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Lutz Schramm - Parocktikum

Lutz Schramm 1990 im Funkhaus-Studio: Fotocredit Boris Claudi
Lutz Schramm 1990 im Funkhaus-Studio: Fotocredit Boris Claudi

„Lass mich mal ein bisschen schräge Musik machen!“
Lutz Schramm moderierte die Radiosendung „Parocktikum“ von 1986 bis 1993. Anfangs auf dem DDR-Jugendradio DT-64 und später auf Rockradio B. In der Sendung lief u. a. auch avantgardistische Musik, Punk und New Wave aus der DDR. Die Bands bzw. Musiker*innen wurden gerne von den Ost- und West-Medien als „die anderen Bands“ bezeichnet. Die Art, AG GEIGE, Feeling B, Zorn, Neu Rot, Bastards, Messer Banzani, Think About Mutation, The Real Deal, Mad Affaire, FO32 Extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt, N.O.R.A., Hert.Z, Tishvaisings...Sie alle liefen im „Parocktikum“, erfuhren dort ihre Medienpremiere und so überregionale Aufmerksamkeit. Teils gab es sogar eine direkte Förderung durch die fürs „Parocktikum“ arrangierten Live-Sessions.

 Lutz betreibt auch die Internetseite parocktikum.de, auf der Wissenswertes rund um die Sendung, Playlisten, Manuskripte, die Parocktikum-Story, sowie zahlreiche Audiodateien mit Interviews und Musikstücken von vielen der sogenannten „anderen Bands“ aus den Sendejahren zu finden sind.

Lutz, welchen Einfluss hatte das Medium Radio für dich und wie hast du Punk wahrgenommen, bist damit in Berührung gekommen?
    Meine erste Beziehung zu Radio war lange vor Punk. Ich habe als kleiner Junge in Leipzig gelebt und vor und während der ersten Schulzeit mit den Radios meiner Großmütter Forschungsarbeit betrieben. Bei einer Großmutter war es so, dass ich die Radio-Frequenzen von Langwelle und Kurzwelle durchgeforstet habe. Das war die erste Zeit, wo ich bewusst nach Klängen gesucht habe, die anders waren, als was standardmäßig im Radio zu hören war wie Marschmusik oder Schlager.
Ich habe nach der Schule Tontechniker gelernt und 1978 beim Radio als Tontechniker gearbeitet. Meine Eltern, meine beiden Brüder und ich wohnten zu der Zeit in Ostberlin und da haben wir auch Westradio gehört. Eine interessante Geschichte am Rande: Mein Vater war durch und durch Kommunist, 100 % linientreu, hat als Minister für Kultur gearbeitet. Und bei uns zu Hause wurden keine langen Haare geduldet. Er hat sogar noch den Begriff „Negermusik“ verwendet und es herrschte ein extrem hartes Regime. Es fällt mir in diesem Zusammenhang schwer zu sagen: Mein Vater ist an Krebs erkrankt und ist dann relativ zeitig gestorben. Aber das war dann für mich der Moment der Befreiung. Meine Mutter war in der Erziehung genau das Gegenteil. Sie hat uns alles ausprobieren lassen. Nicht nur, dass meine Haare lang wurden, sondern, dass ich alles an für mich interessante Musik aufgenommen habe, was das Zeug hielt und mein ganzes Taschengeld in Tonbänder investiert habe. An Schallplatten und Kassetten war noch gar nicht zu denken. Ich hatte ein Tonbandgerät, mein großer Bruder hatte schon ein Kassettenabspielgerät. Die Kassetten kosteten in der Standardqualität 20 Mark. Was Platten anbetrifft, konnte man schon Schallplatten mit DDR-Musik oder aus dem sozialistischen Ausland kaufen. Durch AMIGA konnte man an West-Musik rankommen, die West-Musik lizenzierte und veröffentlichte. Das war dann aber auch nur bspw. der Back-Katalog von Elvis Presley oder Elton John.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass Amiga von Die Toten Hosen eine Platte rausbrachte.1   
    Echt, das wusste ich gar nicht?! Es gab mit „VEB Deutsche Schallplatte Berlin“ ein Unternehmen, dass mehrere Labels hatte. Z. B. ein Label nur mit klassischer Musik, ein Label nur mit sozialistischen Kampfliedern und dann eben auch ein Label für Popmusik. Die haben sehr viel selbst produziert. Die haben aber auch sehr viel produziert, was im Rundfunk gesendet wurde. Um auf deine Einstiegsfrage noch mal zurückzukommen. Ich habe – wie ich schon erwähnt habe – immer nach interessanter Musik gesucht und aufgenommen. 1978 hatte RIAS Berlin im Sommer eine 5-stündige Reihe mit „Rock over RIAS“2 gesendet und nachts das Programm komplett für Rock und Popmusik geöffnet. Sie hatten fünf Nächte lang Punk, Reggae, New Wave aus England, USA und auch was in Deutschland am Start war, gesendet. „Rock over RIAS“ hatte 1979/80 Musik von „The Jam“, „Blondie“, „Magazin“, „Fisher Z“, „Ideal“, „DIN-A-Testbild“, The Cure“, „The Cramps“, „Devo“, „Ramones“, „The Dickies“ gespielt. Da habe ich nächtelang Radio gehört und aufgenommen. Inzwischen gibt es ganz viele Leidenschaften. Eine davon ist Reggae.

 

Als Tontechniker zu arbeiten war ja schon mal die beste Voraussetzung, um beim Radio zu arbeiten und später dann selbst Radiosendungen zu moderieren.
    Also zurückblickend stimmt das tatsächlich. Aber wenn ich damals den Blick in die Zukunft gerichtet habe, also ich als Tontechniker und träume davon Radio zu machen, war das eigentlich nicht so einfach. Ich habe nicht studiert, hatte aber Erfahrung am Mikrofon. Ich habe in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre parallel zu meinem Job als Tontechniker eine Ausbildung zum DJ gemacht. In der DDR hieß das „Schallplattenunterhalter“ oder „Diskotheker“.

Als Tontechniker war ich beim Funkhaus Berlin in der Nalepastraße beschäftigt, wo auch die Jugendredaktion angesiedelt war.


Kurzer Einschub: Der Diskotheker

Wer in der DDR öffentlich als Discjockey auftrat, musste zuerst eine Ausbildung absolvieren und sich ordnungsgemäß prüfen lassen. Bei den Engagements in Discotheken, auf Landgasthöfen, Hochzeiten konnte von den DJs jederzeit das Vorzeigen des Ausweises verlangt werden, inoffiziell „Pappe“ genannt. Sie dokumentierte die Spielerlaubnis als „staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter“. Ohne Pappe: keine Musik.
Die Elementarlehrgänge waren schon recht umfangreich. Die zukünftigen „Diskotheker*innen“ mussten moderieren, vor der Kamera sprechen, Ansagen ans Publikum machen oder gleich ein ganzes Konzept ausarbeiten mit einer Musikdramaturgie.
Am Ende gab es dann eine Abschlussprüfung. Der angehende Schallplattenunterhalter musste zunächst Fragen zu Kultur und Politik beantworten und dann einen Abend vor einer Jury gestalten. Die Einstufungskommission setzte sich aus Diskotheker*innen und Funktionären aus dem Kulturbüro zusammen.

DDR Funkhaus Berlin

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der Aufteilung Berlins in vier Sektoren (amerikanisch, britisch, französisch und sowjetisch) ging 1945 zunächst der Berliner Rundfunk im „Haus des Rundfunks“ im britischen Sektor in Charlottenburg, auf Sendung, der für Berlin und die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ) sendete. 1946 etablierten die Amerikaner in Schöneberg den Radiosender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), der sich zum Sprachrohr Westberlins entwickelte. Der Kalte Krieg unter den Alliierten führte dazu, dass die junge DDR-Regierung 1952 ihren Rundfunk nach Ostberlin verlegte. Dazu nutzte man eine ehemalige Holzfabrik in Oberschöneweide. Mit der Planung und dem Bau wurde der Bauhaus-Schüler Franz Ehrlich beauftragt, die technische Planung übernahm der Rundfunk-Ingenieur Gerhard Probst. Im September 1952 konnten hier in dem umgebauten Fabrikgebäude der Berliner Rundfunk und Deutschland Sendebetrieb aufnehmen. 1956 wurden dann die Bauarbeiten an dem funktional orientierten Gebäudekomplex im Stil der Bauhausmoderne abgeschlossen. Alle überregionalen Radiosender der DDR (Deutschlandsender, Berliner Rundfunk und Radio DDR) produzierten von hier aus ihre Sendungen. In den vier Sendesälen und Studios, die wegen ihrer exzellenten Akustik in den Folgejahren Weltruf erlangten, wurden ein Großteil der DDR-Musikproduktionen und viele bedeutende Hörspiele aufgenommen. Besondere Berühmtheit erlangte der 900 m² große Aufnahmesaal 1. Im DDR-Rundfunk waren seinerzeit über 3000 Mitarbeiter beschäftigt. Für die Beschäftigten gab es ein umfangreiches Service- und Versorgungsangebot innerhalb dieser „Kleinstadt“. Dazu zählten eine Kantine, Imbissstuben, Milchbar, eine Poliklinik mit Allgemeinmediziner, Zahnärzten, Gynäkologen, Physiotherapeuten, Friseur, Sauna, Dusch- und Wannenbädern, eigenem Betriebskindergarten und einer Sparkasse, Buchhandlung und Lebensmittel-Verkaufsstelle.



»Das Einzige wofür ich mich entschieden habe, war, eine Sendung zu machen, in der Musik zu hören ist, die mir und einigen Hörer*innen gefällt. Dazu gehörte im Laufe der folgenden Zeit mehr, als nur das PAROCKTIKUM zu moderieren.«

 Ich habe im Block A gearbeitet. Zu meinen Aufgabenbereichen als Tontechniker zählte zum Beispiel das Schneiden der Bänder oder ich habe irgendwelche Schaltungen gemacht.

Wann war das?
    Ich habe 1975 angefangen zu lernen und 1978 angefangen zu arbeiten. 1984 habe ich gewechselt in die Redaktion. Dadurch, dass ich als Tontechniker engen Kontakt zu den Redaktionen hatte, war auch damit begründet, dass ich als Bindeglied fungierte und die Musik von der Schallplatte auf Tonband aufgenommen habe. Der Redakteur hatte bspw. von seiner Großmutter eine Schallplatte und die sollte ins Programm, musste aber noch auf Tonband aufgenommen werden, da im Radio ausschließlich Musik von Tonbändern in 38er-Geschwindigkeit gesendet wurde. Die Redakteure bzw. die Redaktion war dazu verpflichtet, nur Musik aus dem Archiv zu spielen. Diese Archive wurden auch kontrolliert und mussten irgendwelche Gremien durchlaufen. Wenn ein Redakteur mit einer Schallplatte zu mir kam, die ich auf Band überspielen sollte, und die mich selbst interessiert hat, habe ich Bänder in einem Schrank archiviert.


Ab 1986 wurde im Jugendradio „DT 64“ einige der sogenannten „anderen Bands“ gespielt. Ab 1988 gab es erste Plattenaufnahmen in den Rundfunkstudios. Welchen Ansatz hast du mit „Parocktikum“ verfolgt?
    Ich hatte Glück, von Anfang an mit den richtigen Leuten zusammen zu sein. Die Redakteure waren froh, mal keinen ausgebildeten Journalisten in der Redaktion zu bekommen, sondern einen Typen, der einfach Bock hatte und seine Leidenschaft und Profession kreativ in einer eigenen Radiosendung ausdrücken wollte. Ich hatte bereits vor paar „Parocktikum“ eine eigene Sendung moderiert. Das war eine Hitparaden-Sendung mit DDR Musik. Ich hatte das Glück, dass derjenige, der die Sendung vorher moderiert hatte, einen Ausreiseantrag gestellt hat und just in dem Zeitraum, als ich 1984 beim Radio anfing, dieser Posten frei geworden war. Die Leute, die mich in die Redaktion reingenommen haben mir die Gelegenheit und die Chance gegeben, eine Radiosendung zu moderieren, was sonst nicht der übliche Weg gewesen ist. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie glücklich ich im Anschluss nach der Sendung auf dem Nachhauseweg war, und ich mich fühlte, als hätte ich guten Sex gehabt.
Diese Zeit der Moderation und das Radio machen war in der Zeit 1984 bis 1986, also noch bevor DT-64 als Jugendradio ein Vollprogramm wurde. Das war eine wichtige Schule für mich, weil ich für die Live-Sendung auch Bands interviewt habe wie PUHDYS, KARAT, SILLY. Ich habe so bereits das Rüstzeug mitgebracht, um als Radio-Moderator mit ‚Parocktikum‘ das gelernte Handwerk umzusetzen.

Ein Leserinennbrief
Ein Leserinennbrief

Wurden die Interviews denn im Studio gemacht und dort aufgenommen und später gesendet?
    Genau. Die Interviews waren meist schon vorprogrammiert. Gerade als Anfänger hatte ich noch nicht das Selbstvertrauen, die Interviews mit den Bands live im Programm zu führen. Zu der Zeit habe ich meinen Musikgeschmack gefunden, der von Punk bis Zappa über Reggae und Bruce Springsteen reichte. Ich habe ja auch als Musikredakteur gearbeitet und das normale Tagesprogramm mit Musik bestückt. Wir hatten auch vor DT-64 eine Sendestrecke, wo wir auf einer einzelnen Frequenz eine Sendung mit dem Namen „Hallo und DT auf UKW“ moderierten, eine Vorstufe von dem Jugendprogramm. Eine weitere Sendung hieß „Auftakt“. Da haben wir einen musikalischen Mix gemacht und zum Teil bereits DDR-Indie-Bands gespielt, aber es gab noch nicht so viel Material. 1984 gab es bspw. die Band HARD POP, hervorgegangen aus der Avantgarde-Punk-Band ROSA EXTRA und ein Tape von FEELING B, das in den Funkhaus-Büros kursierte.

Warst du denn der einzige Protagonist, der subkulturelle Radio in der DDR etabliert und vorangetrieben hat?
    Nein, da gab es auch noch andere Kollegen, die in der Szene unterwegs waren und die musikalisch auch Sachen ausgegraben und gesendet haben. Vor 1984/1985 und vor DT-64 hat z. B. Jürgen Balitzki zusammen mit Lutz Bertram die Sendung „Trend – Forum populärer Musik“ moderiert. In dieser Sendung wurde sehr wissenschaft-theoretisch über Musik geredet der Stories/Anekdoten von Bands erzählt. Andere Kollegen wie Achim Gröschel war mit dem Sänger von FEELING B, Aljoscha Rompe, befreundet und hat deren Tapes mit ins Rundfunkhaus gebracht. Die Metal-Leute wie Matthias Hopke und Jens Molle haben den Metal-Sektor bedient. Tatsächlich wurde DT-64 zu einem wichtigen Bezugspunkt für Metal-Fans und-musiker in der DDR. Wie auch zu meiner Sendung „Parocktikum“ wurden ganz allgemein Briefe aus der DDR an den Sender DT-64 geschickt. Neben zahlreichen Briefen sind vor allem die Sendelisten der wöchentlichen Heavy-Metal-Sendung „Tendenz Hard bis Heavy“ überliefert. Allerdings sind – anders als bei mir und meiner Sendung – nur wenige Sendemanuskripte und Sendungen auf dem Metal-Sende-Sektor erfasst und zugänglich.

Lutz (Bildmitte)
Lutz (Bildmitte)

»Leider ist noch nicht überall die erforderliche Offenheit zu konstatieren. Sicher ist die Musik von „Die Art“ und „Die Skeptiker“ keine, an die man sich gewöhnen kann (oder soll). Aber hier und da könnte sich die Toleranzschwelle schon noch etwas verschieben. Wer den Anspruch der AG Geige als „nicht kunstfähig“ einstuft und damit nicht nur nichts verstanden hat, sondern auch Mangel an Toleranz erkennen lässt, erweist sich als unzeitgemäß. Und das muss nicht an Alter oder an der Dienststellung liegen.«

L.Schramm (Auszug aus Artikel für „Die Unterhaltungskunst“ Oktober 1987)


Welchen Ansatz hast du dann mit deiner Sendung „Parocktikum“ verfolgt?
    Ich habe mir an dem Tag der ersten Sendung vorgestellt, dass ich eine Sendung mache mit ungewöhnlicher Musik. Während meiner Zeit als Tontechniker war ich 1 1/2 Jahre bei der Armee und habe während dieser Armeezeit ein Notizbuch dabei gehabt. Da habe ich reingeschrieben: ‚Parocktikum, Sendung mit ungewöhnlicher Musik‘. Zu dieser Zeit hatte ich den Traum, eine eigene Radiosendung zu machen, hatte aber nie daran gedacht, dass dieser Traum irgendwann auch mal wahr werden würde. Und bereits drei Jahre später haben wir in der Musikredaktion gesessen und überlegt wie wir eine Jugendradiosendung gestalten, eine Spezialsendung, jeden Abend ein anderer Schwerpunkt. Der eine hat dann Country gemacht, der andere hat elektronische Musik gemacht. Ich habe daraufhin gesagt: ‚Lass mich mal ein bisschen schräge Musik machen‘. Meine erste Sendung im März 1986 war dann auch entsprechend bunt mit Billy Bragg und ausschließlich West-Musik. Es gab ganz wenig spielbare Musik aus dem Osten. Später habe ich dann Kassetten von DDR-Underground-Bands gespielt, angefangen mit ‚Katjuscha‘ von Hard Pop, dem Intro meiner Radiosendung. Darauf folgten dann bald Songs vieler anderer DDR-Punkbands.

Die Sendezeit war sonntags und dann spät abends, oder?
    Nee, die erste Staffel lief dienstags um 21 Uhr. Auf parocktikum.de gibt es die Playlisten. Ich schau’ jetzt mal gerade, bin auf den Playlisten von 1986 und da steht, dass die Sendung einmal pro Monat lief mit einer Sendezeit von einer Stunde. Wenn ich mir die Playlisten anschaue, stelle ich fest, dass ich in der dritten und vierten Sendung jeweils ein The Clash-Special gemacht habe. Ich kann mich erinnern, dass das erste Jahr und sogar schon die ersten paar Sendungen, dazu geführt haben, relativ schnell Feedback bekommen zu haben. Im DDR-Rundfunk oder sagen wir mal beim Radio der 70er Jahre lief die Kommunikation mit den Hörer*innen zum Teil über das Telefon, sprich die Zuhörer*innen haben direkt in der Redaktion angerufen oder die Zuhörer*innen haben Briefe geschrieben. Und die Zuhörer*innen-Post als unmittelbares Feedback zu meiner Sendung zu bekommen, war unglaublich hilfreich und wichtig gewesen. Zum einen als Bestätigung, dass man auf den richtigen Weg ist, als auch für den Rundfunk selber und die Redaktion, die den Erfolg auch an der Menge der Zuschriften gemessen haben. Das hohe Aufkommen der Hörer*innen-Post für die Sendung ‚Parocktikum‘ war einer der Gründe, auch mehr Sendezeit zu bekommen.
Es gab auch schriftliche Rückmeldungen, was Leute auf Konzerten erlebt haben.
Ich habe mit der Sendung dann auch relativ schnell Kontakte zu westlichen Magazinen und Musikredakteure in den Westen gehabt oder Kollegen aus der Musikredaktion kannten Leute aus dem Westen.

Waren das Magazine wie Sounds oder Melody Maker?
    Nein, Spex. Das war unsere Bibel. Wenn eine neue Ausgabe erschien, musste ich da irgendwie rankommen. Die wurde dann kopiert oder die ging reihum. Alle haben geguckt, was die Kollegen von Spex fabriziert haben. Es gab neben dem ‚Sounds‘ ja auch noch den ‚Musikexpress‘. Es waren in der Regel westdeutsche Musikmagazine als Quellen. An die Magazine aus England war schwer ranzukommen. Es gab Hörer*innen der Sendung aus dem Ruhrpott, die befreundet waren mit Phillip Boa (and the Voodooclub)3, die ihm von der Sendung erzählt haben. Philipp Boa hat mir eines Tages ein Päckchen Platten geschickt. Das war auch einer der Momente, an die ich mich gerne erinnere. Als das Päckchen in der Redaktion ankam, und ich da reingeguckt habe, bin ich mit den Platten schnell nach Hause gelaufen, um die aufzulegen. In Duisburg gab es das Magazin ‚Pop Noise‘, das ich zugeschickt bekommen habe. Über dieses Magazin habe ich dann Kontakte zu anderen Labels aufgenommen, die mir dann auch Platten für die Sendung geschickt haben.

Die Fanatischen Frisöre
Die Fanatischen Frisöre

Was du hier schilderst, ist ja auch in der Kommunikation Abenteuer pur gewesen. Du musstest dir deine Musik selber suchen und um diese zu bekommen, Briefe schreiben. In der heutigen Zeit findest du in der digitalen Welt bzw. auf den Musikplattformen alles, ohne, dass du dich vom Platz bewegen musst. Findest du, dass dieses Gefühl von Abenteuer verschwunden ist?
    Also nur, dass die Musik da ist, der Weg zur Beschaffung kürzer ist, heißt ja nicht, dass man von allem, was mitbekommt. Das Angebot ist um ein zigfaches größer als früher in den 80er Jahren. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, aus diesem Pool die für dich interessante Musik herauszufiltern.
Kennst du die Radiosendung von Henry Rollins? Henry Rollins macht in Los Angeles eine eigene Radiosendung4. Jede Woche zwei Stunden vom härtesten Zeug...Die reine Freude. Was ich damit sagen will, ist du hast von dieser Sendung noch nichts gehört, die ist aber da. Und das ist genau so ein Beispiel wie, wenn ein Plattenladen in Castrop-Rauxel existiert, von dem du noch nichts gehört hast, nur eine Single rumliegt von einer brasilianischen Punkband, die es sonst so nicht mehr zu kaufen gibt. Und bis du da hingefunden hast, muss irgendwas passieren.

Also ich finde, es ist heute einfacher oder sagen wir leichter geworden, um spezielle Veröffentlichungen zu kriegen, wo es früher schwierig war, überhaupt an Punk-Importe bspw. aus Mittel- oder Südamerika zu kommen.
Du hast ja regelmäßig privat gefertigte Kassettenaufnahmen von Bands, die teilweise nicht einmal im Besitz einer staatlichen Spielerlaubnis waren, gespielt. Du hast ja auch Bands/Kassetten abgespielt, die keine Einstufung hatten. Was waren daraufhin die behördlichen Reaktionen? Kam es zu Repressionen?
    Ich würde eher überfordert wählen. Also in dem Sinne, dass das von staatlicher Seite gar nicht registriert wurde. Obwohl es dann doch auch Ausnahmen gab. Ich habe mal eine Band aus Erfurt gespielt, „Die Fanatischen Frisöre“. Am nächsten Tag kam der Chefredakteur und sagte, er hätte einen Anruf bekommen von einer Dienststelle aus Erfurt. Da hat offenbar ein Stasi- oder Kulturpolitiker in Erfurt die Sendung gehört und überprüft, dass „Die Fanatischen Frisöre“ keine Einstufung hat und sich in unserer Redaktion gemeldet. Wie sich später herausstellte, hatte aber nicht die Band selbst, sondern ein Fan deren Kassette geschickt. Angesprochen auf den Vorfall, habe ich dann ganz viel gegen geredet, dass kann ich ganz gut. Also, wenn Leute auf mich zukommen und sagen ‚Hey, du hast da was falsch gemacht‘, und ich dann aber nicht zustimme ‚Stimmt, du hast recht. Ich habe da was falsch gemacht!‘, sondern, dass mir dann ganz viele Sachen und Argumente einfallen, warum das in Ordnung geht. Weil ich auch nicht einsehe, dass man mich wegen dieses Vorfalles drangsaliert. Eine andere Geschichte war, wo ein Hörer einen Brief an DT-64 geschrieben und sich aufgeregt hat, dass ich Lieder von AG Geige spiele, die seiner Meinung nach überhaupt nicht mit dem sozialistischen Leitgedanken konform gehen. Ich habe dann auf den Brief geantwortet und geschrieben, dass es um Kunstfreiheit geht und entsprechend auch Toleranz erwarte. Und dann war auch wieder gut.

Aber es ging nicht so weit bis zur Zensur?
    Ich musste vor jeder Sendung ein Skript vorlegen, was ich da senden werde, aber es kam nie zur Zensur oder zu einem totalen Bruch. Also es gab schon eine Kontrolle. Wenn die Sendung live war, brauchte ich einen Ablaufplan, das heißt, ich muss ja wissen, welche Musik ich spielen will und diese Musikliste musste ich meinen Vorgesetzten vorlegen. Der hat dann draufgeguckt und dann war das eigentlich immer alles abgesegnet. Bei vorproduzierten Sendungen war das schon so, dass der Vorgesetzte sich die Sendung auch vorher anhören und dann eben seine Unterschrift geben musste, dass die Sendung okay war oder nicht. 1989, noch vor dem Platz des Himmlischen Friedens, wurde das schon extremer. Da waren die Kontrollen auch schon repressiver.

Hintergrund:

Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens
Hunderttausende Student*innen demonstrierten im Frühjahr 1989 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens für politische Reformen und mehr Demokratie. Doch die chinesische Regierung war zu keinem Entgegenkommen bereit und setzte das Militär in Marsch. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni beendeten Panzer die Besetzung des Platzes. Hunderte Menschen kamen bei dem Massaker ums Leben. Während die Weltöffentlichkeit das brutale Vorgehen scharf verurteilte, bekundete das Politbüro der SED seine Solidarität mit der chinesischen Regierung. Für die SED waren Demokratieforderungen und Oppositionsbewegungen in der DDR eine existentielle Bedrohung des eigenen Systems. Die Solidaritätsbekundungen der SED mit der chinesischen Staats- und Parteiführung nach dem 4. Juni 1989 signalisierte zwangsläufig eine Warnung an die Oppositionsbewegung im eigenen Land.


Lutz mach eine Konzertansage
Lutz mach eine Konzertansage

Sogar ein Interview, was ich mit einer Band gemacht habe, in der die Band gesagt hat, dass „Neue Forum“5 erlaubt werden müsste, durfte nicht gesendet werden, was ich auch nicht gemacht habe.

Welchen Einfluss hatte John Peel auf deine Tätigkeit?
    Ja, ich habe John Peel auch gehört. Allerdings war der Einfluss gar nicht so groß. Es gab DJs, die für mich einen viel größeren Einfluss hatten. Beim Reggae z. B. David Rodigan. Seine Sendung „Rodigan’s Rockers“ wurde seit 1984 vom britischen Armee-Sender BFBS übertragen, der auch auf UKW empfangen werden konnte. Rodigan war eine wichtige Inspirationsquelle, sozusagen der Leuchtturm im Reggae. Im Radio, nicht nur als Radio DJ, sondern auch als Moderator, Möglichkeiten im Radio von Musik und Geschichten zu kombinieren, war es vor allem Barry Graves, der sich besondere Formate ausdachte.
In den frühen 70ern produzierte er einzigartige Radioserien für RIAS, die multimedial Avantgarde-Literatur, Rock, Sound-Effekte und elektronische Manipulationen verband. Er konnte ausgeschmückte Geschichten erzählen wie kein anderer. Diese wiederum erzeugten im Kopf der Hörer*innen Bilder. Man konnte die Augen schließen, dann sah man, was er in seinen Geschichten meinte. Seine Sendung „Graves Space“, später umbenannt in „Graves bei Nacht“ (es wurden vermutlich über 70 Sendungen produziert) ging es jeweils um ein Thema. Barry erfand die legendären „langen Nächte und sendete zusammen mit Walter Bachauer, Uwe Wohlmacher und Olaf Leitner mit „Rock over RIAS“, die vom 26. Dezember 1975 bis 01. Januar 1976 stattfand.

»Diese Mischung aus Pop-Tops, Intimität und aktueller Rückkopplung mit dem Zuhörer hat das Radio in jener Woche zu einem heißen Medium gemacht.«

DER SPIEGEL


Barry Graves hat auch Hörstücke gemacht. Ein ganz tolles Teil z. B. über die Sex Pistols6, wo man am Anfang auch noch die Ansagerin von RIAS 2 hört, die den Namen der Band auch falsch ausspricht.

Die Anmoderation im Original:

„Meine Damen und Herren, Sie hören nun die Montage ‚Der große Rock ’n’ Roll Schwindel‘ oder ‚Anarchie bei der BBC‘. Ein Portrait der englischen Punkband ‚Six Pistols‘ (sic!). Dem Sujet des Punk entsprechend, wird aus dramaturgischen Gründen eine Sprache benutzt, die im Allgemeinen im Rundfunk nicht üblich ist. Aus diesem Grunde möchten wir die Eltern unter Ihnen darauf hinweisen, dass uns die Sendung für Jugendliche nicht geeignet erscheint. Ein Hörstück in 15 Teilen über den Abstieg der westlichen Gesellschaft in die Dekadenz von Barry Graves mit der Musik der ‚Six Pistols‘ (sic!).“


Die Vision + Lutz Schramm - Pfingsten 1988
Die Vision + Lutz Schramm - Pfingsten 1988

Ich frage in Bezug auf John Peel, weil deine Aufnahme-Sessions mit Bands an die John Peel-BBC-Sessions erinnern…
    Das Konzept der John Peel-Sessions habe ich relativ schnell verstanden. Später habe ich gelernt, dass John Peel das schon seit den 1970er Jahren gemacht hat und bei BBC nicht der einzige war, der als Radio-DJ Studio Sessions aufgenommen hatte, sondern dass das ganz viele Radio-DJs machen, die für ihre Sendungen Bands und Musik produzieren. Aber diesen Impuls, mit einer Band, die sonst keine Möglichkeit hat, ins Aufnahmestudio zu gehen und Musik zu produzieren, die nicht nur der Band weiterhilft, sondern auch, damit man das Material in seiner Sendung spielen kann, das habe ich für die ‚Parocktikum‘-Sessions adaptiert.

Die Aufnahmen waren ja sehr professionell. Gab es ein festes Tontechniker-Team mit Ü-Wagen?
    Es war eine Stufenentwicklung. Die erste Stufe waren Konzertmitschnitte. Das andere war die Studio-Sessions. Aus ganz verschiedenen Gründen waren Konzertmitschnitte auch am einfachsten zu bewerkstelligen. Ein Grund war, das hat auch wieder mit Zensur zu tun, weil, wenn man das Konzert mitschneidet, musste man vorher nicht die Texte der Bands abliefern und von irgendeinem Gremium begutachten lassen. Bei den Studio-Sessions, also bei den Ü-Wagenproduktionen, musste man vor der Sendung von einem Kontroll-Gremium die zu produzierenden Titel absegnen lassen, wo dann vor allem die Texte begutachtet wurden. Ich als Moderator musste daraufhin entscheiden, ob sich der Aufwand einer Produktion lohnt.

Die ‚Parocktikum‘-Sessions hatten einen sehr professionellen Sound wie bspw. „Zorn – Parocktikum Session“ vom 18.03.1988 Jugendclub Walter Barth. Das klang schon nach 16-Spur-Mitschnitt…
    Nee. Das war eine Direktaufnahme vom Mischpult. Das war aber auch immer ein Risiko, je nachdem wer im Wagen als Tontechniker saß. Wenn da z. B. ein Tonmeister sitzt, der normalerweise andere Musik produziert, muss der sich z. B. auch öffnen und sich darauf einlassen können ‚Okay das ist Musik, die ich sonst nicht höre und vielleicht noch nicht mal mag‘. Bei den anderen Sessions war das z. B. so, dass Paul Landers von Feeling B/Rammstein neben den Tontechniker saß und dafür gesorgt hat, dass die Musik gut abgemischt wird. Paul Landers hatte auch für Feeling B deren erste Kassette „Wir wollen immer artig sein“ abgemischt und später auch andere Bands produziert. Die hatten ja schon ein kleines Studio mit Equipment.

Warst du bei den Sessions auch mal persönlich zugegen?
    Ja, zum einen habe ich AG Geige in Karl-Marx-Stadt produziert, die in einer Galerie sechs Stücke auf 16-Spur aufgenommen hat. Und zum anderen von Expander des Fortschritts sind vier Aufnahmen für den Rundfunk entstanden.

Jan Kummer, Frank Bretschneider AG Geige 1987 Karl-Marx-Stadt
Jan Kummer, Frank Bretschneider AG Geige 1987 Karl-Marx-Stadt

Was ist denn mit den Aufnahmen passiert? Die wurden doch nicht nur archiviert?
    Die wurden archiviert und wurden im Radio gespielt. Das war auch der Hauptgrund. Zu DDR-Zeiten wurden die Live-Mitschnitte sowie die Studio-Sessions nie auf Platte, bis auf dem Parocktikum-Sampler, veröffentlicht, wo ein paar Einzelstücke enthalten sind. Von mir produzierte Musikstücke von AG Geige und die späteren Rundfunkaufnahmen aus der Galerie Hermannstraße erschienen 1989 auf dem Album „Trickbeat“ als eine der wenigen LPs der sogenannten „anderen Bands“ auf Amiga. Später gab es eine Wiederveröffentlichung auf Major Label im originalen Layout mit sämtlichen Texten und Abbildungen von Gemälden der Band. Bei „Expander des Fortschritts“ weiß ich, dass über den Kontakt mit Fred Frith, Chris Cutter eine LP auf Z (später ZONG Records) veröffentlicht wurde.


Lutz, wie bist du mit Ebi Fischel und Ronald Galenza verwoben, die die erste Ostberliner Underground-Disko „X-Mal“-Veranstaltungsreihe7 ins Leben gerufen haben?
    Die beiden haben mir auch Platten für die Radiosendung besorgt. Die Connection war relativ wichtig für mich gewesen, auch, um einen breiteren Einstieg in die DJ-Szene zu bekommen. Ebi und Ronnie haben Ende 1985 diese Reihe entwickelt. Ich kann mich erinnern, dass wir uns bereits vorher getroffen haben, um einander zu unterstützen. Ich habe Werbung für die Veranstaltung gemacht und wurde zu den Parties eingeladen. Bei den Konzerten habe ich bspw. den Ansager gemacht.

Das erinnert mich an den Musikladen, wo der beim Saarländischen Rundfunk tätige Radiomoderator Manfred Sexauer die Live-Acts ankündigte...
    Meine berühmteste Ansage kam auf Platte. Auf der „Live! Exile On Valletta Street“ von Phillip Boa & The Voodooclub spreche ich das Intro in „Before the Walls Came Down’ Oct.’89“ und sage die Band an.

Die sanfte Lockerung der Kulturbehörde hatte zur Folge, dass sich der musikalische Untergrund der DDR spaltete. Der harte Kern der Punk-Bewegung radikalisierte sich. Lag das am Misstrauen gegenüber der neuen kulturpolitischen Lockerung?
    Ja. In dem Moment, als ich mit ‚Parocktikum‘ angefangen habe…
Wenn ich kurz hinzufügen darf. Ich frage, weil es im Zusammenhang mit der Lockerung auch Bands und Musiker*innen gab, die dir abgesagt haben, im Radio gespielt zu werden.
    Genau. Es gab Bands, die mir geschrieben haben, nicht in der Sendung gespielt zu werden. Es kam sogar zu Situationen, wo ich auf der Straße angesprochen und mir aufs Maul gehauen wurde. Aus dem Grund, den er mir nannte, dass ich im Radio s tue, dass Punk in der DDR das Normalste sei, während andere Punks von der Stasi einkassiert und inhaftiert werden.
Ich habe schon mitbekommen, dass es eine Kunst- und Musik-Untergrund-Szene gibt. Also ich war mal mit einem Freund auf einer Hinterhof-Kunst-Ausstellung im Prenzlauer Berg, wo es hieß, dass Joseph Beuys als Special-Guest kommen soll. Also, den haben sie mal eben über die Grenze gelassen. Ich war auch mal auf einem Konzert von FABRIK, die Band von Sascha Anderson8. Die persönlichen Bekanntschaften mit Musiker*innen und Künstler*innen sind erst durch den Kontakt mit Ebi und Ronnie entstanden. Für mich war das alles aber eine unbekannte Space. Ich dachte, die sind alle schräg drauf. Wie komme ich an Musik von denen? Die waren ja auch teilweise in meiner Sendung. Ich hatte aber nie das Gefühl, da fehlt was. Ich habe nichts vermisst, weil der Fluss an Leuten und Material war für mich ausreichend. Ich habe immer wieder neue Leute kennengelernt, die habe ich wieder mit anderen bekannt gemacht, auch relativ schnell außerhalb von Berlin. Für mich gab es keinen Grund, zu denken, dass es da noch was anderes gibt, als das, was ich zu hören kriege. Ich war auch naiv genug, zu sagen, ‚Na, dann spiel‘ ich das jetzt einfach mal’. Eine weitere Geschichte ist, dass Holger „Alge“ Rohloff, der zum Umfeld von Virus X, der ersten Punkband in Rostock, gehörte und ab Mitte der 80er das legendäre illegale DDR-Kassettenlabel Trash Tape Rekords betrieb, aus dem nach der Wiedervereinigung Amöbenklang hervorging, hat mir ein Tape von seinem Projekt geschickt. Und das Tape habe ich dann in der Sendung gespielt. Daraufhin schickte er mir einen ‚bösen‘ Brief: ‚Warum spielst du das? Ich habe dir das nur zum Hören geschickt!‘. Ich habe mich darüber hinweggesetzt, weil ich Sachen, die ich spannend fand, gesendet habe.

»Ich nutze und benutze Musik, um mich selbst und andere zu befreien.«

Ui, das war ja sehr brisant und hochsensibel...
    Ja, Angst vor Verfolgung spielte eine große Rolle. Eine weitere Kassetten-Label-Veröffentlichung, die ich spielte, war die Musik von Alexander Ponick, der Mitte der 1980er bei der Rostocker Punkband „Arrest und später Teil von „FO32 Extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt“ war, die in Rostock aufnahm, in einer Kaserne der Volksmarine. Das dort entstandene Material wurde auf Kassette von Trash Tape Rekords vertrieben und landete so auch im ‚Parocktikum‘.

Du hast erwähnt, dass es dir an einer Stelle nicht mehr gereicht hat, nur Radio zu machen. Wolltest du ein Forum schaffen, um auch über deine produzierte Musik öffentlich zu diskutieren?
    Es ging mir auch darum, einen Austausch zwischen den Musiker*innen herzustellen und die Möglichkeit zu schaffen, für Fans den Zugang zur Musik zu öffnen und die Öffentlichkeit irgendwie zu fördern. Ich wollte aber nicht die Welt verbessern, dass passiert durch die Musik. Musik macht den Kopf frei, man hat eine andere Art zu denken und bekommt neue Ideen, wenn man sich mit Musik beschäftigt. Ich nutze und benutze Musik, um mich selbst und andere zu befreien.

Fehlen dir heute Nischensendungen im Radio, die ausschließlich Alternative Musik spielen und welche Rolle spielt Radio heute für dich?
    Ich muss gestehen, dass ich gar nicht mehr so viel Radio höre. Wenn, dann gezielt wie die Sendungen von Henry Rollins. Ich habe beim Rundfunk  lange Zeit im Technik-Bereich gearbeitet und u. a. die Internetentwicklung gemacht. Ich bin da ausgestiegen, bin quasi im Ruhestand und werde mich wieder intensiver mit Musik beschäftigen. Also, ich werde versuchen, all die Geschichten/Anekdoten, die du von mir erzählt bekommen hast, aufzuarbeiten. Das aufzuschreiben würde nicht reichen. Ich denke da an Podcasts. Da bin ich aber noch am Suchen.

Die anderen Bands

Fußnoten:

1. DIE TOTEN HOSEN-AMIGA Quartett Edition – VEB Deutsche Schallplatten Berlin; Sonderedition von 1989 für die VEB Deutsche Schallplatte Berlin. Songs: Hier kommt Alex, 1000 gute Gründe, 180 Grad, Bye, Bye Alex

2. Rock over RIAS: New Wave Festival 1980 - Blick in die Zukunft. Sechs Nächte vom 21. bis 26. Juli 1980 widmete sich der Radiomarathon „Rock over RIAS“ unter dem Motto „Blick in die Zukunft“ dem New Wave. Die Moderatoren Burghard Rausch, Christian Graf und Uwe Wohlmacher präsentierten darin das breite Spektrum der „Neuen Welle“: von Punk über Rockabilly-Revival bis hin zu Experimentellem - auch aus deutschen Landen von heute weitestgehend vergessenen oder unbekannteren Bands jenseits des NDW-Revival-Gedudels wie Scala3, Tempo, Interzone, Din-A-Testbild oder Mania D. In einer Nacht gab es auch zum ersten Mal die „Berlin"-Single von Ideal zu hören.

3. Phillip Boa, Songwriter, Komponist, Sänger, Gitarrist und Kopf der Band Phillip Boa and the Voodooclub, gründete 1985 die Avantgarde-Pop bzw. Independent-Band und erlangte ab 1989 mit seiner vom britischen Post-Punk, Indie-/Alternative Rock und Avantgarde beeinflussten Musik internationale Anerkennung.

4. Henry Rollins Radio-Sendung: https://www.kcrw.com/music/shows/henry-rollins

5. Das „Neue Forum" ist innerhalb der Oppositionsbewegung in der DDR die Gruppe mit der größten Breitenwirkung. Am 19. September 1989 beantragt das „Neue Forum“, als Vereinigung zugelassen zu werden. Das Innenministerium der DDR lehnt zwei Tage später ab mit der Begründung, das „Neue Forum“ sei eine „staatsfeindliche Plattform“. Am 8. November 1989 schließlich lässt das Ministerium des Innern das „Neue Forum“ als politische Vereinigung zu. Von allen Oppositionsgruppen, die im Herbst 1989 an die Öffentlichkeit treten, erhält es den stärksten Zulauf.

6. Die komplette Sendung zum Hören und als Download: https://rias1.de/sound4/graves/000000_sendungen_1973_1993.html#sex

7. Eine legendäre Veranstaltungsreihe, bei der die Musik vorher aus dem Westradio aufgenommen und dann von Kassette abgespielt wurde. Für die kreative Ostberliner Pop-Szene wurde „X-Mal“ zum wichtigsten Ort; eine ganze Generation späterer Bands, DJs, Künstler*innen und Klub-Betreiber*innen wurde hier musikalisch geprägt.

8. Sascha Anderson galt als der Szeneguru vom Prenzlauer Berg, der es bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1986 verstanden hatte, die vielfältigsten subversiv-künstlerischen Aktionen oppositioneller Künstler in der DDR zu organisieren. Seine Aktivitäten in der Literaturszene, als Sänger der Band Zwitschermaschine (unter anderem war er maßgeblich an der westdeutschen Veröffentlichung der Split-LP DDR von unten auf AGR mit der Band Schleim-Keim beteiligt), später „Fabrik“, seine vielfältigen Beziehungen zu Malern, Musiker*innen und Schriftsteller*innen hatten ihm einen Nimbus in der Oppositionsbewegung der DDR eingebracht. Er genoss das Vertrauen vieler Künstler*innen, ein Vertrauen, das er, wie sich herausstellte, missbrauchte, um regelmäßig das Ministerium für Staatssicherheit der DDR über die Aktivitäten der Szene zu informieren. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, bewusst Situationen zu schaffen, damit die Stasi die Möglichkeit hatte, Wohnungen und Ateliers oppositioneller Künstler*innen zu durchsuchen.