Noch bis ins Jahr 1908 war es den Frauen untersagt, sich in politischen Verbänden zu organisieren oder auch nur an Versammlungen mit politischem Charakter teilzunehmen. Insofern war das größte Anliegen der bürgerlichen Frauenbewegungen das Erreichen der formalen Gleichheit, die Rechtsgleichheit inklusive des aktiven und des passiven Wahlrechts, sowie die Forderung des Rechts auf Arbeit und gleicher Bezahlung dieser.
Die Geschlechterfrage
Während des 1. Weltkrieges hatten Frauen in der industriellen Kriegswirtschaft eine Phase der vorübergehenden Selbstständigkeit und materiellen Unabhängigkeit inne, die sie nach dem Krieg an die
zurückgekehrten Männer wieder verloren. Der Verlust ihrer Rolle als Arbeiterinnen blieb in den überwiegenden Fällen mit einer Rollenzuweisung im Rahmen der traditionellen patriarchalischen
Familienstrukturen verbunden.
Auch die von Männern dominierte FAUD verfolgte nicht das primäre Ziel, emanzipatorische Inhalte und Aspekte in ihren Organisationsprinzipien einzubinden. Frauen sollten eingegliedert werden. In
der Folge gründeten sich Anfang 1920 in verschiedenen Orten „Frauenbünden“, die neben der anarchosyndikalistischen Männerorganisation bestanden. Der Syndikalistische Frauenbund (SFB) hatte bis zu
1.000 Mitglieder (Berlin: 200).
1921 kam es in Düsseldorf zur „1. Reichskonferenz der syndikalistischen Frauen“, auf der schlossen sich die bisher weitgehend auf sich
selbst gestellten Frauen-Bünde zu einer Föderation zusammen und wählten eine Föderationsleitung, die den Informationsfluss unter den einzelnen Gruppen sicherstellen sollte.
Der deutsche Anarchosyndikalist Max Winkler kritisierte die mangelnde Geschlechtsfrage der Arbeiterorganisationen in seiner Broschüre „Das Geburtenproblem und die Verhütung der
Schwangerschaft“ aus dem Jahre 1925. „Die Geschlechtsfrage wird sowohl von Parteien als Gewerkschaften als nebensächlich, als überflüssig angesehen“1.
„Wir machen immer wieder die Erfahrung“, bemerkte dazu Trautchen Caspers, eine Aktivistin der FAUD, „dass die Männer in unserer Bewegung die Frau nur als Sklavin, Magd und Gebärmaschine
betrachten, nicht aber als Menschen und Kameradin“2.
Trautchen Caspers war eine der wenigen proletarischen Frauen in der FAUD, die das Ideal der „freien Liebe“ propagierte und auch praktizierte.
Jedoch vertrat sie auch die Auffassung, dass die „Befriedigung des Geschlechstriebes ohne Liebe zur Perversität“ führe3.
Die Anträge der Frauen auf den FAUD-Kongressen wurden mit der Geschlechterfrage präzisiert. Milly Witkop-Rocker4
führte auf „dass die Frau nicht nur durch die Kapitalisten ausgebeutet, sondern daneben auch noch von der privilegierten Männerwelt entrechtet (werde). Bei dieser Situation könn(t)en natürlich
nicht die Frauen von den Männern erwarten, dass diese ihre Privilegien freiwillig aufgeben, ebenso wenig wie das die Kapitalisten (täten).“
Um dem SFB eine programmatische Grundlage zu geben, arbeitete Milly Witkop-Rocker eine Prinzipienerklärung aus5. In ihr hob sie die
besondere Rolle der Frau als Konsumentin hervor, da hier „mit der Waffe des Boykotts“ effektiv in den Wirtschaftsbereich eingegriffen werden könnte. Außerdem forderte sie die Gleichstellung der
Hausfrauentätigkeit mit der Berufstätigkeit, um dadurch auch die Bedeutung der Frau als Erzieherin zu unterstreichen. Dies kam den kulturrevolutionären Intentionen des Anarchosyndikalismus
entgegen, denn die Bewusstseinsentwicklung durch eine freiheitliche Erziehung besaß den zentralen Stellenwert eines gesellschaftsverändernden Ausgangspunktes.
Die Frauenpolitik der FAUD war spätestens 1930 – zumindest organisatorisch – gescheitert. Das Scheitern der syndikalistischen „Frauenbünde“ hatte viele Gründe. Zum einen ist es auf die Ausklammerung der Bedürfnisse der proletarischen Hausfrauen aus den Emanzipationsstrategien der Arbeiterparteien zurückzuführen, zum anderen, dass die Frauen durch die Konfrontation mit den „widersprüchlichen Verhaltensweisen“ der Männer nachhaltig abgeschreckt wurden.
Darüber hinaus gab es auch unter Anarchosyndikalistinnen anti-emanzipatorische Glaubensaspekte, wonach die Erwerbsarbeit der Frau als notwendiges Übel der Zeit angesehen wurde, was der „Natur“ der Frau im Grunde widersprach. In der herrschaftsfreien kommunistischen Gesellschaftsordnung sollte die Frau die von ihr ersehnte Erfüllung als Mutter finden können. Das passte so gar nicht in das Konzept, die Befreiung der Frau voranzutreiben. Und so stellte sich rasch der patriarchale Familienalltag ein. Die Frau machte den Haushalt, der Mann die Politik.
Die Befreiung der Frau
Emma Goldman6 war eine der Ersten, die anarchistische Agitation mit frauenspezifischen Themen verband und innerhalb der anarchistischen
Bewegung für die Befreiung der Frau kämpfte. Oft vertrat sie dabei Einstellungen, mit denen sie sich auch in Opposition zu anarchistischen GenossInnen stellte. An Goldmans Standpunkten zur
Frauenbefreiung wird ihre Verknüpfung von anarchistischen mit feministischen Positionen deutlich. Die Missstände, die sie in Bezug auf die Frauenunterdrückung anprangert, sieht sie nicht
losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen; Frauenunterdrückung ist für sie ein Teil der Unterdrückung des Volkes insgesamt, hat die gleiche Ursache und kann daher nur im Kampf gegen
das bürgerlich-kapitalistische System erfolgreich überwunden werden. Emma griff in ihren Texten auch die Widersprüche von Emanzipation und das Frauenwahlrecht auf: „Es ist heute für die Frau
notwendig geworden, sich von der Emanzipation zu emanzipieren, will sie wirklich frei sein. Das mag paradox klingen, ist jedoch nur zu wahr“ Sie kritisiert allerdings nicht, dass Wahlen nicht
zulassen, die richtigen Fragen zu stellen. Damit fehlt die Aufforderung, dass „die einzige wirkliche Wahl, die sie vollbringen könnten, wäre, mit dem Wählen aufzuhören.“
Goldman gelangt zu der Erkenntnis, dass der Kampf für die Verbesserung weiblicher Lebensbedingungen gleichzeitig mit dem Kampf für eine befreite Gesellschaft stattfinden muss.
Bezogen auf die Arbeit deutscher Anarchosyndikalistinnen und die Frauenbünde stellten diese emanzipatorischen Befreiungsansätze eine Diskrepanz zum Familienalltag dar. Die engagierten Genossinnen
stellten enttäuscht fest, dass viele Hausfrauen nicht nur durch häusliche Arbeiten verhindert waren, sondern vielfach Bequemlichkeit und fehlende innere Anteilnahme die Frauen davon abhält, sich
mit ihrer Befreiung zu beschäftigen. Viel Frauen besuchten die Veranstaltungen der Frauenbünde wegen der Geburtenaufklärung und stiegen dann wieder aus. M. Witkop-Rocker machte als wesentliche
Ursache der geistigen „Rückständigkeit“ der Frau ihre Überlastung durch die Hausarbeit aus, die die Frau geistig verkümmern lasse. Ein weiterer Faktor, der die Befreiung der Frau ausbremste, war
der reichliche Kindersegen. Insofern war eine Geburtenregelung zur Befreiung der Frau von der „Sklaverei der Gebärmutter“ ein zentrales Anliegen der Frauenpolitik der FAUD. In einem praktizierten
„Gebärstreik“ sahen die Anarchosyndikalisten ein geeignetes Mittel, um das System kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Unterdrückung in seinem Nerv zu treffen. Eine weitere wichtige
Kampagne der FAUD war die Abschaffung gegen den Paragrafen 218 für das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Frau auf ihren eigenen Körper.
Um das Leben der Hausfrauen und Mütter kurzfristig oder langfristig zu erleichtern und die Befreiung der Frau voranzubringen, konzentrierten die Theoretiker und Theoretiker
innen der FAUD ihre Überlegungen auf drei wesentliche Bereiche: auf eine Verkürzung der Arbeitszeit für die Hausfrau, auf die Geburtenbeschränkung und alternative Formen des Zusammenlebens von
Mann und Frau.
«Die Frauenrechtsbewegung hat sicherlich viele alte Fesseln gesprengt, gleichzeitig jedoch zum Entstehen neuer beigetragen»
Emma Goldman
Anarchismus und Feminismus – Ort der Differenzen
Seit Anfang der 1970er gab und gibt es einige Versuche Anarchismus und Feminismus zu verbinden. 1973 veröffentlichten Frauen aus Melbourne, Australien das
anarcho-surrealistisch-aufständisch-feministische Manifest: „(...)We believe that by destroying the mentality of submission to authority in ourselves and others, we will not only be creating new
weapons to destroy the State, but we will be sabotaging the self- perpetuating process of capitalism.“7
Anarcha-Feministinnen wie Peggy Kornegger und Carol Ehrlicher griffen für ihre anarchafeministischen Grundsätze auf die Prinzipien des kommunistischen Anarchismus von Kropotkin8 zurück.
Für Peggy und Carol sind „Feministinnen natürliche Anarchisten“ und konstatieren, dass „die Verbindung des Anarchismus mit dem Feminismus eine vollkommene Vereinigung von Prinzipien und Idealen
wäre“. Im Anarchismus findet sie das im Feminismus fehlende Revolutionskonzept:
„Der Anarchismus gibt uns eine ökonomische Analyse, er schlägt uns ein Organisationsprinzip vor und einen möglichen Plan für die revolutionäre Aktion(...)Der Anarchismus bestärkt das
gefühlsmäßige Verständnis des Feminismus nach der Notwendigkeit einer Massenbewegung und der Revolution, die von den Massen getragen und geführt wird, anstelle einer elitären Gruppe von
Berufsrevolutionären“9.
Anarcha-Feminismus schärft den Blick dafür, „dass alle Formen der Unterdrückung gleich wichtig sind; dass deshalb keiner Bewegung über eine andere Vorherrschaft ausüben darf.
Er betont, dass die Wurzeln der Unterdrückung weder ausschließlich materiell noch ausschließlich kulturell angelegt sind, und dass beide Veränderungen, die sozio-ökonomische und die
geistig-kulturelle notwendig sind, um die Unterdrückung der Frau zu beenden und eine neue gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen“10.
Eine allgemeine Politik „für Frauen“ kann es nicht geben. Frauen werden auf Grund ihres Geschlechtes unterdrückt. Unterdrückung äußert sich für jede einzelne je nach dem Land, in dem sie lebt, je
nach der sozialen Schicht, der sie angehört, je nach ihrer kulturellen Herkunft, je nach ihrer Arbeit anders.
Viele Aspekte des Anarchismus werden von einigen radikalen Feministinnen geteilt: dezentralisierte Gruppen, Kleingruppen, die mit Konsensbeschluss arbeiten, oder auch die
Einheit von Mitteln und Zielen werden innerhalb der radikal-feministischen Gruppen routinemäßig praktiziert. Peggy Kornegger argumentiert deshalb sogar, dass „Feministinnen seit Jahren in Theorie
und Praxis unbewusst Anarchistinnen gewesen sind“11. Dem widersprechen viele (radikale) Feministinnen, die nichts mit anarchistischen
Prinzipien im Sinn haben und sich allein auf das Patriarchat als Wurzel aller Herrschaft konzentrieren. Sie sehen es sogar als entscheidende Schwäche der Frauenbewegung, dass anarchistische
Prinzipien übernommen werden. Anarchafeminismus verneint Vorrangigkeiten, die Aufgabe der Frauenbewegung über den Klassenkampf zu stellen, aus der sich eine neue Hierarchie etabliert. Alle Formen
von Herrschaft sind gleichermaßen nicht tolerierbar und der Kampf gegen Herrschaft sollte auf vielen verschiedenen Ebenen geführt werden. Anarcha-Feministinnen stellen eine Theorie zur Verfügung,
die alle Hierarchien und Formen von Herrschaft bekämpft, ob sie sexistisch, rassistisch, klassenbezogen oder staatlich sind.
Fußnoten:
1. Max Winkler, Das Geburtenproblem und die Verhütung der Schwangerschaft (Amsterdam, 1925), S. 1. ↩
2. Protokoll des 15. Kongresses der FAUD, S. 69. ↩
3. Trautchen: Etwas über die Freie Liebe, in: Der Syndikalist 8 (1926), Nr. 5. ↩
4. Milly Witkop (1886-1955), eine Jüdin ukrainischer Abstammung, war die Lebensgefährtin Rudolf Rockers, den sie 1896 in London kennengelernt hatte. ↩
5. Was will der syndikalistische Frauenbund, 2. Aufl., Berlin 1923, S. 4. ↩
6. Emma Goldman, geb. am 27. Juni 1869 in Kaunas, Litauen, gestorben am 14. Mai 1940 in Toronto, Kanada, war wohl die bekannteste Vertreterin des klassischen Anarchismus, eine engagierte Aktivistin in der US-Frauenbewegung und antimilitaristische Kämpferin während des Ersten Weltkriegs. Sie gilt heute als eine theoretische Begründerin der modernen Anarcha-Feministischen Bewegungen in den USA und Westeuropa. ↩
7. http://www.takver.com/history/aia/aia00032.htm ↩
8. http://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/peter-kropotkin ↩
9. Ron Hayley "Eine Geschichte des Anarchafeminismus", S. 51 ff ↩
10. „Der Anarchismus und seine Verbindung zum Feminismus“, Libertad Verlag, Berlin ↩
11. ebendem ↩