Henryk, geboren 1964 in Ostberlin, arbeitete nach einer Lehre als Buchbinder als Drucker im Progress Filmverleih und ist seit 1986 freischaffender Schriftsteller.
1982 gründete er die Punkband „The Leistungsleichen“ und war ab 1985 in der politischen Opposition Ostberlins aktiv.
Nach dem Erscheinen eines ersten Gedichtbandes 1996 schrieb Gericke bis 2004 fast ausschließlich Lyrik, vereinzelt auch Essays, Artikel und Rezensionen.
Im selben Jahr erhielt er das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin und begann, sich intensiver mit dem Thema Subkultur und Gegenkultur in der DDR zu beschäftigen. Es
entstanden Ausstellungen (u. a. mit Michael Boehlke: ostPUNK! - too much future; 2005), ein Dokumentarfilm, Rundfunksendungen, Artikel und Bücher.
Seit 2019 gibt Henryk die Schallplatten- und Kassetten-Serie „tapetopia – GDR Undergroundtapes“ heraus.
»Ich will nichts dokumentieren, sondern Tapes veröffentlichen, die vom Verschwinden bedroht sind und die es musikalisch verdient haben, zu überdauern!«
Henryk, warum gibt es die tapetopia-Reihe?
Die Serie habe ich ins Leben gerufen, um ausschließlich Musik zu verlegen, um diese vor dem Vergessen zu retten und die es in meinen Ohren wert ist, gehört zu werden. Es gab
auch viele Tapes, die gar nicht dafür gedacht waren, für eine größere Klientel gehört zu werden und die es meiner Meinung nach auch nicht wert sind. Es gibt auch Labels, die meinen, alles
veröffentlichen zu müssen, was in der DDR produziert worden ist. Das halte ich für Quatsch. Ich veröffentliche Tapes und Vinyl von Bands, die für mich Qualität und Substanz haben. Es gibt eben
auch eine Menge Dutzendware von einer Menge austauschbarer Bands, wo ich mich frage, warum wird dafür Vinyl vergeudet. Ich weiß, es gibt Sammler*innen, die wirklich alles kaufen und haben wollen.
Ich finde das für mich vergeudete Lebenszeit, Sachen zu veröffentlichen, die nichts Neues beizutragen haben. Deswegen bringe ich auch Sachen raus, die weg vom Deutsch-Punk hin im
(experimentellen) Post-Punk-Sektor angesiedelt waren. Ich bin mit Punk wie SCHLEIM-KEIM, PLANLOS, NAMENLOS, WUTANFALL in Berührung gekommen und aufgewachsen und bin Teil dieser Szene. Aber
musikalisch interessanter finde ich Post-Punk und Artverwandtes.
Welchen Bezug hattest du denn zum Medium Kassette?
Als ich mit 12/13 Jahren anfing, mich bewusst mit Musik zu beschäftigen, habe ich Tonbänder gehört. Kassetten waren da noch nicht so verbreitet. Ich habe dazu auf der
tapetopia-Seite einen Text verfasst.1
Es gab ORWO-Kassetten mit billiger Qualität aus der VEB Filmfabrik Wolfen, die sich immer wieder zu einem unbrauchbaren Bandwirrwarr auflöste. Und zum Verständnis: Bei einem durchschnittlichen
Monatseinkommen eines jungen Berufsanfängers von etwa 250 DDR-Mark waren 20 Mark pro Kassette nicht gerade verlockend, zumal die Monatsmiete für eine ältere 1-Zimmer-Wohnung nur etwa 25 Mark
betrug. Für diejenigen, die keine West-Verbindungen hatten, um an Tapes zu kommen, waren Tapes ein wertvoller Rohstoff. Um an Musik zu gelangen, musstest du entweder Leute kennen, die Musik vom
Radio aufgenommen und dann weiterkopiert haben oder von Bands, die ihre Musik in Kleinstauflagen veröffentlicht haben. Die Kassette wurde dann immer wieder auch überspielt. Da hast du überlegt,
was nimmst du auf, wann überspielt man. Die Kassette war für mich das allererste Musik-Medium neben dem Radio. Aufgenommen habe ich oft Musik von John Peel auf BFBS.
Ich habe ja auch in den 80er Jahren Punk-Musik aus dem Radio aufgenommen, die in einigen Sparten der Sender lief. Es gab aber auch sogenannte Überspiel-Listen, wo du dir Musik auf
Kassetten zusammenstellen konntest. Kanntest du das auch?
Was sehr verbreitet war, waren Kassetten-Bücher. Also Hefte mit Leer-Seiten, wo du ganz akribisch die Musik von Bands eingetragen hast. Vorausgesetzt du hast die Namen auch vom
Hörensagen richtig versanden. Da kam es mitunter zu witzigen Verwechslungen. Also da tauchten Namen von Bands auf, deren Musik im Umlauf waren, die es gar nicht gab. Eine schöne Geschichte: Da
hatte jemand Musik auf Tape, die er vom Namen her geil fand, die hieß PUDDING, wo sich später herausstellte, dass das in Wahrheit Musik von Chris Spedding war. Es kam zu unglaublichen
Verwechslungen, weil man die Namen falsch verstanden hatte. Ich habe zu Hause noch zwei von diesen Büchern. Wenn man die durchblättert, mit dieser Kinderschrift...absolut herrlich!
Bist du denn selber auch ein Musik-Sammler?
Meine Wohnung ist voller Platten und Singles, bin aber kein Sammler. Mich ängstigt der Begriff der Sammelei, obwohl ich mit tapetopia auch für Sammler produziere. Alles, was
in an Original-Fotos und Tapes zum Bearbeiten bekomme, versuche ich so schnell wie möglich wieder an die Urheber*innen zu schicken, weil mich das belastet.
War die DDR-Post-Punk- und Avantgarde-Szene ähnlich von staatlichen Repressionen ausgesetzt wie die Punk-Szene?
Die Punk-Szene im Allgemeinen war am stärksten von Repressionen betroffen. Die Post Punk-Szene war nicht so politisch und hat sich nicht mit breiter Brust gegen den Start
gestellt wie so viele Punkbands in der DDR, sondern sind sehr viel subtiler vorgegangen. Das hat vor allem auch den Hintergrund, dass die Post-Punk-Szene inhaltlich verknüpft war mit Kunst,
literarischen Texten, Dadaismus, und weniger parolenhaftes Gebrülle wie im Punk. Hinzu kommt, dass der Staat auch überfordert war und zum Teil gar nicht mehr wusste was jetzt Punk ist, was Metal,
was Postpunk. Und dann waren da Bands am Start wie ORNAMENT & VERBRECHEN2. Da wusste die Stasi doch nichts mit anzufangen. Ein
weiterer Beleg für die Überforderung, aber auch für die Inkompetenz der Stasi bzw. die staatliche Kulturbehörde, waren die englischen Texte der Postpunk-Bands. In der DDR gab es ja nur
rudimentäres Schulenglisch, was das Verständnis noch mal erschwert hatte. So gab es auch ein großes Misstrauen bei der Einstufung gegen Bands mit englischen Texten. Es gab natürlich auch
Bespitzelungen von der Stasi in der Kunst- und Post-Punk-Szene. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist sicherlich Sascha Anderson3. Es gab
aber auch bei einigen Bands in der Postpunk-Szene Situationen, wo Konzerte verhindert worden sind. Ein weiterer Grund, warum das nicht mit der Punk-Szene so zu vergleichen ist, dass die Idioten
bei der Staatssicherheit irgendwann begriffen haben, dass sie dem Phänomen nicht mehr beikommen, und das nicht mehr gehandelt bekommen. Und was haben die gemacht? Sie haben das Konstrukt „die
anderen Bands“4 gepflegt und haben denen Auftrittsmöglichkeiten und Aufnahmemöglichkeiten gegeben. Und wer da zugegriffen
hat... das ist eine verständliche Versuchung, sich vor der Kommission zu stellen, vor Funktionären, irgendwelchen idiotischen Musiklehrer*innen und alten Ostrockern. So oder so ähnlich war
die Kommission im zuständigen „Kreiskabinett für Kulturarbeit des Rats des Kreises“ zusammengestellt. Dafür haben die Bands einen hohen Preis bezahlt. Aber mit der Einstufung und der sogenannten
‚Pappe‘ haben die Bands dann ihre eigenen Texte singen können, sind durch Clubs getingelt und konnten einigermaßen von ihrer Musik leben. Für meine Begriffe ging es da zu weit, an dem Punkt, wo
sich Bands mit der FDJ zusammengetan und Verträge geschlossen haben.
Ronald Galenza5 hat für dieses staatliche Konstrukt „die anderen Bands“ mal den Begriff „Musik aus kontrolliertem Anbau“ geprägt. Das
war ein wenig polemisch, und vielleicht auch ein bisschen überspitzt, aber zutreffend.
Kurzer Einschub
Die FDJ und die Rockkultur-Szene in der DDR
Es war ein Teil einer Strategie der politischen Kontrolle. Während der 80er Jahre entwickelte die Führung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) die Haltung, dass es besser gewesen wäre, wenn statt
Repression die FDJ die westliche Musik und Konzerte benutzen würde, um ihre eigene Organisation zu stärken. Aus diesem Grund waren die FDJ-organisierten Konzerte wie das am 19. Juli 1988 mit
Bruce Springsteen nicht nur Spaß, sondern auch ein Versuch, die Gunst der DDR-Jugend für die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu gewinnen. Mit solchen
Veranstaltungen versuchte die Jungendorganisation in der Spätzeit der Deutschen Demokratischen Republik ihre gesellschaftliche Relevanz gegen den Einfluss des Westens zu bewahren und das
Interesse der Jugend in die Richtung des Sozialismus durch die Rockmusik zu kanalisieren.
Bereits zuvor, im Jahre 1987, musste die SED ihre Unterhaltungsmusikpolitik verändern. Am Pfingsten fand das dreitägige Festival „Concert for Berlin“ auf dem ‚Platz der Reichstags‘ in Westberlin
neben der Berliner Mauer statt. An drei Abenden spielten neben Bowie noch New Model Army, die Eurythmics, Bruce Hornsby, Paul Young und Genesis. Und sie sind sogar fast DDR-weit zu hören.
Mithilfe von RIAS2. Live vor Ort waren rund 3.000 Ostdeutsche, die sich bei der Mauer versammelt haben, um das Konzert westlicher Musiker zu hören. Als die Grenzpolizei und Sicherheitskräfte
versuchte, sie zu zerstreuen, rief die Menge Slogans wie „Die Mauer muss weg“ und liefen sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. „Das waren Auseinandersetzungen, wie sie Ostberlin bislang
nicht gewohnt war. Polizei ging mit Schlagstöcken gegen Tausende Jugendliche vor, die in Sprechchören den Abriss der Mauer forderten. Vor der Sowjetbotschaft riefen sie Gorbatschow! Gorbatschow!
Und stimmten ironisch die Internationale an, denn die erkämpft das Menschenrecht.“6
Nach diesem Zusammenstoß wurden 178 Rockmusikfans ins Gefängnis gesteckt. Das Zentralkomitee der FDJ legte die Schuld in den Westmedien, die „nationalistische Tendenzen“ in der Jugend entfacht
hatten, besonders durch Rockmusik.
Aber die SED verstand die westlichen Rockkonzerte als ein neues Bedürfnis, mit denen solche Leute beruhigt und mit denen solche Demonstrationen verhindert werden konnte. Der FDJ und SED-Politbüro
suchten schnell nach internationale Rockbands, ihre Regierung in der Augen der Jugend zu verbessern. Bereits am 14. Juli 1987 spielte Barclay James Harvest für 45.000 Zuschauer in Ost-Berlin auf
der „Treptower Festweise.“ Am 17. September 1987 hielt die FDJ das „Friedenskonzert der FDJ“ mit Bob Dylan und Tom Petty & the Heartbreakers für 70.000 Zuschauer*innen. Am 7. Juni 1988
spielten Depeche Mode für den „Geburtstag der FDJ“ in Berlin.
Partei- und FDJ-Spitzenfunktionären dachten, dass die FDJ Anstrengungen unternehmen sollten, um für die Jugend angemessenen „materiellen Wohlstand“ zu schaffen. Die Jugendlichen sollten mit
„Jugendmode, Mopeds, Unterhaltungselektronik“ und „Schallplatten (vor allem internationale Musik)“ und „Kassetten (auch internationale Musik)“ befriedigt werden7.
Wie erreichten denn subkulturelle Undergroundbands abseits der institutionalisierten Kulturöffentlichkeit Aufmerksamkeit? Ging das tatsächlich nur über die Tape-Szene oder gab es auch
Magazine, Clubs etc., um diese Szene zu supporten?
Es gab eine Magnetbandkultur und illegale Tonstudios, in denen Postpunk- und Avantgardebands ihre Musik aufnehmen konnten. Gunther Krex war ein Musiker und spielte u. a.
im Musik-Projekt Fabrik, der Nachfolge der legendären Dresden/Berliner Art-Punk-Formation Zwitschermaschine. Er war aber auch zugleich Produzent und Studio-Betreiber in Ostberlin, der sein privat
aufgebautes Heimstudio auch für unkonventionellere Bands aus Avantgarde, Underground und Heavy Metal öffneten und ihr Know How für Produktionen beisteuerte. Bekannte Dokumente dieser Phase sind
die von Olaf Tost (Die Anderen) als Talentscout für den Rundfunk der DDR betreuten Sessions der Jahre 1989/1990, die später auf der Compilation „Sentimentaler Rückblick“ veröffentlicht wurden.
Ganz wichtig: Bo Kondren, Heim-Sound-Tüftler, später in ersten Bandstrukturen bei „Die Schönste Muziek“ und „Ornament & Verbrechen“, der nach der Wende übrigens mit Bernd Jestram zusammen das
Bleibeil-Studio aufbaute, wo beide als Produzenten/Techniker-Team bis 1996 zahlreiche Aufnahmen eigener aber auch fremder Bands und Projekte bis hin zu den „Einstürzenden Neubauten“ betreuten.
Ganz wichtig in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist auch Taymur Streng, der hauptsächlich im Rahmen der Neuen und zeitgenössischen Musik sowie der Elektronischen Musik, Computermusik und des Deep
Listening arbeitete. Taymur war 1988 Mitbegründer der Kult-Dark-Wave-Band Neun Tage in der DDR, Musiker in diversen Bands des DDR-Magnettonband-Undergrounds der Achtziger Jahre und spielte in
seinem Mahlsdorfer Studio mit Ornament & Verbrechen. In diesem Studio gab es mit dem sogenannten „Mahlsdorfer Wohnstuben Orchester“ eine Session-Formation.
Was waren denn die Bedingungen für (Post)Punk-Bands, ihre Musik auf Kassette aufzunehmen?
Ich nenne jetzt mal eine Osterberliner Punkband, die heute kaum von Bedeutung ist, weil es damals keine Aufnahmen gab. Das waren PLANLOS. Die sind jetzt wieder medial
aufgetaucht, in Verbindung mit der DIE TOTEN HOSEN-Doku „Auswärtsspiel“, in der es um die Umstände des am 27. März 1983 konspirativ organisierten Konzerts in der Erlöserkirche in
Berlin-Rummelsburg mit der DDR-Punkband Planlos, sowie eine Neuauflage dieser Begegnung, 40 Jahre später, geht. Letztes Jahr im Sommer haben DIE TOTEN HOSEN zusammen mit PLANLOS im Tempelhof vor
70.000 Leuten 2 Songs live gespielt. Ich war dabei, das war grandios. PLANLOS haben damals Punk nicht neu erfunden, waren aber – was die Melodien anbelangt – sehr nuancenreich, haben teilweise
hochlyrische und unfassbar schöne Texte geschrieben. Das waren keine Gedichte, sondern politisch, brisant und metaphernreich, ohne pathetisch zu sein. Im Gegensatz zu Bands wie SCHLEIM-KEIM sind
PLANLOS so gut wie verschwunden aus dem Bewusstsein. Andere Bands wie DIE SKEPTIKER haben durch einen FDJ-Fördervertrag die Möglichkeit erhalten, in ein AMIGA-Studio zu gehen und professionelle
Aufnahmen zu machen. Von PLANLOS sind lediglich vier Songs, („Überall wohin es dich führt“, „Planlos“, „Ich steh an der Schlange zum Currystand“, „Smog und Ruß“) dokumentiert und auf diversen
Samplern veröffentlicht, die in einem Proberaum – ein Schlachtraum in einer ehemaligen Schlachterei – entstanden sind. Dieser Raum war komplett gekachelt. Da haben die einen
Stern-Recorder8 inmitten des Raumes gestellt und alles aufgenommen.
PLANLOS
„Ich steh’ in der Schlange am Currystand. Ich dreh’ mich nicht um, ich hab’ dich erkannt. Du bist mein Schatten, wohin ich komme. Ein schwarzer Fleck in der Sonne. Wenn ich laut denke, dann bist du da. Wo ist der Monitor hinter der Kamera? Du steigst in meinen Freund und horchst mich aus. Berichtest die Lügen wie du sie brauchst. Hyäne bedroht, bedroht durch ‘ne Maus, Maus hinter Gittern, Hyäne kommt raus.“
PLANLOS entstand 1980 im „Schatten der Mauer“ als eine der ersten Punkbands in der DDR. Die Gründung der Ostberliner Band mit Sänger Michael ‚Pankow‘ Boehlke, Michael Kobs, Gitarre, Daniel ‚Kaisa‘ Kaiser, Bass und Bernd Michael Lade am Schlagzeug, war das Resultat des subversiven Untergrunds von Punk in der DDR. Die Songs zählen zu den Klassikern des DDR-Punkrocks. Aufgrund ihrer strikten Verweigerungshaltung trat sie nie legal in Erscheinung und absolvierte beinahe ausschließlich Auftritte in Kirchen. Begleitet von massiven staatlichen Repressionen löste sich die Band 1983 auf. Seit Juli 2022 ist PLANLOS mit Sänger Michael „Pankow“ Boehlke und dem ursprünglichen Texter und Gitarristen Michael Kobs sporadisch wieder live präsent. Als Bassist ist Maik Reichenbach, Gründungsmitglied der legendären Leipziger Punkband L’Attentat, Teil der Band9.
Und was ist mit der aufgenommenen Musik weiter passiert?
Na ja, zum Beispiel wurden die inoffiziellen Musikproduktionen und Konzertmitschnitte der 1983 von Robert und Ronald Lippok gegründeten Band „Ornament & Verbrechen“ auf
durch West-Kontakte besorgten Kassetten aufgenommen, vervielfältigt und zusammen mit selbst verlegten Zeitschriften verkauft. Wir reden hier aber über bescheidene Auflagen. Die Band
„Neuntage“10 hatten bspw. eine Tape-Auflage von 10 Kopien. Die höchste Auflage, von der ich weiß, waren 100 Kopien von „Die
Gehirne“11 aus Karl-Marx-Stadt. In der Regel gab es aber von den einzelnen Bands Tape-Auflagen von 30 bis 60 Kopien.
Wie bist du denn an die Musik rangekommen?
Einige Bands hatten das Glück gehabt, dass sie an couragierte Bands geraten sind, die eine Einstufung hatten. Und diese Bands haben andere Bands ohne Einstufung zum Teil unter
ihren Namen als Vorband auftreten lassen. Als Beispiel nenne ich mal die Band Neu Rot, die haben sich auch Pffft…! oder Neu Rot II genannt und konnten auftreten. Das war eine Industrialband mit
‚Chaos‘, der früher bei WUTANFALL war. Nach Ausreise von Schulze und Zappa im Jahr 1986 ermöglichte die Einbindung von Musikern mit einer Spielgenehmigung durch Einstufung mit ihrer „Heimatband“
erworben, auch offiziellere Auftritte, die Band wurde in diesen Fällen als Die Art II oder Neu Rot II angemeldet. 1987 entstand ein gemeinsames Demotape mit dem später in Rostock wirkenden
Projekt FO 32 Extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt.
Ein weiteres wichtiges Medium neben Magnetbänder und Kassetten war auch das Radio wie DT 64 oder ‚Parocktikum‘. Ich kann Lutz Schramm mit seiner eigenen Sendung Parocktikum nicht genug
loben12. Er war nicht nur Radiomoderator, sondern auch Produzent und Wegbereiter für mehrere DDR-Gruppen, die unter dem Begriff „Die
anderen Bands“ bekannt sind mit Produktionen der Bands „Die Skeptiker“, „AG Geige“, „Herr Blum“, „die anderen“ und „Der Expander des Fortschritts“. Außerdem veröffentlichte Lutz für Interessierte
Manuskripte zu Bands (u. a. auch über Einstürzende Neubauten) und Playlists, die man über ihn beziehen konnte.
Demgegenüber gab es aber auch Bands und Musik-Kollektive wie auch „Ornament & Verbrechen“, die nicht in einem Staats-Rundfunk gespielt werden wollten, um nicht mal ansatzweise mit diesem
Staat in Verbindung gebracht zu werden. Das finde ich aber nicht engstirnig, sondern nur konsequent.
Dass andere Bands ihre Tapes zu Lutz geschickt haben, um einen größeren Radius und Aufmerksamkeit zu bekommen, als nur im kleinen Kreis gehört zu werden, ist nachvollziehbar. Und ohne Lutz
Schramm und dessen Radiosendung hätten Bands wie AG GEIGE vermutlich nie ihren Status erreicht. Bands wie „Rosengarten“13 aus
Salzwedel wurde der Weg erst durch Lutz geebnet, der u. a. mit denen Sessions aufgenommen hat wie bspw. „Rosengarten – Parocktikum Session 20.12.1987“, aufgenommen bei „X-Mal! Musik zur
Zeit“ im Kreiskulturhaus Treptow in Ostberlin. Torsten ‚Peggy‘ Füchsel hat für diese Session Urlaub von der NVA bekommen, musste Sonderurlaub nehmen und durfte nach Berlin fahren, um die
Aufnahmen zu machen.
Ein weiteres Netzwerk war das Samisdat. Diese freien Blätter enthielten nicht nur Informationen, sondern vor allem konkrete Erfahrungsberichte. Ich habe 1985 zusammen mit Ronald Lippok (ROSA
EXTRA, ORNAMENT & VERBRECHEN) ein journalistisches ‚Samisdat“-Heft in geringer Auflage publiziert. Ich habe alleine in einer kleinen Druckerei gearbeitet und habe diese Hefte illegal
gedruckt. Ronald und ich waren große Fans von Surrealismus und haben angefangen, Hefte in 20er-, 40er-Auflagen kopiert und an Freund*innen und Underground-Künstler*innen verteilt.
Kurzer Einschub
Samisdat
Im Ursprung ging es dabei um die Verbreitung von bereits existierenden Büchern und Schriften, die im jeweiligen Land unverlegt, unerwünscht oder gänzlich verboten waren. Später wurde es, neben
Lesungen im privaten Kreis, die einzige Möglichkeit, auch neue, aktuelle literarische Texte (Gedichte, Songtexte, Prosa) außerhalb des in der Regel strikt staatlich kontrollierten Verlagswesens
einem größeren Publikum bekannt zu machen.
Im hier gemeinten Sinne und Zeitraum nutzten (verstärkt) in den 1980er Jahren der DDR Literaten und Künstler*innen eine gesetzliche Ausnahme von staatlicher Zensur als Publikations-Lücke: bis zu
einer Auflage von 99 Exemplaren durften künstlerische Werke auch ohne eine derartige Druckgenehmigung vervielfältigt werden. Dies geschah mangels konventioneller (und streng kontrollierter)
Drucktechnik mithilfe von Schreibmaschinendurchschlägen, Fotoabzügen oder verschiedenen grafischen Techniken, weshalb hier synonym von „originalgrafischen“ Mappenwerken und Büchern gesprochen
wird. Ab 1982 entstanden auch eine ganze Reihe periodisch erscheinende Literatur- und Kunstzeitschriften nach ähnlichem Schema und mit vielfach gleichem Personal an Fotografen und Grafiker*innen,
Dichter*innen, Schriftsteller*innen und Autor*innen wie z. B. Sascha Anderson, Bert Papenfuß, Peter Wawerzinek, Heinz Havemeister, Claus Löser, Florian Merkel und Gabriele Stötzer. Diese
Durchmischung resultierte aus den DDR-weiten semi-offiziellen Netzwerken, in denen sich in der Regel alle daran Beteiligten bewegten, und von denen immer die jeweiligen Herausgeber*innen neben
dem künstlerisch-intellektuellen Austausch auch einen wirtschaftlichen Vorteil ziehen konnten, denn diese Erzeugnisse wurden als limitierte Kunstobjekte von Sammler*innen sowohl im In- wie im
Ausland geschätzt und erworben.
Relevant für das ‚Parocktikum‘ ist die Tatsache, dass zu den Beilagen dieser Samisdat-Zeitschriften auch immer wieder Tonträger (in der Regel Tapes, sowie in der „verwendung“ Heft 4 eine Vinyl 7"
EP von „The Local Moon“) beigelegt wurden. Es gehörte zum Kontext der medialen Grenzüberschreitungen in der oppositionellen Kultur der DDR, dass sich bildende Künstler*innen auch mit Musik
auszudrücken versuchten, kunstaffine Musiker*innen sich als Maler*innen betätigten, und dissidente Lyrik als Songtexte Verwendung und Verbreitung fand. Aber auch klassische bzw. performative
Lesungen wurden als Tonkonserven veröffentlicht.
Die systematische Aushebelung des Druck- und Verlagsmonopols der DDR durch die Samisdat-Editionen (z. B. durch die vermehrte Einbeziehung von literarischen und kunstwissenschaftlichen
Texten) wurde mit ganz wenigen Ausnahmen (z. B. Verbot der ‚Galeere‘ 1986) staatlich geduldet, ebenso wie die ab 1986 stark anschwellende Tätigkeit von reinen Musik-Tape-Labels, die
rechtlich durch keinerlei Ausnahmen vom Zensur gedeckt waren. Dennoch ist anzumerken, dass die Tonträger-Beilagen der originalgrafischen Zeitschriften demgegenüber zumindest formalrechtlich legal
waren.14
War dieser Wunsch nach einer Alternative zur westlichen Avantgarde-Szene auch Ausdruck eines Konkurrenzdenkens mit dem Westen, also so das Bestreben, eine eigene Untergrund-Musik zu
entwickeln?
Ich denke nicht, dass das mit dem Konkurrenzdenken im Westen zu vergleichen war.
Ich frage aus dem Grund, weil mich viele der bereits erwähnten Bands wie FO 32 an die „Geniale Dilettanten“-Reihe15 erinnern, also an Bands wie DER PLAN, MALARIA, EINSTÜRZENDE
NEUBAUTEN.
FO 32 waren erst in Leipzig, später in Rostock aktiv. Der eigentliche Gründer des Projekts, Axel Holst, kam aus Leipzig. Die haben z. B. viel „Zündfunk“16 gehört, ein
wichtiger bayerischer Radiosender, der viel im Süden der DDR frequentiert wurde und war so was wie das Pendant zu John Peel von BFBS. Natürlich kannten Axel und FO 32, DER PLAN und die „Geniale
Dilletanten“-Bands. Aber, ich denke nicht, dass sie sich in irgendeiner Art und Weise als Konkurrenz gesehen, sondern sich inspiriert gefühlt haben. Ich selber hatte 1982/83 mit THE
LEISTUNGSLEICHEN auch eine Punkband und für mich war Punk zu sein und eine Band zu haben untrennbar miteinander verbunden. Also nicht nur als Punk mit Lederjacke rumlaufen, sondern aktiv Musik zu
machen. Erst dann habe ich mich als Punk ganzheitlich empfunden. Ich habe uns aber nicht als Konkurrenz zu Bands wie ABWÄRTS oder SLIME gesehen, sondern, weil ich selber was unternehmen wollte.
Man darf ja nicht vergessen. Die DDR war ein nur ein mäßig durchgequirlter Stillstand, wo teilweise auch wenig los war. Gerade Bands wie „Neun Tage“ oder das „Mahlsdorfer Wohnstuben
Orchester“ haben ja vor allem aus dem Grund Musik gemacht, um gegen die unglaubliche Langweile anzukämpfen. Beide Tapes von „Neuntage“ (Soldier; WAIF), die ich auf tapetopia rausgebracht
habe, sind ausverkauft. Ich habe mich gestern mit Rene Golfke, dem Sänger von Neuntage, getroffen, der ist in meinem Alter, 58, und mit diesem späten Erfolg total fassungslos gegenüber. Gerade,
wenn man bedenkt, dass der im Kinderzimmer Aufnahmen gemacht hat, mit selbst gebauten Instrumenten und Tapes in einem Take im rudimentären Homerecording-Verfahren aufgenommen. Das war purer
Zeitvertreib, um die Langeweile zu bekämpfen.
Laut Parocktikum-Infobrief im Juni 1987 gegründet von Musikern der Bands Zauhaufen (Leipzig) und aus dem Umfeld von Arrest (Rostock). Ein frühes Demo-Tape enthält sowohl Aufnahmen von FO 32 als
auch von Jürgen ‚Chaos‘ Gutjahrs (ex-Wutanfall) Noise-Projekt Pffft...!.
„Ich gründete die Band ‚FO 32 extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt‘ 1988 mit vier Gleichgesinnten in Rostock. Die Geschichte ist interessant,
da wir alle bei der NVA waren und unsere Aufnahmen illegal in der Kaserne durchgezogen haben. Wir haben kein pures Sampling betrieben, sondern Instrumente, Stahl Action und Texte in
schweißtreibenden 24 Stunden-Aktionen auf Tonbänder aufgenommen – diese neu zusammengeklebt – richtige Magnetbandschleifen gebastelt etc. Eine völlig absurde Mischung aus Technoidem und handmade.
Die Texte waren von mir – einige Songs sind aber Vertonungen von Ernst Jandl-Gedichten.“
(Axel Holst)
Ebenso wie FO 32 produzierten auch „Expander des Fortschritts“ eine besondere Form des Hörspiels im Songformat, verknüpften literarische Texte und Klangcollagen. „Das kleinere Übel“ ist
meiner Meinung nach ein provokant-politisches Kunstwerk, das so auch im Kleinkunst-Theater aufgeführt werden könnte. Der Expander des Fortschritts greift hier in Eckehard Binas' Text den
hausgemachten Rechtsradikalismus in der DDR auf. Avantgarde und Kleinkunst kann also auch sehr politisch sein. Das war eher die Ausnahme, oder?
Der Text von Ecke Binas bezog sich auf den Überfall auf die Zionskirche…
Hintergrund
Rechter Skin-Überfall auf Zionskirche
Am Nachmittag des 17. Oktober 1987 versammeln sich ungefähr 100 Hooligans und Skinheads in der Berliner Kneipe „Sputnik“ an der Greifswalder Straße, um einen Geburtstag zu feiern. Zur selben Zeit
drängeln sich in der zwei Kilometer entfernten Zionskirche rund 2.000 Menschen bei einem Konzert zweier Bands aus Ost und West: „Element of Crime“ und „Die Firma“. Organisator der Veranstaltung:
Silvio Meier, ein Hausbesetzer aus Ostberlin, der zu dieser Zeit in der kirchlichen Opposition ist. Die Volkspolizei ist vor Ort und die Staatssicherheit über das Ereignis informiert. Im
„Sputnik“ saufen sich die Neonazis derweil in Stimmung. Rund 30 bis 40 von ihnen brechen wenig später zur Zionskirche auf, um Konzertbesucher anzugreifen. Es ist 22 Uhr, gerade hat die Punkband
„Element of Crime“ das letzte Lied gespielt. Die Neonazis stürmen das Gotteshaus und brüllen: „Sieg Heil!“, „Juden raus aus deutschen Kirchen“ und „Kommunistenschweine“ und verletzen mehrere
Konzertbesucher*innen beim Überfall. Die Volkspolizei lässt die Neonazis gewähren.
Schon tags darauf – am 18. Oktober 1987 – berichteten der RIAS und andere Westmedien über den Überfall und, dass die Polizei dabei untätig geblieben war. Die DDR geriet unter Zugzwang, die
Behörden mussten mit der Untersuchung des Vorfalls beginnen.
Die Vorgehensweise wurde von der Stasi diktiert. Auf einer Liste mit 17 Punkten wurde der Ablauf genau festgehalten: Gegen einen Teil der Neonazis gab es Ordnungsstrafverfahren und schriftliche
Belehrungen. Fünf Beschuldigten wurde der Prozess gemacht vor geladener Öffentlichkeit. Schon vorher stand fest, sie sollten „Freiheitsstrafen mit Präventivcharakter“ bekommen und verpflichtet
werden, sich am Arbeitsplatz zu bewähren. Am 22. Dezember 1987 wurde der Anführer Ronny B. zu vier Jahren Haft verurteilt und drei weitere junge Männer wegen Rowdytums und öffentlicher
Herabwürdigung zu Haftstrafen zwischen einem und zwei Jahren.17
...Susanne Binas hat das in den Linernotes auf der Platte sehr treffend formuliert. Sie hat gesagt: „Wir haben mit Expander des Fortschritts angefangen und sind – was Konzerte anbelangt – von
Gelegenheit zu Gelegenheit gestolpert“. Die haben u. a. in irgendeiner Hinterhofwohnung gespielt, vor 20 Leuten. Da war jemand anwesend, der meinte, ob die nicht auf seiner Ausstellung in
der Galerie spielen könnten und haben dann da gespielt.
Der Gitarrist Mario Persch von Expander hatte zum Ende der DDR ein kurzlebiges Kassetten-Label namens „ZoneTon“, mit dem er über die eigene Bandaktivität hinaus andere experimentelle Sachen
rausbrachte. Aber auch hier gilt der eingangs erwähnte Konsens, etwas Kreatives zu tun, um gegen den Stillstand und die kulturelle Langeweile etwas zu tun. Die Verschmelzung von Audio-Samples,
Avantgarde und Kleinkunst war absolut einzigartig und eigenständig. Ähnlich wie BAUHAUS oder JOY DIVISON aber hatten EXPANDER DES FORTSCHRITTS ein ganz anderes Referenzsystem und waren für mich
absolut singulär. Ich bin auch total stolz, ihr erstes Tape, „Urknall Mensch“, auf tapetopia (tt08) neu aufzulegen. Ich habe denen auch mal erzählt, dass dieses Tape überhaupt erst für die
tapetopia-Reihe gemacht worden ist. Oder anders formuliert: Ich habe tapetopia kreiert für Tapes wie diese.
Ich will nichts dokumentieren, sondern Tapes veröffentlichen, die vom Verschwinden bedroht sind und die es musikalisch verdient haben, zu überdauern!
»Die subversive und subkulturelle Szene West-Berlins hat sich nur für sich selbst interessiert.«
Gab es in den 80er Jahren auch ein westdeutsches Interesse an subkulturellen Produkten aus der DDR?
Ganz begrenzt. Wie wir ja alle wissen, hat die Arroganz des Westens gegenüber des Ostens in alternativen Zirkeln eine wesentliche Rolle gespielt. Es gibt einen wunderschönen
kurzen Dokumentarfilm von Michael Biedowicz, der sich als Foto-Radakteur 1990 für seine Dokumentation „Alles anders machen“ auf die Spuren der „Ost-taz“ begeben hatte, die drei Monate existierte.
Im Film sagt jemand: „Am Beispiel einer basisdemokratischen, linken Tages-Zeitschrift hat sich 1990 schon abgezeichnet, was der Westen, speziell die Treuhandanstalt18, mit dem Osten gemacht hat.“ Diese Arroganz hat es auch in den West-Linken gegeben. Nicht wenige West-Linke kennen sich eben, wie der Redakteur der
„Ost-taz“ Dirk Branke sagt, bis heute in Kathmandu besser aus als in Dresden.
Blixa Bargeld wurde mal in dem „B-Movie – Lust & Sound in West-Berlin“19 gefragt, ob er sich für den Ost-Teil der Stadt
interessieren würde und daraufhin antwortete: „Ich mochte es schon immer, in einer Stadt zu leben, deren einen Teil ich nicht kenne.“20
Aber es gab auch Leute wie Marc Reeder von „Die Unbekannten“, der sich nicht nur für den subkulturellen Ost-Teil von Berlin interessierte, sondern auch das legendäre, ‚illegale‘ Ostberliner
Konzert der „Die Toten Hosen“ in der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg organisierte. Dann gab es noch Olaf Leitner, der beim RIAS Berlin als Redakteur arbeitete, sich sehr für kommerziellen
Ost-Rock wie „Karat“ interessierte und in dem Zusammenhang 1983 das Buch „Rockszene DDR“ veröffentlichte.
Es gab aber wenig verstreute Leute, die Interesse hatten, was ebenfalls auf die Ost-Untergrund-Literatur-Szene zutraf. Die subversive und subkulturelle Szene West-Berlins hat sich nur für
sich selbst interessiert.
Wenn man deine Veröffentlichungen der tapetopia-Reihe anschaut, ist festzuhalten, dass es eine insgesamt sehr überschaubare Community war, aus denen immer wieder neue Bands mit
personellen Überschneidungen hervorgegangen sind.
Ja, es war eine überschaubare Community. Aber was innerhalb dieser entstanden ist, war doch sehr produktiv. Ich habe z.b. eine Platte und ein Tape von Frank Bretschneider (AG
GEIGE) rausgebracht, der mit ‚Heinz‘ Havemeister ein Projekt namens „Heinz & Franz“ hatte.
Das Original-Tape von Heinz & Franz wurde Ende 1988 auf Bretschneiders Label klangFarBe in einer Auflage von 50 Stück veröffentlicht. Für das Cover griffen die Tonkünstler auf die gegensätzlichen und zugleich verbindenden Merkmale des Analogen und Digitalen zurück. Bretschneider hatte eine Zeichnung mit den Köpfen des Projekts im Doppelporträt angefertigt, während Havemeister für das Textlayout das Zeichenprogramm Hi-Eddi auf seinem Commodore 64 verwendete. Die Montage wurde in einem privaten Copy-Shop in Berlin-Mitte erstellt und gedruckt. Für die Kopien des Bandes wurden ORWO-Kassetten aus der DDR, aber auch westdeutsche Kassetten verwendet. Die meisten Kopien wurden verteilt oder verschenkt, ein gutes Drittel wurde für 20 Mark pro Kassette verkauft.
Heinz & Franz
Heinz & Franz war ein klassisches Homerecording-Projekt, das nie live auftrat. Havemeister und Bretschneider fanden den Projektnamen passend, plakative Punk-Gesten hielten sie für eine Attitüde der Vergangenheit. Doch beim gemeinsamen Musizieren und Experimentieren galt: Gezielte Energie war wichtiger als die virtuose Beherrschung eines Instruments oder die Kultivierung einer ausgebildeten Stimme. Die Technik stand im Vordergrund ihres Denkens, sie sahen sich als geschlossenes Produktionssystem. Die Klangtüftler diskutierten viel und machten, begleitet von Sequenzergeräten, viele Schritte abseits ausgetretener Pfade. Bei aller Improvisation blieben sie aber eher Navigatoren und Supervisoren als frei agierende Musiker. Das Duo behandelte alles, was zur Entstehung ihrer Produktion beitrug, als Projektmitglieder, um durch ihre Produktionsästhetik eine eigene Produkt- oder Klangästhetik zu erreichen. Bretschneider erwarb später auch einen Casio SK1 Sampler, ein Yamaha-Keyboard mit Rhythmuspatterns und ein digitales Delay. Grundlegende Bänder mit Schlagzeugrhythmen, Loops und Bassspuren hatte er bereits zusammengestellt. Die erste gemeinsame Aufnahmesession der Band fand im März 1987 im Heimstudio Sonnenklang von Frank Bretschneider statt. Die Stimmen wurden im Ping-Pong-Verfahren aufgenommen, dann kamen Gitarren und eine Gesangsspur hinzu. Das Ganze wurde durch ein Mischpult gejagt, das Bretschneider selbst gebaut hatte.
War Ost-Berlin der Hotspot für subkulturell Musik und Avantgarde?
Ost-Berlin war definitiv einer der größten Hotspots. Es gab aber auch Kooperationen von Leuten aus Berlin und Halle, Berlin und Erfurt, Berlin und Karl-Marx-Stadt. Des Weiteren gab es eben auch
ein breites Spektrum an musikalischen Experimenten, die weit vom 3-Akkorde-Punk hinauswuchsen. Bands wie HAPPY STRAPS mit Dark Wave/Post Punk hin zu EXPANDER DES FORTSCHRITTS oder ORNAMENT DES
VERBRECHENS gab es eine musikalisch sehr, sehr vielseitige, subkulturelle Szene.
Die Linernotes zu FO 32 sind auffällig länger, als bei deinen anderen Veröffentlichungen.
Zur FO 32-Veröffentlichung gab es ein kleines Beiheft, weil es sehr viel grafisches Material gibt und eine total irre Geschichte, die das konspirative Vorgehen skizziert. Die 4
Musiker haben sich 1987 während der NVA-Zeit in der Propagandaeinheit PrK-18 der 4. Flottille der DDR-Volksmarine kennengelernt. Die war mit der Kampfzentrale HGS-18 verbunden und in denen waren
eine Satz- und Reprostation, eine Offsetdruckstation und eine Buchbinderstation untergebracht sowie in einer anderen Halle zwei mit Kino- und Tontechnik ausgestattete W50-LKWs untergebracht. Dort
haben sie illegal gedruckt und Musik aufgenommen. Es kam sogar zu einem illegalen nächtlichen Auftritt. Die sind nachts raus aus der Kaserne, haben sich in einer besetzten Wohnung in Rostock
umgezogen und sind für einen Auftritt nach Jena und danach wieder zurück in die Kaserne gefahren und keiner hat’s mitbekommen. Das konnten sie auch nur machen, weil sie sich illegale
Landgangs-Scheine gedruckt, im Büro des Flottillen-Kapitäns abgestempelt und selbst ausgestellt haben.
Wie waren die technischen Bedingungen und Möglichkeiten, um Musik aufzunehmen?
Man muss ganz klar unterscheiden: Die Zeit vor und nach 1984. Fast alles, nicht ausschließlich, was vor 1984 erschien, war akustisch von bescheidener Qualität. Nach 1984 gab es
Möglichkeiten, Musik in kleinen Ton-Studios in begrenzter Qualität aufzunehmen. Das unterscheidet die Soundqualität der Produktionen, was man der Musik auch deutlich anhört. Es gibt von vielen
Sachen, nicht von allen, erstaunlicherweise noch Masterbänder, auf die ich zum Teil zurückgreifen und hieraus ein professionelles Tape und auch Vinyl reproduzieren konnte.
Es gibt wie bei ROSA BETON einen Sound, der wie von gestern wirkt, aber es gibt auch einen natürlichen Verfallsprozess der Bänder. Ich kann nur allen raten, Tapes und/oder Spulentonbändern jetzt
zu digitalisieren. Ich habe gerade bei Spulentonbändern einen Ausfall von 20 Prozent, weil viele Bänder reißen oder sich auflösen.
Ich arbeite u. a. mit Friedemann Kootz von ‚Black Flag Mastering‘ zusammen, der sich auf alte Tapes spezialisiert hat. Und was der von den alten Dingern bspw. bei EXPANDER DES FORTSCHRITTS
rausgeholt hat, ist sensationell. Oder von Neuntage. Da hatte ich keine Original-Bänder zur Verfügung. Da haben wir aus drei, vier Tapes die jeweils qualitativ besten Tracks herausgenommenen und
rekonstruiert, teilweise sogar die Tracks zerlegt und wieder neu zusammengefügt.
Homepage von Henryk Gericke:
https://www.votivsite.de/
Fußnoten:
1. https://www.tapetopia.de/#home ↩
2. Offenes Band-Projekt aus Berlin, 1983 bis ca. 1994. Initiiert vom Brüder-Paar Ronald Lippok. Die Band wurde nach dem Titel eines Ästhetik-Aufsatzes des Wiener Architekten Adolf Loos (1911) benannt. O&V verstanden die „Fratelli Lippok“ die gesamte Zeit seiner Existenz nicht als konventionelle Band, sondern als künstlerische „Plattform“ auf der die Brüder wechselnde Konzepte in ganz unterschiedlichen Stilistiken (Jazz, Industrial, Electronics) und häufig auch multimedial umsetzten. Beim ersten „offiziellen“ Konzertauftritt im August 1986 (beim X-Mal Open Air auf der Insel der Jugend) benutzte die Band mangels Auftrittsgenehmigung das Pseudonym VVV. ↩
3. Er galt als der Szeneguru vom Prenzlauer Berg, der es bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1986 verstanden hatte, die vielfältigsten subversiv-künstlerischen Aktionen oppositioneller Künstler in der DDR zu organisieren. Seine Aktivitäten in der Literaturszene, als Sänger der Band „Fabrik“, seine vielfältigen Beziehungen zu Malern, Musikern und Schriftstellern hatten ihm einen Nimbus in der Oppositionsbewegung der DDR eingebracht. Wie kein zweiter verstand er sich als Organisator, unermüdlicher Motor der Szene. 15 Jahre lang hatte er in den Wohnzimmergalerien und an den Kneipentresen am Prenzlauer Berg alle belauscht und unter verschiedenen IM-Identitäten an die Stasi verraten. Sascha Anderson wurde 1991 u.a. von Wolf Biermann öffentlich entlarvt. ↩
4. „Die anderen Bands“ ist eine begriffliche Zusammenfassung für alternative Musikbands in den letzten Jahren der DDR. Zahlreiche Gruppen wie Sandow, Hard Pop, AG Geige, Der Expander des Fortschritts oder auch Feeling B entwickelten in jener Zeit einen Musikstil mit dadaistischen Tendenzen. Die anderen Bands zeichneten sich zum Teil auch durch häufigeres Verwenden offener oder versteckter systemkritischer Texte aus. ↩
5. 1986 Mitbegründer der ersten Independent-Diskothek „X-Mal!“ in Berlin (Ost), Autor und Herausgeber diverser Bücher zur DDR-Subkultur und Jugendkulturen wie „Wir wollen immer artig sein Punk, New Wave, Hip Hop, Independent-Szene der DDR 1980–1990“, „Mix mir einen Drink – Feeling B“, „Spannung. Leistung. Widerstand – Magnetbanduntergrund der DDR“. ↩
6. Zitat: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-musik-ueberwindet-die-mauer-vor-25-jahren-fuehrte-ein-100.html ↩
7. zitiert in Rauhut, Schalmei und Lederjacke, S. 263/264 ↩
8. Der STERN-RECORDER R 160 wurde von 1972 bis 1980 als erster Radiorecorder der DDR im VEB Stern-Radio Berlin produziert. Der Recorder hatte einen externen Mikrofonanschluss, einen eingebauter 8Ω/2VA-Lautsprecher LP 553, getrennte Höhen- und Tiefenregelung, einen elektronischen Umschalter und ein Kassettenlaufwerk mit automatischer Aussteuerung. ↩
9. Interview mit Michael Boehlke von PLANLOS: https://www.underdog-fanzine.de/2016/07/13/planlos-subkultur-in-der-ddr/ ↩
10. Berliner Band, 1988 (oder schon 1985?) bis 1993. Entstanden aus dem seit Mitte der 80er mit Homerecordings experimentierenden Mahlsdorfer Wohnstuben Orchester von Taymur Streng. 9 Tage (auch Neun Tage Alt oder Neuntage) traten mit eher poppigen, darkwavigen Sounds an die Öffentlichkeit, entzogen sich aber den für Anfang der 90er Jahre typischen Strömungen der Gothic-Szene. Die dafür notwendigen Instrumente und Aufnahmegeräte entstanden in Eigenbau. ↩
11. Offenes Bandprojekt für Experimental-Punk und Improvisationen, gegründet 1983 von den beiden Karl-Marx-Städter Künstlern Florian Merkel und Claus Löser. Als Mitbegründer der Grafik-Edition „A DREI“ (zusammen mit Frank Bretschneider) wurde Löser ab 1983 Zielperson der Operativen Personenkontrolle (OPK) ‚Lyra‘ der DDR-Staatssicherheit (später als OV weiter geführt). ↩
12. Interview in UNDERDOG #72: https://www.underdog-fanzine.de/2023/07/24/lutz-schramm-parocktikum/ ↩
13. PostPunk-Band aus Salzwedel, 1985 bis ca. 1990. Kurze Neu-Formierung 1992/93. Keimzelle war das Musik-Projekt Art Of Steel von Torsten Füchsel und Torsten Fütterer, durch das Hinzukommen von Torsten Thönert, Kirsten Hilke und Alex Carstensson entstand bis Anfang 1985 eine konstante Besetzung, die sich schließlich in Rosengarten umbenannte, nach dem Bauhaus-Song „Rosegarden Funeral Of Sores“, die das Motto ihrerseits vom Velvet Underground Songwriter John Cale entlehnt hatten. Bis 1989 spielten Rosengarten drei ausgesprochen komplexe und legendäre „Tape-Alben“ ein. ↩
14. Mehr zum Thema: https://www.jugendopposition.de/themen/145415/samisdat ↩
15. https://www.underdog-fanzine.de/2016/03/25/geniale-dilletanten-die-kunst-der-selbstaneignung/ ↩
16. Der Zündfunk ist seit 1974 ein Magazin im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks. Es wurde als „Jugendmagazin“ gegründet und gedieh 30 Jahre später zu einem etablierten Magazin. In den ersten 20 Jahren seines Bestehens war der Zündfunk wegen seiner für die damalige Radiolandschaft ungewöhnlich direkten Ansprache, der Vermittlung von Pop-Kultur und alternativer Literatur sowie der kritischen Berichterstattung über politische Missstände richtungsweisend. ↩
17. Mehr zum Thema: https://rechtsaussen.berlin/2017/10/ueberfall-auf-zionskirche-zaesur-im-umgang-mit-neonazis-in-der-ddr/ ↩
18. Die Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen liegt zwischen 1990 und 1994 in den Händen der Treuhandanstalt. Sie übernimmt die Verantwortung für die Volkseigenen Betriebe mit fast vier Millionen Beschäftigten. Die Treuhand spaltet die großen Industriekombinate der DDR auf, privatisiert, saniert und legt Betriebe still. Folgen sind eine weitgehende Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. ↩
19. In ihrer Dokumentation widmen sich die Regisseure Jörg A. Hoppe, Heiko Lange und Klaus Maeck dem Berlin der 1980er Jahr, als Collage der West-Berliner Musik- und Kunstszene. Im Fokus: Marc
Reeder, den es Ende der 70er Jahre in die „Mauerstadt“ verschlagen hat, wo er sich mitten in das damalige, auf das Hier und Jetzt fokussierte Lebensgefühl stürzte und auf illustre
Persönlichkeiten wie Nick Cave, Blixa Bargeld und Christiane F. traf, aber auch DIE ÄRZTE in ihrer frühen Phase interviewt und gezeigt werden, wie sie 1983 „Eva Braun“ performen.
https://youtu.be/Wi26_c0Y9Do ↩
20. In einem Interview äußerte sich Blixa Bargeld ähnlich: „Ich war nie in Ostberlin. Das Interesse war einfach nicht da.“; Quelle: https://www.rollingstone.de/blixa-bargeld-ich-war-nie-in-ostberlin-2343663/ ↩