch in Deutschland bildeten sich Mitte der 1977er Jahr eigens sogenannte „Krüppelgruppen“.1
Anstatt in Lehrbücher verbannt zu werden, erreichte die Krüppelpunk-Philosofie junge Menschen in einem vertrauten Umfeld und in einer leicht verständlichen Sprache. Für eine Reihe behinderter junger Menschen, die einen Großteil ihrer Zeit online verbrachten, eröffneten Accounts wie der von Tyler Trewhella neue Möglichkeiten zum Erlernen/Aneignen von Behindertenaktivismus.

Das Internet hat mehr Möglichkeiten für Interessenvertretung und Aktivismus geschaffen, von behindertengerechten Blogs, die lange vor dem Cripple Punk entstanden, bis hin zu Tags wie #CripTheVote und #HighRiskCovid19.
Punkshows werden oft mit den Richtlinien ‚kein rassistisches, klassifiziertes, sexistisches, homophobes oder transphobes Verhalten‘ am unteren Rand der Showplakate oder Facebook-Einladungen beworben, und dennoch wird selten auf die Behindertenfeindlichkeit innerhalb der Community eingegangen. Körperlich Behinderte können nicht immer an einem Moshpit teilnehmen, weil sie Gefahr laufen, alte Verletzungen zu verstärken oder neue zu verursachen. Es kann sein, dass es keinen Platz gibt, an dem man sitzen und die Band sehen kann, und bei kleineren DIY-Kellershows fehlen oft Rampen oder Treppenaufzüge.

Die Teilhabe an einem kulturellen Leben ist, der Behindertenrechtskonvention2 der vereinten Nationen (UN-BRK) zufolge, ein Grundrecht aller Menschen, die mit Beeinträchtigungen in jeglichen Formen zu kämpfen haben.
Eine barrierefreie Veranstaltung ist als ein ganzheitliches Konzept zu verstehen. Dies beginnt bei der barrierefreien Informations-Beschaffung durch Internetseiten, Flyer oder Zeitungsartikel. Hier gilt, dass die Informationen für alle Menschen gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden sollten. Im konkreten bedeutet dies, dass beispielsweise eine Internetseite über Inhalte mit einfach formulierter Sprache verfügen sollte, um Menschen mit geistigen Einschränkungen Informationen über die Veranstaltung liefern zu können.

Fußnoten:

1. Krüppelgruppen, gegründet von der Krüppelbewegung (neue Generation der Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren), erstmals 1977 in Bremen (von Horst Frehe und Franz Christoph), weitere Krüppelgruppen in Hamburg, Marburg (Krüppelinitiative Marburg, KRIM, Anfang der 1980er Jahre) und München, offensive Verwendung des veralteten Begriffs „Krüppel“ als provokanter Hinweis auf die anhaltende Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung als Mitleidsobjekte, reine Betroffenen-Gruppen (ohne nichtbehinderte Funktionär*innen oder Unterstützer*innen) nach dem Vorbild der Frauengruppen, Entwicklung des „Krüppelstandpunkts“, politisches Selbstverständnis von „Behinderung“, gegen Bevormundung und Normalitätserwartungen der Gesellschaft, Initiierung spektakulärer und provokanter Protestaktionen, Herausgabe der „Krüppelzeitung – von Krüppel für Krüppel“ 1979-1985.

2. http://www.behindertenrechtskonvention.info/teilnahme-am-kulturellen-leben-3939/