Zensur, unterbrochene Konzerte, „Müllsteuer“, Rebellion und ein bisschen Freiheit: Die Geschichte des Punk im ehemaligen Jugoslawien war ein turbulentes
Abenteuer.
Ein Beitrag von Jelena Prtorić und Fred Spenner
Im September 2016 hat die Stadtverwaltung von Rijeka, einer Stadt im Nordwesten Kroatiens, beschlossen, ein Graffiti zum Kulturerbe zu erklären. Das auf Asphalt geschriebene Graffiti aus dem Jahr
1976 ist inzwischen schon verblasst, nur noch „Paraf Punk“ ist zu lesen.
Doch diese beiden mit weißer Ölfarbe geschriebenen Worte sind mehr als nur Graffiti – sie markieren den Beginn der jugoslawischen Punk-Ära, denn Paraf ist der Name einer der ersten Punk-Bands in diesem Teil der Welt. Die Sex Pistols veröffentlichten ihre erste Single „Anarchy in the UK“ im November 1976; Paraf gaben ihr erstes Konzert nur wenige Monate später in einem Park in der Nähe des Stadtzentrums (und in der Nähe des oben erwähnten Graffiti).
Spricht mensch von Goth-Rock, Postpunk oder Dark Wave ist der Balkan nicht die erste Assoziation, die einem einfällt, wenn es um alternative Musik geht, »Balkan Beats« mal ausgenommen. Westeuropa
erschafft, Südosteuropa kopiert – dieser Glaube ist immer noch vorherrschend, doch das entspricht nicht der Wahrheit.
Goth-Rock wurde besonders in Mazedonien kultiviert, wobei insbesondere „Padot Na Vizantija“ zu erwähnen ist. „Padot Na Vizantija“ war eine einflussreiche Post-Punk-, Darkwave- und
Gothic-Rock-Band mit gelegentlichen byzantinischen Musikelementen aus Skopje, SR Mazedonien, und wurde als jugoslawische „Bauhaus“ bezeichnet. Die Band wurde 1983 von Goran Trajkoski gegründet,
und löste sich nach einigen Konzerten bereits 1985 wieder auf.
Wenn es im ehemaligen Jugoslawien an etwas nicht mangelte, war es Musik! Die 70er und 80er Jahre waren eine Blütezeit der Pop- und Rock-Szenen. Vim Cola, ab 1980 Sängerin der kroatischen
Post-Punk-Band Paraf, erinnert sich:
»Die 80er waren Jahre kreativer Expansion! Die städtische Szene explodierte einfach in der grauen Umgebung des sterbenden Sozialismus.«
Reisefreiheit, große urbane Zentren und – verglichen mit anderen staatssozialistischen Ländern – wenig Repression, begünstigten den kreativen Aufbruch. Und so blühte subversive, subkulturell
Musik wie Goth Rock, Dark Wave und (Post)Punk in Jugoslawien auf und ist in den Nachfolgestaaten sehr lebendig.
„Es war im Dezember 1976, glaube ich“, sagt Valter Kocijančić, bis 1980 Sänger und Gitarrist von PARAF, der damals noch ein Teenager war. Dieses DIY-Konzert überraschte das Publikum, das
größtenteils aus Zuschauer*innen bestand, die nicht wussten, dass sie gerade dabei waren, Geschichte zu schreiben. Am 22. März 1978 starteten PARAF ihre Karriere bei einem Konzert mit mehreren
jungen Rockbands aus Rijeka. Dieses gilt als das erste offizielle Punk-Konzert im ehemaligen Jugoslawien.
„Wir spielten einfach, weil wir gerne spielten“, erinnert sich Valter an die Anfänge der Band. Damals bei der Bandgründung 1976 hatten sie keine Ahnung, wie sie die Musik, die sie machten, nennen
sollten – sie wussten nur, dass sie energiegeladene Musik spielen, sich ausdrücken und über alles singen wollten, was ihnen durch den Kopf ging.
Anarchie unter kommunistischer Flagge
Westliche Bewegungen wie Punk hatten es nicht leicht, in das sozialistische Jugoslawien der späten 1970er und frühen 1980er Jahre einzudringen. Zu dieser Zeit hatte sich das Land zu einem relativ offenen Land entwickelt – die Zeiten, in denen der ehemalige jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito Bündnisse mit Stalins Sowjetunion einging, waren längst vorbei. Die jugoslawischen Bürger*innen konnten ins Ausland reisen, genossen die Vorteile einer gesicherten Beschäftigung, einer Krankenversicherung und eines höheren Lebensstandards, als viele von ihnen heute, und ihre Freiheiten waren denen der westlichen Bürger*innen näher, als denen unter sowjetischer Herrschaft. Dennoch war es nicht ratsam, sich gegen Tito aufzulehnen. Das Land wurde auf einem Einparteiensystem gegründet, und dieses System war nicht gerade erpicht darauf, Punks und eine widerständige, subversive Subkultur zu tolerieren.
Das Jahr 1978 wird zum Schlüsselmoment in der Entwicklung der noch jungen Szene. Während bis dahin punktuell, in verschiedensten Städten, mit den Klängen des Punk experimentiert wurde, ziert im
Herbst 1978 erstmals eine Punkband, „Prijava Kazalište“, das Cover des ‚Polet‘, der Zeitung der Kommunistischen Jugendorganisation. Zukünftig wird die Zeitung als Sprachrohr der Bewegung
fungieren. Die Musiker*innen, die sich bis dahin lokal in den wenigen Bars und Cafes austauschten, erfahren von der Existenz von Gesinnungsgenoss*innen im ganzen Land und erste Festivals werden
organisiert. Nicht nur die Musik, auch die bildende Kunst erlebt im Jugoslawien der späten 1970er Jahre eine Renaissance. So ist es nicht verwunderlich, dass ein reger Austausch zwischen den
beiden Milieus entstand. Fotograf*innen dokumentierten die aufkeimende Punkszene und fanden im Polet einen dankbaren Abnehmer für ihre Bilder.
Punkbands waren auch gerngesehene Gäste an Vernissagen der jungen Künstler*innen. Die Band „Pankrti“ (dt.: Punker) beispielsweise spielte ein Set zur Eröffnung einer Ausstellung des
Künstlerkollektivs „Novi Kvadrat“ (dt.: Neues Quadrat) rund um „Mirko hic. Hic“. Dessen Gruppe verschrieb sich der Weiterentwicklung des Mediums Comic, gestaltete im Gegenzug Plattencover für
diverse Bands und schrieb den Text zu einem ‚Prijava Kazalište‘-Song. Diese Verbindung in der jungen Kulturszene Jugoslawiens brachte etliche einflussreiche Werke in verschiedensten Bereichen
hervor.
Valter Kocijančić von PARAF wusste natürlich nicht, dass er im Begriff war, eine neue Gegenkultur aufzubauen. Sein damaliger Musikgeschmack umfasste SLADE und Alice Cooper. „Ich hatte Glück, dass ich Zugang zu internationalen Medien hatte“, erinnert er sich. Sein Vater verkaufte im Sommer überall an der kroatischen Küste internationale Zeitschriften, und auf den Hochglanzseiten der Magazine, von denen er kein Wort verstand, entdeckte Valter langhaarige Rocker mit einer Ausstrahlung, die er nachahmen wollte.
„Ich wusste nur, dass ich Musik machen wollte. Was Punk ist, entdeckte ich erst viel später, als ein Typ aus meiner Heimatstadt mit einer LP von den Sex Pistols aus London zurückkam“, beschreibt
er die ersten Berührungspunkte mit Punk.
Andere Bands folgten PARAFs Stil, und schon bald boomte die Punk- und New-Wave-Szene in Jugoslawien. In Kroatien konzentrierten sich die meisten Punk-/New-Wave-Bands auf die Städte Rijeka mit
Bands wie Termiti, Mrtvi Kanal, Grč und Prljavo Kazalište aus Zagreb.
In Slowenien begann alles mit der Band Buldožer, gefolgt von Pankrti, während die neuen musikalischen Trends in Serbien Bands wie Pekinška Patka, Električni Orgazam, Idoli, Šarlo Akrobata und
Ekaterina Velika hervorbrachten. Es gab natürlich noch viele andere; einige spielten auf Punk-/New Wave-Gigs, bevorzugten aber traditionellere, gemächlichere Rockmusik.
Einige schafften es, nur ein paar Monate zusammenzubleiben, was nicht genügte, um etwas aufzunehmen, nennenswerte Konzerte zu geben oder ein Publikum außerhalb ihrer Heimatstädte anzulocken.
Unterbrochene Konzerte, steuerpflichtige LPs
Da Musik nicht nur die musikalischen Vorlieben einer Band widerspiegelt, sondern auch Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes ist, ist es von Bedeutung, das Leben im Jugoslawien der 1980er Jahre zu
erkunden.
Damals hatte der sozialistische Staat mit einer hohen Staatsverschuldung zu kämpfen. Die hohe Inflation schlug durch, die Arbeitslosenzahlen stiegen, und die Bevölkerung sah sich mit allen
möglichen Engpässen konfrontiert, angefangen beim Benzin bis hin zu alltäglichen Dingen wie Kaffee, Schokolade und Zahnpasta.
„Die 1980er Jahre waren eine sehr turbulente Zeit, die eine sehr bewegende Musik erforderte, die zum Ausdruck bringen konnte, was die jungen Menschen durchmachten“, sagt Martin Pogačar,
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und Erinnerungsstudien in Slowenien, der mehrere Publikationen über die Entwicklung der jugoslawischen Geschichte und das Vermächtnis der
jugoslawischen Popmusik verfasst hat.
„Die westliche Welt stellte natürlich einen Bezugspunkt dar. Aber die jugoslawische Realität hatte ihre Eigenheiten, die sich in der Musik widerspiegelten. Diese Bands mussten sich gleichzeitig
mit existenzieller Sicherheit und existenzieller Unsicherheit auseinandersetzen, so paradox dies auch erscheinen mag“, analysiert Martin Pogačar. Auch wenn sie nicht mit den prekären
Lebenssituationen der heutigen Jugend konfrontiert waren – ein fester Job und ein festes Einkommen waren damals eher die Regel als die Ausnahme – so hatten sie doch Lieder über die Ungewissheit.
„Termiti“ aus Rijeka sangen in ihrem Lied ‚Redukcija’ (dt.: ‚Kürzungen‘) über Stromknappheit: „Mach das Licht nicht an / wir leben im Dunkeln / wir müssen Strom sparen / elektrische Energie /
Nun, diese Kürzungen sind voll für'n Arsch“.
Ihr Lied ‚Ujo gastarbajter‘ (dt.: ‚Onkel Gastarbeiter‘) beschreibt einen wichtigen Aspekt der jugoslawischen Gesellschaft jener Zeit: die Auswanderung. Zahlreiche jugoslawische Bürger*innen
gingen in westliche Länder, insbesondere nach Deutschland, um Arbeit zu finden.
Die Belgrader Band „Električni Orgazam“ wies darauf hin, dass es selbst in einem System, das die Klassen abschaffen wollte, immer noch reale Klassenunterschiede gab. In ihrem Lied ‚Zlatni
papagaj‘ (‚Goldener Papagei‘) kritisierten sie die verwöhnte, „reiche Jugend“: „Papa zahlt alle Rechnungen (...) wir sind angewidert von den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Auto geht es
doch viel schneller“.
Doch als sie sich gegen das bestehende System auflehnten, ging es auch nicht unbedingt darum, das System zu zerschlagen. Anfang der 1980er Jahre war der jugoslawische Staat noch stabil, gefestigt in seiner Macht, so dass er in der Lage war, "kleine Unruhen" zuzulassen, ohne sich bedroht zu fühlen. "Ich habe das Gefühl, dass die jugoslawischen Bands nicht viel außerhalb der jugoslawischen Grenzen gedacht haben. Sie wollten das System nicht zerstören, sie wollten innerhalb der jugoslawischen Grenzen agieren. Sie waren sich aber bewusst, dass es Probleme gab, und wollten eine Veränderung", sagt Martin Pogačar.
Und das System hatte weitaus subtilere Methoden, um gegen diese Bands vorzugehen, als pure Repression. Eine der am weitesten verbreiteten Taktiken war eine sogenannte „Müllsteuer“, die für Werke
von „zweifelhaftem kulturellem Wert“ erhoben wurde. „Das bedeutete, dass sich der Preis einer CD nach Erhebung der Steuer fast verdoppelte“, erinnert sich Valter Kocijančić.
Eine weitere erfolgreiche Repressionsmaßnahme war die Unterbrechung von Konzerten durch die Polizei und die Zensur. Das Cover der ersten LP von PARAF („A Dan Je Tako Lijepo Počeo“; 1980) musste
mehrmals geändert werden. Auch mussten sie alle ihre Texte zensieren – doch gerade hier zeigte sich ein kreativer Ermessungsspielraum. Ironie war ein Muss. Für ein unerfahrenes Ohr könnte einer
der größten Songs von Paraf, „Narodna pjesma“, als Hommage an die Polizei verstanden werden. Doch das Lied, in dem es heißt „Es gibt keine bessere Polizei als unsere Polizei“, ist in Wirklichkeit
ein Lied über polizeiliche Unterdrückung, eine Kritik an der offenkundigsten Facette staatlicher Unterdrückung. Valter erinnert sich sogar daran, wie sein Freund während eines Konzerts der Band
eine Diskussion zwischen mehreren Polizisten belauscht hat. „Das ist die beste Band, wenigstens haben sie ein Lied über uns gemacht“, sollen sie gesagt haben.
Das Erbe des Punk
Die Punk-Phase von Valter dauerte nicht lange. Paraf brachte 1980 ihr Debüt auf RTV Ljubljana heraus, sie tourten durch Jugoslawien und wurden zur Legende, aber er beschloss nach der
Veröffentlichung, die Band zu verlassen.
Paraf machten unter demselben Namen weiter, allerdings mit einer anderen Besetzung, mit einer Sängerin (Vim Cola) und bewegten sich weg vom rohen Punk hin zu einem mit Synthesizern
angereicherten New-Wave-Musikstil. Heute sagt Valter, dass er von keiner der nachfolgenden Bands wirklich begeistert war. Musikkritiker und Fans sind da anderer Meinung. Jugoslawischer Punk und
New Wave wurden zum Thema vieler Sampler, Dokumentarfilme, Diplomarbeiten und Konzert-/Festival-Reunions.
„Unsere Vergangenheit wird durch unsere persönlichen Erfahrungen und unsere Wahrnehmung der Vergangenheit definiert. Wie bei jeder Aufarbeitung der Vergangenheit ist das Element der Nostalgie
sehr präsent. Wenn wir also auf die Vergangenheit zurückblicken und versuchen, ihr einen Sinn zu geben, tun wir genau das – wir erzählen eine Geschichte und suchen nach Kausalitäten zwischen den
Elementen der Geschichte. Aber das ist nicht unbedingt der Fall – in den Momenten, in denen diese Dinge passierten, waren sie nicht unbedingt miteinander verbunden“, stellt Pogačar fest.
Obwohl Punk und New Wave in der jugoslawischen Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt Mainstream waren, haben sie sich Jahrzehnte nach ihrem Verschwinden und dem Zerfall Jugoslawiens als Inspiration
für jüngere Bands erwiesen. Ihre Texte und die Botschaft, die sie zu vermitteln versuchten, sind auch fast 40 Jahre später noch wichtig.
Andrea Žiković, ehemaliger Gitarrist der inzwischen aufgelösten Band „Diskurz“, sagt, dass diese Bands, als er in Rijeka aufwuchs, seinen Musikgeschmack stark beeinflusst haben. „Wenn man 15 ist
und etwas auf der Gitarre spielen lernen will, ist es ganz natürlich, sich an lokale Bands zu wenden, und für uns waren diese lokalen Bands auch Bands, die die Punkmusik ins Land brachten“, sagt
er. Dabei ging es nicht um die Musik, die in der Regel aus drei Akkorden besteht und recht einfach zu erlernen ist, sondern um die Texte. „Zuerst wird man von ihrer Bühnenshow angezogen, zum
Beispiel als ‚Termiti‘ mit Toilettensitzen auf dem Kopf spielten und Federn ins Publikum warfen. Dann fängt man an, den Texten zuzuhören und merkt, dass mehr dahintersteckt, dass sie so ihre
Rebellion ausdrücken.“
DISKURZ waren von 2006 bis 2012 aktiv, mit Žiković an der Gitarre (von 2007 bis 2011). Die Band erhielt in Kroatien großen Zuspruch von den Kritiker*innen, da die Journalist*innen sie als die
authentischen Nachfahren der jugoslawischen Punk- und New-Wave-Bands wahrnahmen.
»Wir hatten unsere Fangemeinde, und ja, die Journalisten mochten uns, denn es war schön für sie, eine kraftvolle Band zu hören, einen Sound, der sie an ihre
Jugend erinnerte, denke ich. Aber das junge Publikum besuchte die Konzerte nicht so oft. Wenn sie die Wahl hätten zwischen dem Eintritt zu unseren Konzerten und dem Kauf einer Flasche Wein,
würden sie letzteres tun.«
Oder mit anderen Worten:
Punk ist tot, es lebe der Punk!