Es liegt vermutlich in der Sache der Natur. Grenzen ausloten, Grenzen überschreiten und den Reiz des Verbotenen auskosten. Wenn man der Bibel glauben kann, es auch Adam und Eva getan haben, die den Apfel aßen, obwohl Gott es ihnen verboten hatte. Nun, wie wir wissen, haben alle Entscheidungen auch Reaktionen, Konsequenzen und Sanktionen zur folge. Um beim biblischen Vergleich zu bleiben: Gott schickte Adam und Eva aus dem irdischen Paradies fort und verdammte sie und alle ihre Nachkommen zu Schmerz und Tod.
Als Kind will man eigentlich immer all das, was die Eltern verbieten, irgendwann mal ausprobieren. Da ist es keine böse Schlange, die dich wie bei Adam und Eva verführt, etwas Ungehorsames zu
machen, sondern nach Freud das ÜBER-Ich, mit dem du in Konflikt gerätst. „Tu ich’s oder schaffe ich’s nicht“. Je mehr Verbote, desto reizvoller, desto anziehender. „Rasen betreten verboten“,
„Klettern verboten“, „Grundstück betreten verboten“. Mein schönstes Kuss-Erlebnis hatte ich mit Astrid im unfertigen Schwimmbad einer neu gebauten Villa im Rohbau und überall Anzeichen, dieses
Grundstück sei einer der gefährlichsten Orte auf der Welt und bei jedem Schritt auf dem Grundstück könnte eine Tretmine explodieren oder schlimmer noch, die Eigentümer mit geladener Schrotflinte
auftauchen und wie in Amerika einfach und ohne zu fragen drauf losballern. Nun, heute bin ich mit Astrid nicht mehr zusammen, und die Randbedingungen für das Verbotene haben sich mit der Zeit
verändert. In der Videothek einen „Ab 18-Film“ ausleihen, nachts heimlich Erotik-Sendungen wie „Tutti Frutti“ (1990-1993) gucken, bekifft und betrunken nach 22 Uhr nach Hause kommen (oder gar
nicht, sondern erst in den Mittagsstunden). Um Langeweile zu bekämpfen, obsiegt die Neugierde und führt zur Suche nach immer neuen moralischen Grenzen, die angegangen aber nicht gänzlich
verlassen werden. Es galt: Widerstand gegen das Verbot oder Hausarrest als Sanktion. Je nach Betrachtungsweise und Machtposition (Eltern, Lehrer) wurden Rückschlüsse über meinen psychischen
Zustand ermittelt. Während mir die Lehrkörper nach einhelliger Meinung während einer Konferenz „verhaltensgestört“ attestierten, wussten meine Eltern. „Das gibt sich wieder.“ Das Image von
Gruppierungen wie Greenpeace lebt von spektakulären Aktionen, die ihre öffentliche Wirkung häufig erst durch das Überschreiten von Grenzen entfalten können, seien es gesellschaftliche, rechtliche
oder territoriale. Heuer sind es die sogenannte „Letzte Generation“ die das Überschreiten der Grenzen für ihr Image nutzen und mittlerweile kriminalisiert und sanktioniert werden. Derartige
Handlungen werden in der politischen Praxis als „ziviler Ungehorsam“ bezeichnet, der im Kern auf die Änderung einer Unrechtssituation zielt und durch den Verstoß gegen gesellschaftliche Normen
ein höherwertiges Rechtsgut zu schützen sucht.
Nun, was lernen wir daraus: Verbote markieren die Grenzen der Gesellschaft. Die Umgehung des Verbots erhöht die Aufmerksamkeit dieser Gesellschaft. Der Ruhm eines Akteurs hängt sowohl von seiner
künstlerischen Qualität ab als auch von der Quantität seiner Tags. Je unzugänglicher und schwieriger ein Ort zu bemalen ist, desto höher ist das Ansehen innerhalb der Szene. Ein ganzer Zug zählt
mehr als ein Wagon. In Russland ist es seit dem 4. März 2022 verboten, im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine das Wort „Krieg“ zu verwenden. Stattdessen wurde der Begriff „militärischer
Spezialoperation“ eingeführt. Dabei hat Putin selbst in seiner Rede am 21. Februar 2023 das „verbotene Wort“ verwendet und müsste konsequenterweise eigentlich bestraft werden. In seiner rund
zweistündigen Rede zur Lage der Nation behauptete der russische Präsident, der Westen sei es gewesen, der „den Krieg begonnen“ habe. Warum aber ist das Verbotene so anziehend? Letztlich lässt
sich aus jeder Motiviationsquelle auch ein Grund ableiten, etwas Verbotenes zu tun. Aber, um mit Jean Genet zu sprechen, „den Reiz des Verbotenen kann man nur kosten, wenn man es sofort tut.
Morgen ist es vielleicht schon erlaubt.“