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Die Macht der Gewohnheit

Was waren das für skurrile Szenen, die sich während der Corona-Pandemie abspielten. Der Mensch entpuppte sich als unberechenbares Wesen, das urplötzlich charakteristische Züge entwickelte, die vorher nicht vorhanden/sichtbar waren. Eben noch nett und freundlich, dann rücksichtslos und aggressiv wie ein Berserker, wutschnaubend wie Rumpelstilzchen, dem die angehende Prinzessin sein geheimnisvoller Name entlocken konnte. Vom Hörensagen natürlich. Und vom Hörensagen war mit ein entscheidender Faktor, während der Pandemie an Alltagsgegenstände wie Klopapier zu gelangen.

Da hörte ich von Geschichten, wo LKWs angehalten und ausgeraubt wurden, weil diese eine Ladung Klopapier enthielt. Selbst ich geriet in eine höchst sonderbare Situation, die einem Mix aus Sci-Fi, (Real)Satire und Sesamstraße glich. Ich brauchte tatsächlich Nachschub des Scheißhaus-Papiers und fuhr in die Stadt, um in der lokalen Drogeriekette eine Packung 5-lagiges Toilettenpapier zu kaufen. Nicht auf Vorrat, sondern aus der Not heraus. Doch vor Ort war bereits alles leer gekauft. Die Regale leer. Das wiederholte sich in zwei weiteren Discountern und Supermärkten. Meine letzte Bastion war der ALDI-Markt. Doch auch hier das gleiche Bild. Auf dem Weg in den ALDI-Markt entgegnete ich noch eine Frau, die in ihrem Einkaufswagen das wertvollste Gut transportierte, erhobenen Hauptes und mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht. Das sollte eigentlich ein Zeichen sein. Im Laden selbst bin ich gleich zum Marktleiter, um ihn auf das WC-Papier anzusprechen. Ich werde nie vergessen, wie er sich nach allen Seiten umdreht und dann wie Schlemihl aus der Sesamstraße oder einem Drogendealer in einer finsteren Seitengasse mit vorgehaltener Hand und mit leiser Stimme zu mir sprach: „Kommen Sie am Mittwochvormittag. Nein, besser am Mittag wieder vorbei. Dann kriegen wir neue Ware!“
Und heute? Alles vergessen, alles vorbei. Irgendwie. Ich gehe auf Konzerte, ich fahre mit der Bahn, ich gehe einkaufen. Alles ohne Maske, alles so, als gebe es das Virus nicht mehr. Ich nehme Menschen in den Arm, drücke sie herzlich, halte keinen Abstand mehr. Vor einem Jahr wäre ich in all diesen Punkten nicht nur angeklagt worden, ich hätte um mein Leben fürchten müssen, hätte Hausverbot bekommen und mir mein Klopapier selber herstellen müssen. Aus Reiswaffeln, mit Ahornsirup und Rosenwasser. Tolles Rezept, muss ich mir noch patentieren lassen. Was ich aber auch nie vergessen werde, sind die Bilder der Toten. Bilder, wo Särge auf der Straße stehen und vor dem Bestattungsunternehmen, die einfach keinen Platz mehr haben. Militärkonvoi mit Leichentransport in Bergamo. Und Menschen, die alleine in der Isolation gestorben sind. Krematorien im Hochbetrieb, stapelnde Särge. Und doch ist das Virus natürlich nicht weg. Aber, es fühlt sich alles anders an. Ich fühle mich sicher und alles scheint wieder normal wie vor der Pandemie. Einfach wieder rausgehen, als wäre alles normal? Kontakt zu fremden Menschen haben, Bus oder Bahn fahren? Diese Vorstellung scheint für manche Menschen ein wahrer Albtraum zu sein. Die Angst, wieder in das frühere Leben vor der Corona-Pandemie zurückzukehren, bezeichnet man als sogenanntes „Cave Syndrome“ (auf deutsch „Höhlensyndrom“). Dabei haben Betroffene Probleme damit, sich an die neuen Freiheiten anzupassen, nehmen die wiedergekehrte Normalität als etwas „Fremdes“ wahr und schotten sich ab – wie in einer „Höhle“. Die Schattenseiten der Pandemie sind für viele allgegenwärtig (Long CovidPatient*innen). Und vieles hängt wieder mal mit der Gewohnheit zusammen. Die Macht der Gewohnheit ist, sich schwer damit zu tun, sich etwas wieder abzugewöhnen. Neue Gewohnheiten, die seltsam vertraut wurden, wieder abzulegen und lieber freiwillig den Rückzug in die Isolation anzutreten. „In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.“ Der Zukunftsforscher und Autor Matthias Horx hat mit seinem Blogartikel „Die Welt nach Corona“ einen viralen Hit gelandet. Vielleicht liegt es daran, dass er zu denjenigen gehört, die unsere Zukunft nach der Corona-Krise optimistisch sehen. Seine Prognose lautet: Wir lernen etwas aus dieser Krise und verändern uns und die Welt zum Positiven. Dem schließe ich mich an. Also legt einen großen oder kleinen Gemüsegarten an, denn das Anlegen eines Indoor/Outdoor-Gartens bedeutet nicht nur Arbeit, sondern man kann Gemüse, Kräuter, Obst und Wohlbefinden ernten. Bleibt gesund!