Das Trio mit der Vorliebe für Quittenbrause, barfuß am Kotti, Bonuspunkte im Supermarkt und weiteren hinterfotzigen Aktivitäten, verzichtet weitgehend auf elektronische Gitarren und Mittelmaß. Wobei die besungenen Alltagsinhalte anderes suggerieren. Denn das von Apocalypse Vega besungene Tagebuch einer Großstadt-Rebellin ist so offen, tagträumerisch und nihilistisch-böse wie das Erwachen am Sonntag Vormittag nach einer wilden Party. Also erst mal die viel zu große Sonnenbrille auf und bei Nieselregen ins Caferoyal nach Friedrichshain, Limonade, einen Milchkaffee und einen Kräutertee bestellen. Oder doch lieber Rotwein, Vodka-Ahoj-Brause?
„Egal, ich gehe wieder zurück und lege mich ins Bett.“ Schließlich gibt es immer Gründe für Probleme und wie sie zu bewältigen sind: »Ich will Probleme...aber ohne dich!« Und manche Probleme klären sich von selbst. Ansonsten helfen Selbst-Optimierungsprogramme wie Punk-Aerobic, in die Spree kotzen oder Kurzzeit-Therapie: »Blutende Fresse, dank Kurzzeittherapie.« So geht das Leben seinen Lauf und hält nichts zurück oder außergewöhnlich Spannendes bereit. Es sei denn, du wachst in einem fremden Bett auf und hast keine Ahnung, wo du bist. »Alles etwas übertrieben. Lass uns auch mal wieder lieben!« Und zwischen den Zeilen ist Liebe dann auch immer wieder das zentrale Thema. Im weitesten Sinne. Aber es gibt auch Platz für Melancholie und Verweigerung: „Du rufst mich wieder mal nicht an. Und wenn doch, geh’ ich nicht ran“. Rebellion ist nicht einfach nur Nein zum System, sondern auch ein Moll oder Dur gegen die Harmonie. Ein Fuzz, um das Dreckige im Pop herauszukitzeln. Struktur und Kontingente. Ein Hau-Drauf auf die Felle bis die Atome explodieren oder das Kind seinen Willen kriegt. Ihr seht schon. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Kolchosen-Schema trifft auf das Coca-Cola-Schema. Nylon-Punk trifft auf russische Klassiklehre. Das bietet Reibung und Konflikte. Aber auch Kreativität und Energie. Songs wie „Zahlen“, „Kozmic Schlüsseldienst“ oder „G!“ sind ganz schön Punk, ey! Und Gesellschaftstänze wie Pogo, Tango und Kasatchok sorgen für feucht-fröhliche Abende allein in der WG-Küche, zu Zweit im Bahnhofsklo oder in Scharen auf dem Ruhrpott-Rodeo. Manchmal ist die Musik einfach pure Unterhaltung. Aber auch irgendwie Punk-Kabarett, vorgetragen von Feministin mit Tourette. Einfach fluchen, ohne Schelte zu beziehen. Und doch überwiegt der Eindruck, dass Apocalypse Vega sich gerne und oft aufregt. Ob Bananasplit, Beziehungsdrama oder Löcher im Gehweg. Es gibt immer etwas, worüber es sich aufzuregen lohnt...so mensch will. Und da spielt es auch keine Rolle, ob du studiert hast oder RTL2 schaust.
»Fickt euch selber und bye bye!«
Ein Schlagzeug- und Gitarrensolo später unterhalte ich mich mit
AV: Apocalypse Vega (Gesang, Gitarre, Driver)
BD: Bene Diktator (Drums, Gesang)
HB: Hr Bottrop (Bass, Gesang, Fuzz)
über Punk und Provokation, Kunst und Aufruhr, Gästelisten, dem post-dadaistischen Soundtrack-of-our-Lives oder anders ausgedrückt: Punk mit Essenz, ganz ohne Schnick-Schnack!
Der Bandname und eure drei Pseudonyme (Bene Diktator, Apocalypse Vega, Johnny Bottrop) lassen vermuten, dass Punk und Kunst, aber auch Provokation, Mittel zum Zweck sind, um zu
unterhalten und/oder sich zu positionieren. Welche künstlerischen Mittel sind denn noch bei euch zu finden, die geeignet sind, um Punk und Provokation zu verknüpfen?
HB: Ohhh. Da will ich auf gar keinen Fall darüber nachdenken. Muss aus der Situation heraus entstehen. Spontan.
AV: Ich weiß auch gar nicht, ob es um Unterhaltung geht. Also mir eigentlich weniger. Und positionieren möchte und kann ich mich auch nicht. Eher was wegschmeißen, reinschmeißen, kaputt
schmeißen, ganz schmeißen...
BD: Keine Ahnung, ob da was verknüpft wird. Das liegt wohl im Ermessen der Leute, die sich von Dingen, die die wir tun oder sagen, provoziert fühlen.
HB: Ich empfinde uns gar nicht provokativ. Aber auch nicht glatt und gefällig, mehr der indirekte Punch.
Welchen Einfluss hat Punk und Kunst bei euch auf Musik, Inhalt und Performance?
HB: Bei mir persönlich ist Punk die Stiefmutter von sehr Vielem - fast Allem - nicht nur in der Musikmacherei. Verschwendete Jugend in der Kleinstadt und daraus Wegkommen und Eintauchen in
verschiedene Städte und Szenen. Selber machen. Ohne Mittel und Wissen trotzdem immer irgendwie selber machen…
AV: …beziehungsweise mit wenig Wissen oder wenig Mitteln. Nicht Gitarre spielen zu können und es trotzdem machen. Nicht singen zu können und eben schreien.
BD: Punk hat auf jeden Fall eine große Rolle gespielt, aber genauso haben mich auch schon immer verschiedenste andere Musikstile beeinflusst. Wenn etwas einen Nerv trifft ist es mir ziemlich egal
ob es Punk, Jazz, Pop oder sonst was ist.
HB: Punk ist ja ein Selbstwiderspruch an sich. Punk hat abgewirtschaftet. Punk ist voll tot. Punk kommt. Und ist wieder sowas von lebendig. Punk kommt mit jeder Generation neu hervor. Bei den
Konzerten sehen wir viele junge Menschen, mit denen wir gar nicht gerechnet hätten. Großer Anteil Frauen/Mädchen, einige zum ersten Mal auf einer Punkshow. Divers. Viele Möglichkeiten. Viel
Aufruhr.
AV: Ich weiß nicht, was Punk ist. Für mich war und ist es immer auch die Suche nach „Ich weiß jetzt wie“, und das nur für einen kurzen Augenblick.
Solange Punk im Rahmen eines Kunstereignisses auftritt, stellt er keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, sondern nur, wenn er ohne erkennbaren Kunst-Charakter in den Alltag
eindringt. War es das also mit der subversiven Schlagkraft?
AV: Verstehe ich nicht.
HB: Falsche Frage. Nimm einen Akkord, nimm diesen zweiten Akkord und jetzt gründe eine Band. Punk ist immer auch Kunst. Und Kunst ist die „einzige Tätigkeitsform, durch die sich der Mensch als
wahres Individuum manifestiert“ (sagte Duchamp, oder?)1. Ist die Trennung zwischen „gefährlich“ und „Kunstform“ so richtig? Ich vermute
mal, dass sich alle frühen wegweisenden Punk-Koryphäen auch immer als Künstler gesehen haben, ob Patti Smith oder Sex Pistols, Wire, Slits..., ob Fanziner oder Grafiker…
BD: Außerdem können Musik und Texte auch im Rahmen einer wie auch immer gearteten Veranstaltung Denkanstöße geben, die sich zu etwas Konkretem verfestigen.
AV: Oh, Hr Bottrop, was meinste denn mit „wahrem Individuum“? Der Spruch ist Quatsch, denke ich.
HB: Der ist nicht von mir, sondern Duchamp. Immerhin…
AV: …und ob Punk immer Kunst ist, zweifel ich auch an. Punk kann auch Leid sein, oder Mut. In Brandenburg angespuckt zu werden und trotzdem weiter zu machen. Das hat nicht unbedingt was mit Kunst
zu tun. Sondern eher was mit Dringlichkeit und Existenz.
HB: Unbedingt! Und wenn in deiner Frage die Kunst als generell nicht gefährlich angesehen wird, dann verlass mal Berlin und die westliche Welt, denn fast überall außerhalb unseres „safe European
Homes“ werden Künstler*innen, Musiker*innen, Dichter*innen und Filmemacher*innen immer noch für ihre Werke in Knäste und Kerker verschleppt. Oder geh zurück nach 1933, als alles verboten,
verbannt oder verbrannt war. Aus dieser Erfahrung haben die Westalliierten dafür gesorgt, dass nach dem 2. Weltkrieg die sogenannte Kunstfreiheit als etwas Unumstößliches in die neuen Gesetze des
besiegten Nazi-Schlands eingeschrieben wurde. Nutzt diese Freiheit. Das können die Wenigsten auf diesem Planeten.
Bei Punk als Populärmusik handelt es sich um einen profitablen Markt, dessen Image sich von „schmuddelig“, „rebellisch“ und „verwegen“ in „lebensbejahend“, „emanzipatorisch“ und „vital“
gewandelt hat. Szene-Purist*innen sprechen in solchen Fällen gerne vom „Ausverkauf“. Ist das der Moment, warum ihr Punk karikiert/persifliert oder mit gängigen Vorurteilen
kokettiert?
AV: Ich denke darüber überhaupt nicht nach. Ist mir total egal.
HB: Ich hab eigentlich gar nichts gegen „lebensbejahend“.
BD: Ich empfinde unsere Musik auch gar nicht als Persiflage. Wenn mir Puristen erzählen, dass Punk so oder so sein muss, weil es eben früher auch so war, finde ich das eher langweilig.
HB: Wenn wir jeden Abend die Vornamen „Ratte", „Rotze“ und „Kotze“ als Reserve auf der Gästeliste am Einlass stehen haben, dann ist das unser voller Ernst. Wir möchten eigentlich bloß die
Punkmusik mit zwei Nylonsaiteninstrumenten und einem minimalen Schlagzeug auf den eigentlich Kern reduzieren. Purer Song, purer Text, kein Schnickschnack, nur die Essenz. Aber ob uns das immer
gelingt, weiß ich nicht. Wir versuchen es. Oh scheiße. Jetzt dürfen wir nicht mehr die Reserve-Namen für die Gästeliste verwenden.
Wie kann euer „post-dadaistischer Soundtrack-of-our-Lives“ denn helfen, Krisen und den Alltag zu bewältigen?
AV: Ich bewältige meinen Alltag nicht. Und habe auch nicht den Anspruch, den anderer Personen fremd zu bewältigen.
BD: Hmm.
HB: Wir wären ohne diese Band zwar immer noch am Leben, aber definitiv unglücklicher. Und Vegas Texte sprechen nicht nur für uns, sondern stellvertretend für viele Frauen und Männer aus allen
Gegenden, die uns dann schreiben, dass sie sich durch die Lieder verstanden fühlen.
Kommen wir zur Musik. Im Wesentlichen sind die Songs runtergespielte, akustisch instrumentierte, eingängige Popsongs, liebevoll, aber unaufdringlich arrangiert. Es gibt Referenzen von
VIOLENT FEMMES, Element of Crime, bis zu Wir sind Helden. Wer oder was ist denn wirklich Motor und Motivator für eure Mischung aus Melancholie, Witz und Wut und woher rührt diese?
HB: Es hat nie einen Plan gegeben.
AV: Naja, einen Plan hat es zwar nicht gegeben, aber Motoren und Motivatoren. Wie z.B. irgendwelche Parameter aus unseren jeweiligen Vorgeschichten, irgendwelche Zusammenspiele von Dingen, von
Umständen, beendete Beziehungsgeschichten, Verluste, Lust auf irgendwas, Lust auf Musik und Texte, irgendwas verarbeiten wollen, endlich mal was Neues machen, endlich mal Bass spielen zu dürfen.
Zeit, ein Golf 2, wichtige kleine Augenblicke in Kreuzberger Nächten, auf der Suche sein, offen sein, Themen haben und finden wollen, Punk sein können, Punk nicht hinterfragen zu müssen...
HB: Es gibt auch keine Rezeptur oder so was. Ich will auch gar nicht wissen, wie so eine Rezeptur aussehen könnte, denn im gleichen Moment würden wir ja die Unbekümmertheit verlieren. Das wär
scheiße.
BD: Rezepturen sind gut für Kuchen.
AV: Nee, ich will ausrasten, rausschreien, singen. Vielleicht auch nichts sagen, trotzdem schreien und kurz zurücktreten und singen. Genau das ist vielleicht so ein Hauptmotivator: Es ist okay,
wenn du schreist! Es ist okay, wenn du schweigst! Punk bzw. Musik ist ja auch ziemlich egoistisch...Das ist Fallsucht!
Ihr reitet mit dem selbst kreierten Nylon-Punk-Genre auf einer ganz eigenen Welle. Ist Schrammelpunk zu negativ konnotiert?
HB: Das Wort „Schrammelpunk“ ist zu gut für uns. Wir haben diese Güteklasse noch nicht erreicht.
BD: Außerdem klingt Nylon-Punk viel besser.
HB: Soweit ich es mitbekomme, gibt es zwar eine Menge Akustik- und Schrammel-Punk-Bands, aber die verwenden alle Stahlsaiten auf den Gitarren. Wir sind die einzige Truppe mit ausschließlich mit
Nylonsaiten.
AV: Stahlsaiten tun weh.
Was hilft gegen Lampenfieber und Nervosität vor dem Auftritt?
AV: Das traue ich mir nicht zu sagen.
BD: Kinderlieder im Kanon singen.
HB: ‚Echte' Probleme erschaffen, selber erschaffen. Irgendwas mit Technik und Soundcheck kaputt machen. Oder Reifenpanne. Oder Magen-Darm-Seuche.
Wie habt ihr eure kollektiven Provinzerfahrungen in Berlin erfolgreich nutzen können?
HB: Ja.
BD: Hä?
AV: Ich habe keine kollektiven Provinzerfahrungen. Wenn es nur um Provinzerfahrungen gehen sollte, dann: die kann ich nicht erfolgreich nutzen.
„Jetzt auch in Berlin“ ist euer Deutschlandlied. Was qualifiziert das Lied für diese Bürde?
BD: Genau das, wovon es handelt. Es ist aber eher ein subjektives Provinz-Lied.
HB: Es ist keine Hymne und kein Siegerlied. Kein Chauvinismus, kein Staat, kein Kartoffelsalat, kein Gott, kein Schrott.
Wie habt ihr die Corona-Pandemie genutzt, um kreativ aktiv zu bleiben und wie nutzt ihr die Kreativität ist für die Zeit danach?
BD: Wir hatten trotz Lockdowns und Beschränkungen das Privileg, in allen möglichen Zeitfenstern das eine oder andere Konzert zu spielen. Vielen anderen Bands war das nicht möglich. Das hat schon
sehr geholfen.
AV: Und wir haben auch einfach trotzdem geprobt. Ziemlich oft, weil wir ja Zeit hatten.
HB: Das durften wir auch in der Zeit des Lockdowns. Sogar mit Erlaubnis des Berliner Senats. Als anerkannte Kulturarbeiter*innen durften wir drei zusammen in einem Raum proben. Nur den
Feierabend- und Hobbymusiker*innen war’s offiziell verboten. Das ist lustig. Wir haben das komplette Album „musik“ eingeprobt. Anfang März 2022 ist es erschienen. Am 20. März 2022 wurde das Ende
der Konzert-Lockdowns angekündigt und am 2. April begann unsere Tour. Nur ein Konzert musste abgesagt werden. Wir hatten ein unfassbares, unverschämtes, unglaubliches Glück.
Vor allem aber sind wir gesund geblieben. Und alle unsere Freund*innen und Leute, die uns viel bedeuten, auch.
Fußnote:
1. Marcel Duchamp, eigentlich Henri Robert Marcel Duchamp, war ein französisch-amerikanischer Maler und Objektkünstler. Er ist Mitbegründer der Konzeptkunst und zählt zu den Wegbereitern des Dadaismus und Surrealismus. ↩